Buchtipp der Woche Homo Sapiens. Der große Atlas der Menschheit
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27. Februar 2022, 15:00 Uhr
Illustrativ, informativ, intellektuell ansprechend – das ist "Homo sapiens: Der große Atlas der Menschheit", findet MDR WISSEN-Autor Patrick Klapetz. Dieser Atlas im Großformat zeichnet den Weg der Menschheit anschaulich nach und schafft dies mit einer Vielzahl von Grafiken, Karten und Fotografien. Mit kurzen und leicht verständlichen Textpassagen widmen sich die Autoren unzähligen Teilaspekten, die das Bild von der Entstehung des anatomisch modernen Menschen abrunden.
Eine anschauliche und schöne Reise durch Raum und Zeit
Woher kommen wir? Und welchen Weg sind wir gegangen, um heute hier zu sein? Sind das nicht die Fragen, die uns alle umtreiben? Und genau diesen Weg versucht „Homo sapiens: Der große Atlas der Menschheit“ nachzuerzählen.
Das fängt bei einer Vielzahl von frühmenschlichen Vorfahren an, die sich in ganz unterschiedlichen Regionen Afrikas über die Jahrtausende hinweg entwickelt haben. Keine lineare Menschheitsgeschichte mit einem einzigen Strang, sondern Evolution und Selektion. Das Buch zeigt: der auf zwei Beinen gehende Frühmensch ist an vielen Orten durch kleine Mutationen und Anpassungen über einen langen Zeitraum hinweg und in unterschiedlichen Ausprägungen unabhängig voneinander entstanden.
Drei große Auswanderungswellen aus Afrika haben unsere Vorfahren den gesamten Globus erkunden lassen. Einer unserer berühmtesten Verwandten, der Neandertaler, war bereits in Europa, bevor der anatomisch moderne Mensch während der dritten Auswanderungswelle seinen Fuß auf den Kontinent setzte – aber auch alle anderen Teile der Welt entdeckte. Obwohl der Neandertaler unseren direkten Vorfahren körperlich und geistig überlegen war, überlebten "wir". Warum? Das ist noch immer ein Rätsel. Doch mit jedem neuen Fund, jeder neuen Untersuchung und mithilfe der modernen Wissenschaft lüften Forschende immer mehr Geheimnisse und füllen Lücken mit Wissen.
Dabei geht es nicht nur um den Körperbau und die ersten Faustkeile. Wann lebten wo die frühzeitlichen Menschen? Warum waren manche kaum einen Meter groß und andere kräftiger als wir heute? Ein paar schöne Erkenntnisse sind beispielsweise: Das älteste je gefundene Musikinstrument ist eine Neandertaler-Flöte und 50.000 Jahre alt. Bildhauerei gibt es bereits seit 35.000 Jahren und die ersten Vertreter unserer Gattung – der Homo habilis – konnten vor 2,8 Millionen Jahren bereits komplett aufrecht gehen.
Ein Sinnbild für die Wissenschaft: Darum fesselt dieses Buch
Dieser Menschheitsatlas zeichnet eindrucksvoll und spannend unseren Millionen Jahre überdauernden Werdegang auf. Und bereits auf den ersten Seiten hat mich dieser Atlas mit seiner offenen Haltung überzeugt. Hier gewinnt niemand den Eindruck, dass das festgehaltene Wissen final ist, unantastbar, dass man nicht daran rütteln kann. In diesem Atlas sagen die Autoren vielmehr bereits zu Anfang, dass es widersprechende Sichtweisen gibt, dass andere Szenarien existieren, die sie nicht alle aufgreifen konnten. Sie berufen sich auf den gegenwärtigen Erkenntnisstand, doch neue Funde und Datierungen können das aktuelle Bild der Ausbreitung des Homo sapiens verrücken, erweitern und konkretisieren. Und genau das ist doch so toll an der Wissenschaft. Sie spiegelt den aktuellen Wissensstand wieder und ist ausbaubar.
