Sterben in Deutschland Haben wir das Sterben outgesourct?

29. November 2024, 13:45 Uhr

Alle 30 Sekunden stirbt in Deutschland ein Mensch. Die meisten Menschen sterben im Zuge einer Krankheit – und an einem Ort, der nicht ihr vertrautes Umfeld ist. Haben wir das Sterben aus unserer Gesellschaft outgesourct?

Ein Ort für das Sterben

"Ich freue mich, wenn ich schnell sterben könnte", langsam, aber sehr bewusst wählt Wolfgang diese Worte. Wolfgang heißt eigentlich anders. Er war mal ein kräftiger Mann, das sieht man ihm an; einer, der den Ton angegeben hat. Als Chef eines landwirtschaftlichen Betriebs hat er stets körperlich geschuftet, nun fällt es ihm schwer auf den Beinen zu bleiben: "Ich muss weinen, wenn ich sehe, wie aus einem kräftigen Kerl einer wird, der Hilfe bedarf."

Wolfgang ist Mitte 80, die Tumor-Metastasen breiten sich mittlerweile in mehreren Organen aus – Krebserkrankungen sind in Deutschland Todesursache Nummer zwei hinter Herzerkrankungen. Wolfgang weiß, dass ihm nicht mehr lange bleibt. Für sein Ende ist er ins Leipziger Hospiz Advena gekommen. Das ist ein gemütlicher, heller Etagentrakt in einem Haus, wo Leben und Tod eng nebeneinander liegen: Unter dem Hospiz ist ein Kindergarten, lachende und weinende Kinder begleiten die Sterbenden in ihren letzten Tagen. Regelmäßig kommen die Kita-Kinder ins Hospiz und treffen die Sterbenden.

Wolfgang bewohnt seit 14 Tagen ein geräumiges Zimmer im Hospiz. Statistisch gesehen bleiben ihm noch acht weitere Tage, denn der durchschnittliche Aufenthalt eines Patienten im Hospiz beträgt in Deutschland 22 Tage. "Ich wollte meine Frau nicht weiter belasten", sagt er. Im Hospiz Advena wird täglich frisch gekocht, rund um die Uhr ist Pflegepersonal da.

Im Podcast "Meine Challenge: Besser sterben" setzt sich Reporterin Daniela Schmidt mit ihrem eigenen Ende und dem Tod naher Menschen auseinander: Wo und wie will sie am liebsten sterben? Wie kann sie Angehörige beim letzten Weg begleiten? Und was bleibt nach dem Tod von ihr übrig? Dabei lernt sie auch Wolfgang kennen. Hören Sie hier Folge 1: "Jeder stirbt für sich allein".

Wo möchten Sie sterben?

Diese Frage stellt der Deutsche Hospiz- und Palliativverband regelmäßig in einer repräsentativen Erhebung: Ein Viertel der Befragten macht sich dazu keine Gedanken; der Großteil, 50 Prozent der Deutschen, möchte zuhause im vertrauten Umfeld sterben. Am Liebsten umgeben von lieben Menschen, wie der Familie. "Zu Hause sterben ist untypisch. Also erstmal statistisch", erklärt Thorsten Benkel, Professor für Soziologie an der Universität Passau. Statistisch gesehen sterben die Menschen vor allem im Krankenhaus und in Pflegeheimen. Nur rund jede fünfte Person in Deutschland stirbt zuhause – Tendenz sinkend.

Laut Thorsten Benkel ist das verknüpft mit einem Mentalitätswandel. War es früher gewöhnlich, dass sich die Familie noch einmal am Sterbebett versammelt und den Toten sogar zuhause aufgebahrt hat, herrschen heute eher Vorbehalte: "Für gewöhnlich ist es so, dass Menschen Sorge haben, dass die Wohnung 'kontaminiert' wird. Wenn eine Person zuhause stirbt, können die Angehörigen dieses Wohnzimmer dann noch nutzen, um danach einfach jeden Abend Wer-wird-Millionär zu gucken? Das fällt Menschen schwer, das weiß man aus der Forschung. Davon raten dann auch Ärztinnen und Ärzte ab."

Das Bild zeigt einen Mann im mittleren Alter, der am Eingang einer Krypta steht. Es handelt sich um den Soziologen Thorsten Benkel, der zur Begräbnis- und Trauerkultur forscht.
Thorsten Benkel forscht an der Uni Passau zur Begräbnis- und Trauerkultur. Bildrechte: Thorsten Benkel

Ja, wir haben das Sterben outgesourct

Davon ist Soziologe Thorsten Benkel überzeugt, sieht aber auch handfeste Gründe: "Wenn Sie das Pflegen von Eltern oder auch Großeltern bedenken: Die meisten Menschen in dem Alter, in dem man diese Familienmitglieder verliert, stehen im Berufsleben oder haben andere Rollen zu erfüllen. Sie sind selbst Elternteil. Da kann man nicht einfach alles hinter sich lassen, um diesen 24/7-Job einer Pflegenden von Sterbenden zu betreiben".

