Mit Psychotherapie gegen Essstörung Binge-Eating: Leipziger Forscher suchen nach Wegen aus der Sucht

20. Mai 2019, 14:51 Uhr

Die Essstörung "Binge Eating" ist erst seit 2013 eine eigenständige Diagnose. Betroffen sind etwa ein bis drei Prozent der Bevölkerung, nur wenige können geheilt werden. Ist die Krankheit erst einmal chronisch, können sich Adipositas, Diabetes mellitus Typ 2 und Herz-Kreislaufprobleme einstellen. Lange tappte die Wissenschaft bezüglich der Ursachen im Dunkeln, deshalb fehlten auch fundierte Therapieansätze. Inzwischen gibt es erfolgversprechende Ansätze.

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Die meisten haben in ihrem Leben schon Heißhunger verspürt. Doch das ist nichts im Vergleich zu dem, was Menschen mit der "Binge-Eating-Essstörung" durchmachen.

Mo 13.05.2019 14:36Uhr 03:53 min

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Magersucht und Bulimie sind die bekanntesten Essstörungen, aber nicht die häufigsten. Von "Binge Eating" sind deutlich mehr Menschen betroffen. Aus dem Englischen übersetzt heißt es so viel wie Essgelage. Die Erkrankten essen in kurzer Zeit extreme Mengen, meist heimlich, weil sie sich dafür schämen.

Diese Essanfälle werden oft durch negative Stimmung ausgelöst. Häufig spielen auch ein geringer Selbstwert und andere psychische Störungen wie Depressionen eine Rolle. Erst seit 2013 gilt diese Krankheit als eigene Diagnose, deshalb waren die Ursachen lange ungeklärt. Damit fehlte es auch an erprobten Therapieansätzen. Inzwischen gibt es jedoch einige Studien, die Licht ins Dunkel und Hoffnung auf Heilung bringen.

Leipziger Forscher belegen den Erfolg der Psychotherapie

Dass die Psychotherapie die Heilung der Krankheit am besten unterstützt, konnten Wissenschaftler der Universität Leipzig in einer aktuellen Studie belegen. Diäten, Medikamente und eine strukturierte Selbsthilfe schnitten dagegen deutlich schlechter ab. Um das herauszufinden, hatte das Team unter Leitung von Prof. Dr. Anja Hilbert die Ergebnisse verschiedener bereits vorhandener Studien verglichen.

Prof. Dr. Anja Hilbert
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Im vergangenen Jahrzehnt hat sich die Zahl der Studien zur Behandlung der Binge-Eating-Störung fast verdoppelt. Unsere Studie fasst zusammen und bestätigt, verfeinert und erweitert frühere Erkenntnisse.

Prof. Anja Hilbert, IFB Adipositas Leipzig

Das Ergebnis: Die Psychotherapie, vor allem die Kognitive Verhaltenstherapie, erwies sich als hoch effektiv in der Behandlung der Essanfälle. Die damit behandelten Patienten hatten im Vergleich zu anderen die zehnfache Chance, künftig ihren Essattacken zu widerstehen - auch langfristig.

Studienergebnisse helfen Patienten und Ärzten

An der Arbeit der Leipziger Wissenschaftler orientieren sich nun viele Mediziner und Psychologen bei der Behandlung ihrer Binge-Eating-Patienten, denn die Studienergebnisse sind Bestandteil der sogenannten S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen (DGESS). Diese Leitlinien helfen, auf Grundlage aktueller Forschungsergebnisse und praktisch bewährter Methoden, auch im Zweifelsfalle die richtige Therapie für die jeweilige Diagnose zu finden.

Focus Essen: Mit Aufmerksamkeitstraining zum Erfolg?

Bereits vor zwei Jahren hatten Prof. Anja Hilbert und ihr Team nach Ursachen und Mechanismen von Binge Eating gesucht - vor allem bei jüngeren Patienten. Sie gingen erstmals mit einem Versuch der Vermutung nach, dass die Betroffenen Lebensmitteln besondere Aufmerksamkeit schenken.

Gesunde und erkrankte Testpersonen zwischen 12 und 20 Jahren erschienen gesättigt zum Test. Dann wurden ihnen Bilder mit essbaren und nicht essbaren Gegenständen gezeigt - zuerst paarweise. Brokkoli und Baum, Margerite und Spiegelei. Mit der sogenannten Eyetracking-Methode konnten die Forscher messen, welche Punkte des Bildschirms wie lange fixiert wurden. Das Ergebnis: jugendliche Binge-Eating-Patienten widmeten den Nahrungsreizen viel mehr Aufmerksamkeit als der jeweiligen "ungenießbaren" Bildalternative. Die gesunden Jugendlichen zeigten dagegen keine Vorliebe für Nahrungsreize.

Erkrankte Jugendliche können ihre Aufmerksamkeit offensichtlich schlecht von Lebensmitteln lösen.

Prof. Anja Hilbert, Verhaltensmedizinerin

Ein zweites Experiment bestätigte dieses Ergebnis. Auf einigen Bildern waren zwischen nicht-essbaren Gegenständen Lebensmittel versteckt. Die Binge-Eating-Patienten entdeckten sie sofort. Bei der Suche nach nicht-essbaren Gegenständen zwischen Lebensmitteln waren sie nicht so schnell. Bei den gesunden Probanden spielte das Auffinden der Lebensmittel offenbar keine große Rolle, sie waren deutlich langsamer.