Es geht um Fakten und nicht um Meinungen. Genau das verkörpert dieser Atlas der Menschheit.
Telmo Pievani und Valéry Zeitoun
Verfasst wurde dieses Werk im Doppelpack. Zum einen von Telmo Pievani, einem italienischen Biologen und weltbekannten Philosophen. Von ihm stammen über 200 wissenschaftliche Publikationen aus der Philosophie der Biologie, der Evolutionsbiologie und der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie.
Sein Mitautor ist Franzose und war Forschungsdirektor des französischen Centre National de la Recherche Scientifique, einer nationalen französischen Forschungsorganisation: der Paläoanthropologe Valéry Zeitoun. Er ist Spezialist für die Phylogenetik (Abstammungslehre) des Homo erectus – aus dem sich vermutlich der anatomisch moderne Mensch und der Neandertaler entwickelten. Zudem kennt er sich bestens mit prähistorischen Kulturen in Südostasien aus.
Ein wertiges Buch im Großformat
Das Buch ist leicht verständlich geschrieben. Natürlich können bei diesem Thema die Fachbegriffe nicht entfallen und der ein oder andere Terminus mag einem nicht bekannt sein. Jedoch erschließt sich das aus dem Kontext heraus ganz gut. Der Aufbau des Buches ist sehr ansprechend: Fünf Kapitel mit jeweiligen Unterthemen.
Jedem Unterthema hat man in der Regel ein bis zwei Doppelseiten gewidmet, wobei der Textumfang sich auf eine Seite beschränkt. Den Rest füllen anschauliche Illustrationen, Fotografien, Karten und Grafiken. Trotz des bescheidenen Umfangs der Unterthemen entsteht aber nicht der Eindruck, man würde etwas Wichtiges verpassen. Dieser Atlas verschafft einem in kurzer Zeit einen umfangreichen Überblick, sehr intuitiv und verständlich illustriert.
Die Geschichte des anatomisch modernen Menschen in einem ästhetisch ansprechenden, sich wertig anfühlenden und verständlich formulierten Band.
Zudem fühlt sich die Qualität des Buches sehr wertig an. Durch den hochwertigen Druck hat man Freude am Lesen, Durchblättern oder einfach daran, sich einer Karte oder Grafik im Detail zu widmen – und das obwohl das Buch beinah so groß wie ein DIN-A3 Blatt ist. Nicht gerade praktisch auf einer Bahnfahrt, dafür entfaltet es seine Wirkung sehr gut auf einem Küchen- oder Wohnzimmertisch.
Erstaunen und Demut bleiben hängen
Besonders interessant erscheint die Erkenntnis, dass sich der frühzeitliche Mensch an vielen Orten und in unterschiedlichen Ausprägungen unabhängig voneinander entwickelt hat. Der aufrechte Gang ist damit keineswegs eine einzigartige Erscheinung; zudem haben sich die frühzeitlichen Homo Gattungen während der drei großen Ausbreitungswellen aus Afrika hinaus an ihre Umwelt angepasst – Darwins Evolutionslehren sind somit zweifellos auch auf den Menschen zu übertragen. Denn auch wir sind nur ein (Säuge-)Tier.
Doch auch Demut spiegelt sich in der Menschheitsgeschichte wider, denn mit dem vermehrten Aufkommen des Menschen verändert sich die Natur. In Australien und Amerika verschwindet über Jahrtausende hinweg die Megafauna. Riesige Vögel, Beuteltiere und Jäger sind nicht mehr da. Die Moderne lässt grüßen.
Der Rezensent … liebt es, in Themen einzutauchen und sie greifbar zumachen. Seine Leidenschaft gilt dem Weltraum und der Raumfahrt. Und falls sich die Möglichkeit für einen Flug ins All ergibt, wäre er sofort dabei – auch wenn er bereits beim Sich-treiben-lassen auf dem Wasser seekrank wird. Für die multimediale Aufbereitung von Wissenscontent kann man ihn immer gewinnen.