Hinzu kommen noch die Herausforderungen, die die Palliativpflege mit sich bringen: "Es gibt da Menschen, – ich habe das selbst miterlebt im Rahmen der Forschung – die dann plötzlich nachts schreiend aufwachen und sagen: Ich will aber nicht sterben. Was macht man dann als unerfahrener Mensch? Auch deshalb ist der Tod outgesourct, weil Menschen sagen: Das ist schwierig und belastend, in professionellen Händen liegt es besser. Angesichts des modernen Lebens würde ich dem auch eindeutig zustimmen."

Die Zukunft des Sterbens

Das Sterben in Deutschland wird zunehmen, da die Bevölkerung immer älter wird. Aber wie werden die Jahre vor dem Tod? Die künftige Entwicklung ist wissenschaftlich umstritten. Die Expansionsthese besagt, dass die steigende Lebenserwartung bei Älteren in erster Linie zu mehr Krankheitsjahren führt: Infektionen und selbst chronische Leiden können besser behandelt werden, sodass die Betroffenen trotz Krankheiten länger leben.

Im Widerspruch dazu steht die Kompressionsthese: sie geht davon aus, dass sich die für das Alter typischen Erkrankungen stärker auf die letzten Lebensjahre konzentrieren. Demnach kämen vor allem gesunde Lebensjahre hinzu.

Mittlerweile haben sich Hospize und die Palliativstationen der Krankenhäuser als Alternative zu Pflegeheimen und "normalen" Krankenhausbetten entwickelt: Es sind auf das Sterben zugeschnittene Orte und die Zahl der Menschen, die an diesen Orten sterben, wächst beständig. Allerdings fehlt es an einer flächendeckenden Versorgung: "Es gibt einen Schlüssel in Deutschland, pro 50.000 Einwohnern kriegen sie ein Hospizbett. Das reicht nicht. Aber der Wandel geht schon in Richtung akzeptierender Orte, die außerhalb der normalen Lebensräume sind", erklärt Soziologe Thorsten Benkel.

Kein Geld für ein gutes Ende?

Es ist – wie so oft – eine Frage der mangelhaften Finanzierung. Auch auf den Palliativstationen der Krankenhäuser: "Wir triagieren jeden Morgen: Wer von den sechs, sieben Menschen, die auf der Warteliste stehen, braucht unser nächstes freiwerdendes Bett am dringendsten", erklärt Sven Gottschling. Er ist Chefarzt am Zentrum für altersübergreifende Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes:

"Es ist eine unfassbar ätzende Aufgabe, aber wir sitzen jeden Morgen da mit Listen von Menschen, hinter denen Schicksale stehen, wo wir wissen, die sind jetzt aktuell nicht adäquat versorgt. Und wir können nicht allen helfen, weil es auch ein gesellschaftspolitisches Problem ist, dass die Palliativversorgung nicht in dem Maße zur Verfügung steht, wie sie gebraucht würde, weil sie nicht adäquat gegenfinanziert ist."

Ein Mann mittleren Alters in Shirt und Weste lacht in die Kamera. Das Bild ist schwarz-weiß
Palliativmediziner Gottschling hält Sterbende bis zuletzt für Lebende und behandelt sie daher auch so. Bildrechte: Sven Gottschling

Die Sterbenden zu sich holen

Auch für die zwölf Betten im Leipziger Hospiz Advena gibt es Wartelisten. Geschäftsführerin Julia Bodendieck beobachtet, dass immer häufiger alleinstehende Menschen ohne Angehörige ihren Weg ins Hospiz finden. Auch hier spiegelt sich ein gesellschaftlicher Trend – die Zunahme von Solo-Haushalten. Einem weiteren Trend – der wachsenden Entfernung der Kinder zu ihren pflegebedürftigen oder sterbenden Eltern – könne man aber begegnen:

"Der Hospiz-Antrag, den man stellt, ist generell einfach für eine Hospiz-Aufnahme, unabhängig, wo das Hospiz ist. Und dann ist es oft so, dass zum Beispiel Angehörige in Leipzig leben und sagen, ich möchte meine Mutter nach Leipzig holen, weil es für mich einfach günstiger ist." Hospize bieten auch einen ambulanten Palliativdienst an: Ehrenamtliche oder Pflegekräfte kommen zur Betreuung ins Haus der Sterbenden. So könnte auch der allgemeine Wunsch vom Sterben daheim wieder besser erfüllt werden.

Der Besuch bei Hospiz-Bewohner Wolfgang endet, für ihn es ist Zeit zum Mittagessen. Welchen Abschiedsgruß wünscht man einem Sterbenden? "Ein kurzes Leben", sagt Wolfgang.

Links/Studien

Repräsentative Umfrage: "Sterben in Deutschland – Wissen und Einstellungen zum Sterben" – im Auftrag des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes (2022)

Analyse: Sterbeorttrend und Häufigkeit einer ambulanten Palliativversorgung am Lebensende – Deutsches Ärzteblatt Int. 2021; 118: 331-8; DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0124

Studie: "Auf ein Sterbenswort. Wie die alternde Gesellschaft dem Tod begegnen will" – Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2020)

Stellungnahme: Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) zur Krankenhausreform (2023)

Dieses Thema im Programm: MDR+ | MDR Meine Challenge | 22. November 2024 | 12:00 Uhr

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