Demografie Die Sache mit den 100 Jahren – und warum Frauen eigentlich schlechtere Karten haben

17. August 2021, 10:40 Uhr

Wieder ist der Rekord an Hundertjährigen in Deutschland geknackt. Und wieder können mehr Neugeborene denn je hoffen, dieses Alter zu erreichen. Die Chancen dafür stehen in Deutschland allerdings unterschiedlich. Auch zwischen den Geschlechtern. Nur, warum ist das eigentlich so? Und wo müsste man leben, um die besten Chancen auf ein hohes Alter zu haben?

Ältere Frau mit Hörner-Geste mit der rechten Hand lacht in die Kamera, Außenaufnahme, im Hintergrund Natur
Rock'n'Roll im Alter: Gibt es jetzt häufiger. Bildrechte: imago images/Westend61

… Doch hat die Mitte 90 man erreicht
– die Jahre, wo einen nichts mehr wundert –,
denkt man mitunter: "Na – vielleicht
schaffst du mit Gottes Hilfe auch die 100!"

Soweit das finale Resümee in Wilhelm Buschs Feststellungen über das Älterwerden. Zu Buschs Lebzeiten im 19. Jahrhundert mussten Menschen, die das hunderte Lebensjahr zu erreichen gedachten, tatsächlich auf die Hilfe Gottes zählen. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag damals bei weniger als der Hälfte.

Es ist zwar grundsätzlich nichts Falsches dran, auch im 21. Jahrhundert auf die Hilfe Gottes zu hoffen, wenn man besonders alt werden möchte. Inzwischen reicht es allerdings, im richtigen Land geboren zu sein. Mit dem Wohlstand einer Nation steigt ihre Lebenserwartung, so sagt man. Und wohlständiger als in Deutschland geht es im globalen Vergleich wohl kaum noch. Das zeigt sich auch, wenn man den kontinuierlichen Anstieg der Lebenserwartung in den letzten 150 Jahren heranzieht: Inzwischen liegt die bei neugeborenen Mädchen bei 83,4 und bei neugeborenen Jungen bei 78,6, von denen viele hundert werden. Die Lebenserwartung in Deutschland hat sich seit dem 19. Jahrhundert schlichtweg verdoppelt.

Was uns die vergangenen anderthalb Jahre allerdings mit der Holzhammermethode beigebracht haben: Dieser Trend ist nicht so unerschütterlich, wie man annehmen mag – erst recht nicht, wenn eine globale Pandemie dazwischen funkt. So ist die Lebenserwartung in Deutschland zuletzt kaum gestiegen. Das Statistische Bundesamt ist sich sicher: Corona hat Schuld.

Trotzdem: Die Zahl der Menschen, die hundert Jahre oder älter werden, steigt rasant. 2020 lag die Zahl der Hundertjährigen im Lande bei über zwanzigtausend. Im Vorjahr waren es noch knapp 17.000, 2012 unter 15.000. Das heißt: Man könnte inzwischen Städte wie Greiz, Oschersleben oder Reichenbach im Vogtland gänzlich mit Über-Hundertjährigen besiedeln (ratsam ist das natürlich nicht). Klar, auch die Gesamtbevölkerung wächst in Deutschland. Die Demograf*innen beim Statistischen Bundesamt weisen in diesem Zuge aber darauf hin, dass auch der Anteil der Hundertjährigen Rekordhöhe erreicht hat: 0,025 Prozent. Eine überraschende Begründung dafür gibt es nicht, es ist eher der Beleg für das, was wir sowieso schon wissen: Medizinischer Fortschritt und Wohlstand, der wiederum den Zugang zur medizinischen Versorgung, guten Lebensmitteln und hygienischen Umständen ermöglicht. Auf die vergangenen Jahrzehnte betrachtet spielt allerdings die Säuglingssterblichkeit eine entscheidende Rolle. 1920 sind noch zwölf Prozent der Mädchen und 14 Prozent der Jungen im ersten Lebensjahr gestorben. Der Wert liegt mittlerweile bei 0,3 Prozent, unabhängig vom Geschlecht.

