Reportage "Mythos Jungfernhäutchen" Lehrerin Sina Krüger und Autorin Ninve Ermagan
Bildrechte: Gordon Volk

Jetzt in der ARD Mediathek anschauen Doku: Wie der Mythos vom Jungfernhäutchen bis heute Frauen schadet

13. Dezember 2023, 04:00 Uhr

Das Jungfernhäutchen gibt es nicht und trotzdem bestimmt es das Leben vieler Frauen. Wie eine Folie soll es beim ersten Sex zerreißen, ein Irrglaube, der bis heute weit verbreitet ist. Der Mythos vom Jungfernhäutchen wird in Hochzeitsbräuchen, Kinofilmen und leider auch in Schulbüchern noch immer fortgeschrieben. Und er ist so mächtig, dass sich sogar manche Frauen dafür operieren lassen. Doch woher stammt er und wem nutzt er? Diesen Fragen geht der Film von Lena Kupatz "Mythos Jungfernhäutchen" nach. Die Dokumentation ist ab 13. Dezember in der ARD-Mediathek zu sehen.

Im Grunde genommen ist es anatomischer Irrtum: Die Idee von einem Häutchen, das die Vagina verschließt und bei der ersten Penetration reißt. Dieser Mythos von einem Jungfernhäutchen begrenzt Frauen seit Jahrhunderten in ihrer Lebensführung und verweigert ihnen ihre sexuelle Selbstbestimmung.

In streng patriarchal denkenden Familien wird die Ehre der Familie mit der Jungfräulichkeit ihrer Töchter in Zusammenhang gebracht. Dass die Jungfräulichkeit anhand des sogenannten Jungfernhäutchens medizinisch nicht nachweisbar ist, wissen wenige. Und doch hält sich dieser Mythos hartnäckig. Aufklärung tut Not.

Kein Häutchen, eher eine Bordüre

Professorin Mandy Mangler, Chefärztin einer Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe in Berlin Neukölln bemängelt, dass selbst in der medizinischen Ausbildung noch nicht vom Hymen gesprochen werde, der korrekten Bezeichnung für den Hautkranz an der Stelle, an der Vulva und Vagina aufeinandertreffen.

In Schweden spreche man, so Mangler, in der Medizin längst von der "Corona Vaginalis", der vaginalen Krone, und beschreibt damit auch sprachlich die Form des Hymen: keine dünne Haut, sondern ein rundliches Gebilde.

 Dieser Schleimhautkranz hat keine relevanten Blutgefäße, das heißt, er kann gar nicht richtig bluten.

Professorin Mandy Mangler

Wenn doch beim ersten Geschlechtsverkehr Blutungen auftreten, ist das der Wissenschaftlerin zufolge ein seltenes Phänomen und das Blut stammt dann aus der Umgebung dieses Schleimhautkranzes, also von Verletzungen der Vagina oder Vulva. Für die Wissenschaftlerin ist es eine Stelle im Körper, die eigentlich so unspektakulär ist, dass man nicht einmal einen Namen dafür bräuchte. An dieser Hautfalte kann man nicht einmal ablesen, ob man Geschlechtsverkehr hatte oder nicht, wie der bekannte Forensiker Mark Benecke schildert.

Reportage "Mythos Jungfernhäutchen" Ninve Ermagan und Prof. Dr. Mandy Mangler
"Das Jungfernhäutchen gibt es nicht." So einfach fasst Prof. Mandy Mangler (re.) den verbreiteten Irrglauben im Gespräch mit Filmemacherin Ninve Ermagan zusammen. Bildrechte: Gordon Volk

Das Hymen ist: Das Häutchen gleicht einer Bordüre oder einem gerafften Haargummi. Wie alle anderen Körperteile verändert es sich im Laufe des Lebens. Es kann verletzt werden, was aber nicht die Regel ist.

Die Schleimhautfalte ist ein Überbleibsel aus der Embryonalzeit und verschließt anfangs den Vaginaleingang ganz, öffnet sich dann meistens vor der Geburt und entwickelt sich mit Einsetzen der Pubertät zu einem weichen Saum. Im Erwachsenenalter hat sie keine belegbare Funktion mehr.

