Ärztin und Krankenschwester bei einer Patientin auf der Corona-Intensivstation
Vor allem während der Delta-Variante von Corona mussten viele Menschen auf Intensivstationen künstlich beamtet werden (Archivbild). Ähnlich erging es jetzt einer jugendlichen Person in Kanada, die an einer Infektion mit der Vogelgrippe erkrankte. Bildrechte: Marco Kneise/Thüringer Allgemeine

Evolution Vogelgrippe: H5N1 nur zwei Mutationen vom Übersprung in die Menschheit entfernt

05. Dezember 2024, 20:00 Uhr

Eine neue Studie im Magazin Science zeigt: Das Vogelgrippevirus H5N1 braucht nur zwei Mutationen, um für Menschen sehr gefährlich zu werden. Eine dieser Mutationen ist bereits bei einem kanadischen Teenager aufgetaucht.

Autorenfoto von Clemens Haug
Bildrechte: Tobias Thiergen/MDR

Immer noch ist wenig bekannt über die junge Person, die sich Anfang November in Kanada mit dem Vogelgrippevirus H5N1 infiziert hat. Weder Alter noch Geschlecht wurden mitgeteilt. Bekannt ist nur: Sie hatte am 2. November erste Symptome gehabt und war am 8. November schließlich auf eine Intensivstation einer Klinik im Bundesstaat British Columbia gekommen. Dort musste sie schließlich auch künstlich beatmet werden, obwohl die Person vor der Ansteckung keinerlei Vorerkrankungen oder besondere gesundheitliche Voraussetzungen hatte. Wo sie sich angesteckt hat, konnte bislang nicht ermittelt werden und weitere infizierte Personen wurden auch nicht gefunden.

"Unsere Gedanken sind mit der jungen Person und ihren Angehörigen, solange sie in einem kritischen Zustand ist", sagte Bonnie Henry, die Gesundheitsbeauftragte des Bundesstaates, in einer Pressemitteilung vom 26. November. Dagegen wurden ein paar Details über das Virus mitgeteilt. Es ist eine andere Variante als diejenige, die unter Milchkühen in den USA zirkuliert. Und: Sie besitzt eine wichtige Mutation, die sie viel ansteckender für Menschen machen könnte.

Zwei Mutationen reichen aus: Vogelgrippe kann schnell zur Grippepandemie werden

Der Aminosäuretausch "Gln226Leu" sorgt dafür, dass das Vogelgrippevirus bevorzugt menschliche Zellen angreift. Über diese und eine weitere mögliche Mutation, die das Virus zu einem für Menschen gefährlichen Erreger machen würde, berichten Ting-Hui Lin und Kollegen vom Scripps Research Institute im Journal Science. Lin und sein Team hatten mit Hämagglutinin-Protein (HA) der Viren experimentiert. Das HA erfüllt für die Grippe eine ähnliche Funktion, wie das Spike für das Coronavirus: Es ist der Schlüssel, mit dem das Virus in die Wirtszelle eindringen kann.

Wenn das HA die Mutation "Gln226Leu" besitzt, würde das Vogelgrippevirus, das seit einigen Monaten auch unter Milchkühen in Nordamerika zirkuliert, bevorzugt an menschliche Zellen binden. Bekäme es zusätzlich den zweiten Aminosäuretausch "Asn224Lys", könnte ihm das ein pandemisches Potenzial verleihen, wie bei der Schweinegrippe H1N1 im Jahr 2009. Zusammengefasst heißt das: Nur zwei Mutationen würden ausreichen, um aus dem aktuellen Vogelgrippevirus einen für die Menschheit gefährlichen Erreger zu machen.

Frau mit Maske 44 min
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Auf Spurensuche Mo 06.11.2023 08:00Uhr 44:11 min

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Virus auf Vögel ausgerichtet – Übertragung auf Menschen noch unwahrscheinlich

Nicht an der Studie beteiligte Experten aus Deutschland halten die Arbeit für einen wertvollen Beitrag, der vor allem unterstreiche, dass die Zirkulation des Virus in den US-Milchbetrieben dringend kontrolliert und am besten komplett unterbunden werden müsse. Eine direkte Gefahr für eine Pandemie unter Menschen sehen sie zwar noch nicht. "Anpassungen an den humanen Rezeptor sind bei dieser Klade neu und bisher nur einmal berichtet worden", sagt Martin Beer, leitender Virologe des deutschen Friedrich-Löffler-Instituts für Tiergesundheit mit Blick auf den kanadischen Fall.

Zudem passten die beiden Mutationen nicht zur aktuellen Evolutionsrichtung des Erregers. "Die Änderungen stellen im eigentlichen Wirt, den Vögeln, meist keinen Vorteil für das aviäre Influenzavirus dar. Deshalb sammeln sie sich nicht so schnell an", sagt Stephan Pleschka, Leiter der Arbeitsgruppe Influenzavirusforschung an der Universität Gießen.