Froschperspektive mit warmen Gegenlichgt: Älterer Mann mit Gehstock, an einen Baum im Park stützend
Männern ist keine so hohe Lebenserwartung vergönnt wie Frauen – das hat verschiedene Gründe. Bildrechte: imago images/Westend61

Was bei den Über-Hundertjährigen ja nun allerdings nicht so ist: Männer haben traditionell schlechtere Karten im Streben nach einem biblischen Alter. Daran hat sich auch mit den neuen Daten nichts geändert: acht von zehn Hundertjährigen sind Frauen. Und wissen Sie was? Das passiert, obwohl Frauen diejenigen sind, die im Alter schlechtere Karten haben. Das zeigt eine aktuelle Studie, die geschlechterspezifische Unterschiede in 18 wohlhabenden OECD-Ländern untersucht hat. Ergebnis: Männer werden durch die Bank weg begünstigt, was ein gesundes Altern betrifft. Das betrifft zum Beispiel die finanzielle Absicherung und die Möglichkeit, einer Tätigkeit nachzugehen – bezahlt oder ehrenamtlich. Außerdem sind Männer im Alter weniger sozial isoliert, und das, obwohl Frauen sozial stärker verbunden sind. Allerdings überleben sie häufig ihre Partner und sind damit gegen Ende des Lebens alleinstehend.

Hier seien nun alle Länder gefragt, einen Zahn zuzulegen, so die Forschenden: Geschlechtsspezifische Bedürfnisse müssen bei Programmen für alternde Gesellschaften mehr Berücksichtigung finden. Und dass sich Frauen nachts beim Ausgehen nicht sicher fühlen, ist bekannterweise nicht nur ein Problem der älteren Generation. Man kann also feststellen: Obwohl Frauen es im Alter schwerer haben, leben Sie länger. Nur, warum ist das eigentlich so?

Warum werden denn nun Frauen älter als Männer?

Das Statistische Bundesamt zuckt da ein bisschen mit den Schultern: Mögliche Gründe seien die Lebensweise, strukturelle Geschlechterunterschiede und genetische Aspekte, aber so genau wisse man das nicht. Auch die Weltgesundheitsorganisation macht gleich eine ganze Reihe an Gründen aus, warum Frauen statistisch ein längeres Leben vor sich haben. Hinweise gibt’s zum Beispiel auf genetischer Ebene: Mädchen haben ein stärkeres Immunsystem, was mit Prozessen zusammenhängt, die mit dem X-Chromosom verbunden sind. Und somit das Kleinkindalter häufiger überleben.

Auch von der Gesellschaft selbst verzapfte Rollenbilder sind zu berücksichtigen: Männer arbeiten etwa häufiger im Verkehrssektor und sind damit häufiger ein Opfer von Unfällen – das Risiko, bei einem Verkehrsunfall zu sterben ist global betrachtet für sie doppelt so hoch. Und auch weitere mögliche Ursachen sind hausgemacht, zumindest in reichen Ländern: Ein ungesunder Lebensstil mit Tabak und Alkohol ist eine Männerdomäne. Unter den Herren der Schöpfung sind fünfmal mehr Raucher und viermal mehr Alkoholkonsumenten als bei den Frauen.

Unterschiede gibt's auch in Deutschland

Nun denn, wissen wir ja, was zu tun ist. Eventuell wäre auch ein binnenländischer Umzug nicht ganz verkehrt. Denn, so genau wollen wir schon sein, auch innerhalb Deutschlands gibt’s da Unterschiede. Baden-Württemberg ist das Bundesland mit der höchsten Lebenserwartung, das ist schon seit Jahrzehnten so. Und ausgerechnet dort im Lande (bzw. Ländle), wo das Klima schon sub-mediterrane Züge annimmt, sollen die Menschen besonders lang leben: Im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald. Vielleicht zeigt sich hier auch die Sonne am Kaiserstuhl für allerlei gute Laune zuträglich und die wiederum für ein langes Leben.

Ausschnitt Fels mit Feigenkakteen, im Hintergrund Weinbau
Kaiserstuhl: Dort, wo Deutschland wie Südeuropa aussieht, leben die Menschen in Deutschland besonders lang. Bildrechte: imago images / blickwinkel

Bundesländer, die für ein langes Leben weniger geeignet sind, fangen im Übrigen mit Sa an. Die niedrigste Lebenserwartung haben Frauen im Saarland und Männer in Sachsen-Anhalt. Wo wir schon mal bei Mitteldeutschland sind: Gerade in Sachsen gab es zuletzt den stärksten Rückgang bei der Lebenserwartung aller Bundesländer. Das liegt zugegebenermaßen allerdings an den hohen Sterbefallzahlen im Corona-Winter 2020/21. Trotzdem ist die Lebenserwartung im mitteldeutschen Vergleich dort die höchste. Doch: Thüringen hat zuletzt kräftig aufgeholt. Mädchen und Jungen, die zwischen 2018 und 2020 geboren wurden, werden in Sachsen 83,83 und 77,85 Jahre alt, in Sachsen-Anhalt 82,79 und 76,48 sowie in Thüringen 83,27 und 77,66. Zum Vergleich: in Baden-Württemberg erwarten Jungen 79,88 und Mädchen 84,25 Lebensjahre.

