Buchtipp der Woche Crazy Horse. Launische Faulpelze, gefräßige Tänzer und schwangere Männchen: Die schillernde Welt der Seepferdchen
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19. März 2024, 15:56 Uhr
Wer braucht ein Buch über Seepferdchen, in dem kein einziges zu sehen ist? Wer Till Heins Buch über die ulkigen Meeresbewohner liest, schnappt nicht nur Hippocampus-Wissen auf, sondern auch Ohrwürmer, stellt Rezensentin Liane Watzel fest.
Buch mit Soundtrack und ohne Bilder
Echt jetzt, keine Bilder, keine Fotos? Ein Buchstabenmeer, wenn es um Seepferdchen geht? Ich war ein bisschen enttäuscht beim ersten Durchblättern. Allein der Gedanke an Seepferdchen hatte mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Mein Gedächtnis hatte ihn prompt mit einem typischen Neil Young Song-Klangteppich unterlegt, dem Buchtitel sei Dank. Und der Erinnerung daran, dass ich als Kind keine Pferde zeichnen konnte, aber dafür recht ansehnliche Seepferdchen. (Dachte ich jedenfalls.)
Seepferdchen-Feeling für alle
Das Inhaltsverzeichnis im Buch ist für den Menschen das, was für Seepferdchen Korallenfinger oder Seegrashalme sind: Halt und Stützpunkt zugleich. Angeklammert wie ein Seepferdchen im (Buchstaben-)Meer und der Dinge harrend, also des (Lese-)Futters, das die nächste Welle vorbeitreibt. Die Kapitel-Überschriften funktionieren wie Köderfische, appetitanregend betextet, mit klanghafter Dachzeile garniert. Ein Buch ohne Bilder mit Soundtrack, wie Kapitel 4: "We don't need no education – Lebensphasen, Lieblingsplätze & Mobilität." Oder Kapitel 14: "Mein Freund, das Seepferdchen – Aquaristik". Dabei kann es leicht vorkommen, dass man ganz wie ein Seepferdchen klickende Schnalzlaute von sich gibt.
Seepferdchen Beifang
Ob Seepferdchen auch Neil Young im Ohr haben, verrät Buchautor Till Hein nicht. Er weiß es vermutlich selbst auch nicht. Aber dafür ist ihm bei der Recherche für das Buch Allerlei ins Netz gegangen. Wie den Schleppnetzbooten, die ungewollt diese schwimmenden Fragezeichen massenweise aus dem Meer fischen. Wobei sein Beifang hochunterhaltsam ist:
Kannten Sie Napoleons Penis, der in Form eines vertrockneten vermeintlichen Seepferdchens 1972 im Auktionshaus Christie's unter den Hammer kam? Wussten Sie, dass Seepferdchenmännchen den Nachwuchs ausbrüten? Oder dass 793 nach Christus erstmals Seepferdchen in einem Buch als Heilkräuter erwähnt wurden? Partywissen, das man sich in bester Seepferdchen-Manier umstandslos einverleibt. Wie ein Seepferdchen, mangels Zähnen – für die fehlt ein Phosphorprotein in der Seepferdchen-DNA. Seepferdchen sind deswegen auch keine Gourmets, die mit viel Gekaue Geschmack hervorlocken. Sie sind schlechte Futterverwerter ohne kompliziertem Verdauungsapparat, weswegen sie am laufenden Band fressen. Ein bisschen wie der Mensch am Smartphone auf Social Media-Plattformen: Ein Häppchen hier, ein Häppchen da, jede Wette, es kommt noch mehr vorbeigeschwommen, das spannend sein könnte.
Was man im Buch so alles futtert
Als Mensch futtert man sich in diesem Seepferdchenbuch beim Lesen und Blättern von einem Thema zu nächsten. Ohne dass man wie Buchautor Till Hein eins verkosten muss, der dabei feststellte, das schmeckt "nach Ruß und Pappe". Wer im Buch nach Systematik und Vorstellung einzelner Meeresrösser sucht, wird nur häppchenweise fündig, was Verhalten, Fortpflanzung, Arten angeht. Trifft aber auch Menschen mit Seepferdchen-Spezialwissen, lernt Verblüffendes über das gleichnamige Hirnareal und welch erstaunliche Dinge unser kopfeigenes "Seepferdchen" im Bereich Posttraumatischer Belastungsstörungen leistet.
Und taucht ein in die Welt der griechischen Mythologie und der traditionellen chinesischen Medizin, in denen Seepferdchen ihre Spuren hinterlassen haben. Lernt Umweltorganisationen kennen, die Habitate von Seepferdchen mit klugen Aktionen für Schleppnetzfischerei unbrauchbar machen. Begegnet dem Dichter Ringelnatz, der aus dem sächsischen Wurzen stammt und eigentlich Hans Gustav Böttcher hieß, bevor er sich aus Begeisterung für die putzigen, auch "Ringelnass" genannten Meeresbewohner sein Pseudonym zulegte und über sie Gedichte schrieb, Skulpturen und Zeichnungen schuf.
Und für all das braucht Buchautor Till Hein keine Bilder von Seepferdchen oder Fotos, er zeichnet mit Worten. Wer sich also mal wie ein Seepferdchen fühlen will, interessante Fakten aufsaugt wie das Rösslein der Meere mit seiner Pipettenschnauze, wird sich beim Lesen bestens amüsieren. Und summt dabei vielleicht vergnügt "Ich möchte ein Seepferdchen sein."
Die Rezensentin Liane Watzel ist Online- und Radioautorin. In der Redaktion Wissen & Bildung, weil sie Neues aus der Forschung gern so übersetzt, dass jede/r sie beim ersten Lesen oder Hören versteht und anschließend sagt: "Ach so! Wie spannend! Jetzt versteh ich das! Das hab' ich nicht gewusst!"