Experten mahnen dringend engmaschige Überwachung an

Aber: Dass die Mutationen denen entsprechen, die auch bei der jungen Person in Kanada entdeckt wurden, spreche dafür, dass die Studie tatsächlich realistische Gefahren aufgedeckt habe, glauben beide Experten. Auch Martin Schwemmle, Forschungsgruppenleiter am Institut für Virologie der Freiburger Uniklinik glaubt, dass in der nun alljährlich anstehenden Grippewelle genau beobachtet werden müsse, ob es zu Kreuzungen zwischen den Vogelgrippeviren und den menschlichen Influenzastämmen komme.

Martin Beer warnt: "Die Situation in den USA mit der hohen Zahl an Fällen bei Wildvögeln, Geflügel und auch Rindern führt vermehrt zu Spill-Over-Infektionen beim Menschen." Die Fälle bei Milchkühen und beim Geflügel müssten jetzt schnell und bestmöglich kontrolliert werden. "Gerade beim Rind sollten hier deutlich mehr Anstrengungen unternommen werden. Menschen, die in infizierten Betrieben tätig sind, müssen unbedingt entsprechend geschützt werden." In allen Bereichen seien engmaschige Früherkennungs- und Surveillance-Maßnahmen notwendig. "Dazu gehören dann auch immer umfassende Testungen und Vollgenomsequenzierungen."

Ob dem Thema Schutz vor der Vogelgrippe unter dem designierten Gesundheitsminister Robert Kennedy eine Priorität eingeräumt wird, erscheint allerdings fraglich.

Links/Studien

  • Lin et.al.(2024): A single mutation in bovine influenza H5N1 hemagglutinin switches specificity to human receptors, Science

mit Material des Sciencemediacenters

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 23. November 2024 | 07:45 Uhr

33 Kommentare

Georg11 vor 6 Wochen

"Wahrheitsanspruch": Wenn ich mir den von Ihnen verlinkten Faktencheck zum Sachverständigenratsgutachten ansehe, dann fällt mir schon das Wort "Wahrheitsanspruch" ein. Auch Behauptungen wie: Das ist aber die Mehrheitsmeinung, was suggeriert, dass das dann aber schon richtig sein muss (unabhängig davon , dass ohnehin unklar ist, was nun die Mehrheitsmeinung ist).

In Bezug auf das RKI gibt es aktuell einen Aufruf von Professoren, dessen Rolle zu diskutieren.

"Aufruf zur öffentlichen Diskussion – Fünf Professoren fordern die deutschen Forschungseinrichtungen auf, die Rolle des Robert-Koch-Instituts zu diskutieren."

Berliner Zeitung, 03.12.2024

Grundsätzlich merkt man Ihrem Stil an, dass am Ende festgestellt werden soll, dass die Maßnahmen und die Politik schon irgendwie richtig waren. Vergleichen Sie Ihre Artikel mal mit "Masken: Kurzfristig drei Prozent weniger Erkältungen", Infosperber, 3.08.2024. Das ist ein ganz anderer Stil, weniger von dem "Aber so ist es!!!!" - Stil

MDR-Team vor 6 Wochen

@Georg11
Es gibt keinen "Wahrheitsanspruch". Aber das RKI ist eine anerkannte Forschungseinrichtung mit einer großen Zahl an renommierten Experten.
LG, das MDR-WISSEN-Team

Georg11 vor 6 Wochen

Mit den RKI-Publikationen wäre ich vorsichtig. Mit der letzten RKI-„StopptCOVID“-Studie hatte sich eine Gruppe im Umfeld des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (EbM) beschäftigt: KVH Journal 10/2023, Zitat aus der EbM -Pressemitteiung: "In der aktuellen EbM-Kolumne wird die „StopptCOVID“-Studie des RKI kritisch aus Sicht der evidenzbasierten Medizin reflektiert. Gabriele Meyer, Ingrid Mühlhauser, Ralph Brinks und Bernhard Müller erläutern, warum das von den Autor:innen der Studie gewählte Vorgehen ungeeignet ist, einen Nachweis der Auswirkungen der Pandemiekontrollmaßnahmen zu erbringen." Auch ist Ihre Interpretation des Sachverständigenratgutachtens eigenwillig. Seite 70: "Insgesamt ist ein Zusammenhang zwischen der Höhe
der Inzidenz und der Maßnahmenstärke nicht erkennbar." Durch das Gutachten zieht sich der rote Faden, dass die Datenerhebung durch RKI sehr defizitär war und deshalb keine ordentlichen Schlüsse gezogen werden können. Bitte Abstand nehmen vom Wahrheitsanspruch.

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