Reportage Ohne Dich! - Familien nach dem Suizid

22. Juli 2023, 14:58 Uhr

Alle 52 Minuten nimmt sich in Deutschland ein Mensch das Leben. Eine erschreckend hohe Zahl. Trotzdem spricht kaum einer über dieses Thema. Wie gehen Angehörige damit um? Welchen Weg aus ihren teils zwiespältigen Gefühlen finden sie?

Maria nahm sich mit 26 Jahren das Leben. In ihrem Abschiedsbrief schrieb sie: "Am liebsten wäre es mir, wenn niemand erfährt, dass es Suizid war." Erfüllt hat sich dieser Wunsch nicht. Marias Schwester Rahel und ihre Mutter Gabriele müssen nun mit dem Verlust eines geliebten Menschen weiterleben und den Schritt Marias akzeptieren. Phasen der Wut, die auch zur Trauer gehörten, habe sie nicht, sagt Marias Mutter.

Ich bin nicht wütend auf Maria. Mir tut sie einfach unendlich leid, dass sie so gelitten hat.

Gabriele, Marias Mutter

Beistand durch Freunde und in Selbsthilfegruppe

Gabriele und Rahel haben Freunde an ihrer Seite, die sie auffangen. Aber beide müssen auch erkennen, dass sie nun mit einem Makel, einem Stigma behaftet sind. Nachbarn grüßen sie plötzlich nicht mehr, Verwandte sparen dieses Thema völlig aus, als ob es Marias Tod nie gegeben hätte. "Ich weiß selber, wie schwer es ist, Worte zu finden. Aber schlimmer ist es, wenn man es übergeht und nichts sagt", erzählt Gabriele. Über Details von Marias Suizid reden Gabriele und Rahel nur in der Selbsthilfegruppe, denn hier weiß jeder, wovon sie sprechen. Sie haben es selbst erlebt.

Ich habe gemerkt, dass man hier ganz gut aufgefangen wird von allen. Und jeder einen versteht, was ja nicht so normal ist im Umfeld.

Rahel, Marias Schwester

Herauskommen aus der Trauer

Veras Mann Jochen hat sich 2009 das Leben genommen.
Vera hätte sich nie vorstellen können, dass sich ihr Mann das Leben nimmt. Bildrechte: MDR/HR/Petra Cyrus

Vera lebt in einer Kleinstadt im Rhein-Main-Gebiet. Sie verlor 2009 ihren Mann durch Suizid. Für die damals 50-Jährige kam dieser Tod unvorbereitet, war ihr Mann Jochen doch ein Mensch, der erfolgreich mitten im Leben stand, viele Freunde hatte, bewundert und geliebt wurde. Für ihren Mann sei das Glas immer halbvoll und nicht halbleer gewesen, sagt Vera. "Wir waren eine glückliche Familie", sagt sie noch heute.

Auch Tochter Alexa, damals 17 Jahre alt, hätte sich nie vorstellen können, dass sich ihr Vater etwas antun könnte. Den Ort, an dem ihr Vater sich das Leben nahm und an dem sie vorher oft mit ihren Eltern war, hat sie seitdem nie wieder betreten.

Das war so ein Ort, der sehr viele schöne Erinnerungen für mich hat. Und das ist jetzt dadurch irgendwie überdeckt worden.

Alexa, Jochens Tochter

Auch Jochen litt seit einigen Wochen an Depressionen, wollte schon in Therapie gehen. Und genau wie Marie hinterließ auch er einen Abschiedsbrief. Über das Ausmaß ihrer Depressionen und ihrer Ängste haben weder er noch Maria geredet, mit niemandem.

Warum sie sich nicht haben helfen lassen, verstehen die Hinterbliebenen nicht. Sie bleiben zurück mit ihren Fragen nach dem Warum und ihren Gefühlen von Schuld, Trauer, Wut und Verzweiflung.

Nach meinem heutigen Erfahrungswert, was ich jetzt weiß, was ich gelernt habe, denke ich, dass so ein Mensch, der depressiv ist, nicht darüber spricht. Vielleicht in Andeutungen, das kann schon sein. Aber er möchte seine Umwelt damit nicht belasten.

Vera

"Mir ist das Schlimmste passiert, was einem im Leben passieren kann, also muss ich vor nichts mehr Angst haben", sagt Vera heute. Der Suizid ihres Mannes hat sie verändert. Sie ist selbstständiger und stärker geworden. Sie hat ihre Kraft in ihre Tochter Alexa gesteckt, um diese zu beschützen. Genau wie Gabriele hat sich auch Vera einer Selbsthilfegruppe angeschlossen, um über den Suizid offen reden zu können.

Heute leitet Vera selbst solch eine Gruppe in Frankfurt und macht außerdem eine Ausbildung als Trauerbegleiterin. "Weil ich das selbst erlebt habe und selbst weiß, wie ich rausgekommen bin aus der Trauer", sagt sie heute aus der Rückschau auf die schweren Jahre nach Jochens Tod.

Dieses Thema im Programm: Nah dran | 04. Mai 2017 | 22:35 Uhr