Lebenserwartung von Frauen in Deutschland

Lebenserwartung von Männern in Deutschland

Zurück zu den Über-Hundertjährigen: Im weltweiten Vergleich scheinen karibische Inseln ein guter Ort zum Altwerden zu sein. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl lebten 2019 die meisten Menschen im Alter von Hundert plus im französischen Überseegebiet Guadeloupe. Gefolgt von Barbados, dort ist's nur eine hundertjährige Person pro einer Millionen Einwohner*innen weniger. Mit dem ebenfalls zu Frankreich gehörenden Martinique und dem US-Außengebiet Puerto Rico schafften es weitere Karibikorte in die Top zehn.

In dieser Top 10 ist auch Japan zu finden, der Klassiker unter den Ländern zum Altwerden. Gerade was Supercentenarians betrifft. (Niemand zwingt Sie, das aussprechen und buchstabieren zu müssen – aber lassen Sie sich gesagt sein: mit diesem Wortungetüm sind die Über-110-Jährigen gemeint). Nehmen wir zum Beispiel Jiroemon Kimura. Der Japaner war der erste Mann, der nachweislich 116 Jahre alt wurde. Und nach dem, was wir wissen, der bis zu seinem Tod letzte lebende Mensch, der im 19. Jahrhundert geboren wurde: Im April 1897, gestorben ist er im Juni 2013. Tanaka Kane übertrifft ihn allerdings. Die Japanerin ist mit ihren 118 Jahren der älteste lebende Mensch der Welt.

122 Jahre alt – Rekord!

Der Rekord für das höchste nachgewiesene Lebensalter geht allerdings nach Frankreich. Jeanne Calment wurde 1875 geboren – in dem Jahr, als Bizets Opern-Klassiker Carmen Uraufführung hatte. Sie hat den Bau des Eifelturms erlebt und als sie das Rentenalter erreichte (theoretisch, arbeiten musste sie durch gute wirtschaftliche Verhältnisse kaum), erlebte Deutschland mit den Nationalsozialisten seinen geschichtlichen Tiefpunkt. Im Jahr ihres hundertsten Geburtstags wurde Charlie Chaplin zum Ritter geschlagen und die legendäre Nasa-Sonde Viking 1 machte sich auf den Weg zum Mars. Und im Jahr ihres Todes, 1997, waren die Schulhöfe voller Tamagotchis und die Kinosäle voller Titanic-Tränen.

Ach ja, Jeanne Calment hätte natürlich auch Wilhelm Busch zu Lebzeiten treffen können. Wenn sie das gewollt hätte. Der ist zwar nur 75 geworden. Aber wenn man sein Geburtsjahr 1832 bedenkt, und die Tatsache, dass 75 fast die durchschnittliche Lebenserwartung für jetzt neugeborene Jungs ist, kann man ihn nur beglückwünschen. Oder wie er sagen würde:

Die 60 scheint noch recht passabel
Und erst die 70 miserabel.
Mit 70 aber hofft man still,
Ich werde 80, so Gott will!

Bei ihm war’s eben was dazwischen.

1 Kommentar

part am 08.08.2021

Deutschland hat zwei große Weltkriege angezettelt, die Männer waren im Krieg und die Frauen mussten in den Fabriken schuften und nebenher noch die Kinder erziehen. Die soziologische Betrachtungsweise unterschlägt diesen Aspekt mal wieder. Biologisch gesehen sind Frauen dazu da, um Kinder zu gebären, jede Schwangerschaft stellt dabei auch immer einen Mangel und gesundheitliche Einschränkung dar. In der Nachkriegszeit war die soziologische Rolle der Frau oft unterschiedlich verteilt, industrielle Belastungen betrafen mehr die Männerwelt. Auch die regelmäßige Ernährung mit Fisch oder Zeiten von Mangelernährung können sich positiv auswirken auf das Lebensalter oder auch die individuelle Vererbung der Telomere. Für die nächste Generation, die da bitteschön bis 70 Jahre malochen soll, treffen diese Aspekte wohl weniger zu, doch dies gilt es zu Prognostizieren. Ich denke eher, dass die Überflussgesellschaft in Europa eine demnächst kürzere Lebenserwartung hervorbringen wird.