Wir glauben, dass dieser Aufmerksamkeitsunterschied wichtige kognitive Funktionen zur Verhaltenskontrolle beeinträchtigt. Das fördert ein enthemmtes Verhalten, wie es sich in den Essanfällen äußert.

Ricarda Schmidt, Diplom-Psychologin

So erklärt es Psychologin Ricarda Schmidt, die im wissenschaftlichen Team von Prof. Hilbert arbeitet. Die Forscher sehen darin die Chance für neue Behandlungsmethoden. Dieses enthemmte Verhalten unter Kontrolle zu bringen, war das Ziel einer weiteren Studie, deren Ergebnisse nun vorliegen.

EEG-Neurofeedback reduziert Essanfälle bei Erwachsenen

Das Forscherteam des Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrums (IFB) AdipositasErkrankungen um Prof. Anja Hilbert konnte also belegen, dass Binge-Eating-Patienten ein besonderes Aufmerksamkeitsverhalten zeigen. Das ist dann auch im Elektroenzephalogramm (EEG) zu sehen. Deshalb prüften sie in einer weiteren Versuchsreihe, ob sich dieses durch ein sogenanntes EEG-Neurofeedback beeinflussen lässt. Betroffene bekamen durch die Hirnstrommessung eine Rückmeldung dazu, was in ihrem Gehirn gerade geschieht, während sie zum Beispiel das Bild mit einem Brokkoli fixieren.

Den erkrankten Testpersonen wurden deutliche Nahrungsreize gezeigt. Währenddessen sollten sie einerseits trainieren, diese eben nicht so aufmerksam und angespannt zu fixieren. Andererseits sollten sie versuchen, sich zu entspannen. Beide Zustände zeigen sich im EEG und werden dem Probanden rückgemeldet. Die sogenannten Beta-Wellen zeigen, wie aufmerksam und angespannt er ist, die Theta-Wellen, wie entspannt. Das Ergebnis: Das EEG-Neurofeedback hilft den Patienten, ihr Verhalten unter Kontrolle zu bringen und Essanfälle zu reduzieren, wenn auch noch nicht langfristig. Daran wollen die Leipziger Wissenschaftler weiter forschen und suchen deshalb Erwachsene mit Essanfällen, die als Probanden daran mitwirken möchten. Informationen dazu gibt es hier online beim IFB.

MPI forscht ebenfalls nach Ursachen im Hirn

Wie sich die Hirnaktivität von Binge-Eating-(BE)Erkrankten von der gesunder Menschen unterscheidet, daran forscht auch Das Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig - auch in Zusammenarbeit mit dem IFB Adipositas. Aktuell läuft noch bis Mitte 2020 eine Studie, bei der das Entscheidungsverhalten im Mittelpunkt steht.

Bekannt ist, dass Menschen mit Essanfällen offenbar Schwierigkeiten haben, die Kontrolle über ihre Entscheidungen zu behalten. Was genau im Hirn geschieht, während sowohl gesunde als auch BE-Erkrankte spezielle Aufgaben lösen, wird u.a. durch einen Magnetressonanzscanner sichtbar. Sollte sich herausstellen, dass es deutliche Unterschiede zwischen den beiden Gruppen im Hinblick auf die Hirnaktivität gibt, könnte das die Grundlage für neue Therapieansätze sein. Das MPI sucht für diese Studie noch Teilnehmer.

Binge-Eating-Patienten haben Probleme mit "Belohnungslernen"

Eine frühere Studie des MPI zeigte, dass Betroffene sich weniger anpassen können, wenn es ums Belohnungslernen geht. Überprüft wurde das anhand eines Kartenspiels. Es ging darum, in immer wieder wechselnden Situationen vernünftige Entscheidungen zu treffen, um möglichs oft zugewinnen. Welche Karte ist gerade die beste Karte? Mit welcher Karte kann ich am ehesten gewinnen? Das konnte sich über die Zeit hinweg immer wieder verändern. Um also so oft wie möglich zu gewinnen, mussten die Probanden ihr Verhalten immer wieder flexibel anpassen.

Genau das fiel ihnen schwer. Sie probierten öfter als Gesunde immer wieder auch die schlechtere Karte aus, obwohl sie es besser hätten wissen können. Das Vergleichen der Karten und die Frage, 'Was würde passieren, wenn ich jetzt die andere Karte ziehe?' kam bei ihnen zu kurz. Das Abwägen der Optionen fand nicht statt und das zeigte sich auch in der Aktivität in bestimmten Hirnregionen. Die Forscher konnten auch auf neuronaler Ebene beobachten, dass dieses "Was-Wäre-Wenn-Signal" bei Binge-Eating-Patienten nicht so stark ausgeprägt ist wie bei gesunden.

Wo finden Binge-Eating-Patienten Hilfe?

Die "Binge-Eating-Desease" (BED) ist eine schwere Erkrankung, die Folgen wie Diabetes mellitus Typ 2, Herz-Kreislaufprobleme verursachen kann und oft von psychischen Beeinträchtigungen wie geringem Selbstwertgefühl bis hin zu Depressionen begleitet wird. Je eher BED behandelt wird, desto besser sind die Aussichten auf Heilung. Aktuell sind Psychotherapie und systematische Selbsthilfe die erfolgversprechendsten Behandlungsmethoden. Medikamente dagegen sind derzeit in Deutschland nicht zugelassen. Hilfe finden Betroffene beim Hausarzt, in Rahmen von ambulanten Therapieangeboten oder während eines stationären Aufenthaltes.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 19. Mai 2019 | 09:20 Uhr