Am häufigsten ist das ringförmige Hymen. Bei manchen Frauen hat dieser Saum an verschiedenen Stellen Einkerbungen. Und in sehr seltenen Fällen ist das Jungfernhäutchen tatsächlich komplett geschlossen. Dieses sogenannte "Hymen imperforatus" ist für die Betroffenen allerdings gesundheitsgefährdend, weil das Menstruationsblut nicht abfließen kann.

Quelle: SWR

Jungfrau Maria als Blaupause für Keuschheit

Die weibliche Jungfräulichkeit galt und gilt vielen Menschen als Ideal. Umso wichtiger war es, Belege für die Unberührtheit der Frau zu finden. Das ist auch bei Maria, der wohl berühmtesten Jungfrau so. In einer frühchristlichen Schrift (Protoevangelium) aus dem zweiten Jahrhundert wird Marias Leben und Jesu Geburt beschrieben. Die herbeigeeilte Hebamme erzählt Salome nach der Geburt von der unbefleckten Empfängnis. Doch Salome ist ungläubig.

"Und die Hebamme ging hinein und sie sagte: Maria, lege dich bereit, denn ein nicht geringer Streit besteht um dich. Und als Maria dieses hörte, legte sie sich bereit. Nun steckte Salome den eigenen Finger in ihr Geschlecht. Da schrie Salome auf und sagte: Wehe über meinen Frevel und meinen Unglauben, denn ich habe den lebendigen Gott versucht. Und, siehe, meine Hand fällt verbrannt durch Feuer von mir ab", so die reuige Salome bei der Prüfung von Marias Jungfräulichkeit, niedergeschrieben im Protoevangelium des Jakobus.

Diese Verse, zu ihrer Zeit äußerst populär, sind früheste Zeugnisse eines Irrglauben, der Frauen bis heute schadet. Doch nicht nur im Christentum hält sich der Irrglaube der Jungfräulichkeit. Besonders in patriarchal geprägten Communities wird er existenziell und kann im schlimmsten Fall über Leben und Tod entscheiden.

Darstellung der Jungfrau Maria mit Kind
Eine Darstellung der Jungfrau Maria mit dem Kind Bildrechte: imago/United Archives International

Als Beweis der sexuellen "Unschuld" – Tierblut in der Hochzeitsnacht und Hymen-Rekonstruktion

In fast jeder deutschen Großstadt finden sich heute Praxen, die eine "Rekonstruktion" des Jungfernhäutchens anbieten. Dabei ist die Bezeichnung Hymen-"Rekonstruktion" eigentlich falsch. Denn bei der Operation wird vaginale Haut zusammengenäht, die beim Geschlechtsverkehr wieder aufreißt. Eine künstlich erzeugte Wunde und Schmerzen, die verursacht werden, um die Existenz eines imaginären Gebildes zu beweisen.

Ein anderer "Trick" die vermeintliche Unberührtheit zu belegen, sind Plättchen aus Tierblut. Diese sollen vaginal in der Hochzeitsnacht eingeführt werden, um so den blutigen Nachweis der "sexuellen Unschuld" der Braut zu erbringen.

Was absurd klingt, ist für viele Frauen noch heute traurige Realität, auch in Deutschland. Es ist tragisch, dass aus Unwissenheit ein roter Fleck auf dem Laken oft über den Wert einer Frau entscheidet. Und es sind vor allem Männer, die sich von alten Irrtümern und Machtansprüchen über den weiblichen Körper verabschieden müssen.

Ninve Ermagan im Gespräch mit Devrim Sahin Emre und Tayfun Guttstadt vom Verein Heroes Berlin e.V.
Ninve Ermagan im Gespräch mit Devrim Sahin Emre und Tayfun Guttstadt vom Verein Heroes Berlin e.V., die sich als Ansprechpartner verstehen und sich um Aufklärung bemühen. Bildrechte: Gordon Volk

Oder, um es mit den Worten von Frau Prof. Mangler zu sagen: "Ja, also ich glaube schon, dass wir diesen Mythos Jungfernhäutchen überwinden können, wenn wir als gesamte Gesellschaft verstehen, dass wir mehr aus der Perspektive der Frau denken sollten. Und aus der Perspektive der Frau ist das alles komplett überflüssig, unnütz und sogar schädlich".

Quelle: MDR, BR, SWR