Ernte auf einem Weinberg
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Gedächtnis Waren wir früher bessere Menschen? Oder: Moral und die rosarote Brille

03. Juli 2023, 17:08 Uhr

War früher alles besser? Waren wir höflicher, ehrlicher, mitfühlender, hilfsbereiter? Wahrscheinlich nicht, sagt der Psychologe Adam Mastroianni. Wir schauen nur gern mit der rosaroten Brille in die Vergangenheit und mit düsterem Blick auf unsere Mitmenschen.

Überall auf der Welt glauben Menschen, dass unsere Moral auf Talfahrt ist, dass wir die Regeln, die wir einst für unser Miteinander aufgestellt haben, zunehmend missachten. Das ergeben die Daten von fast 12,5 Millionen Befragten aus 60 Ländern, die über 70 Jahre dokumentiert wurden. Der Psychologe Adam Matroianni und sein Team haben die Daten im Rahmen einer Studie ausgewertet mit dem Ziel herauszufinden, ob früher wirklich alles besser war.

Die Klage über den Moralverlust ist mindestens so alt wie das Alte Rom

"Der Prozess unseres moralischen Niedergangs" begann mit dem "Untergang der Grundlagen der Moral" und führte zum "endgültigen Zusammenbruch des gesamten Gebäudes", der uns "endlich zum dunklen Anbruch unserer modernen Zeit" brachte. So treffend diese Beschreibung unserer Zeit heute auch erscheinen mag, sie wurde vor mehr als 2.000 Jahren von dem Historiker Livius verfasst, der bereits damals den Verfall der Moral seiner römischen Mitbürger bedauerte. Von der Antike bis zur Neuzeit haben Menschen die Wendungen beklagt, die ihre Gesellschaften nahmen und diese Wendungen verantwortlich gemacht dafür, dass wir die Regeln für unser menschliches Miteinander zunehmend mißachten.

Demzufolge müsste also die Moral weltweit tatsächlich seit Jahrtausenden gesunken sein – und zwar so stetig und so steil, dass Menschen in allen Epochen diesen Niedergang in der kurzen Zeitspanne ihres menschlichen Lebens beobachten konnten. Andererseits könnte die Wahrnehmung dieser Talfahrt eine psychologische Illusion sein, und davon sind Mastroianni und seine Kollegen überzeugt. Vor allem weil die Befragten die aktuelle Moral ihrer Zeitgenossen im Zeitverlauf nicht negativer beschreiben, sondern die Schilderungen auf ähnlichem Level bleiben. Daraus leiten die Forschenden ab: Die Wahrnehmung des moralischen Verfalls ist nur eine Illusion.

Negative Informationen sind interessanter aber positive Ereignisse werden besser erinnert

Mastroianni und sein Team haben auch eine gute Erklärung, wie es zu diesem Eindruck kommt: Erstens haben zahlreiche Studien gezeigt, dass Menschen besonders häufig nach negativen Informationen über andere suchen, sie intensiver wahrnehmen und Medien und soziale Netzwerke diesen Effekt verstärken. Wir schauen also nach etwas, wozu wir bereits eine in diesem Falle negative Meinung haben. Dieses Phänomen könnte erklären, warum Menschen glauben, dass die aktuelle Moral als relativ schlecht erscheint.

Weitere Untersuchungen haben gezeigt, dass wir uns im Hinblick auf unsere Vergangenheit eher an die positiven Ereignisse erinnern und die negativen vergessen, dass wir uns verzerrt erinnern. Dieser "voreingenommene Gedächtniseffekt" könnte erklären, warum wir glauben, dass die Moral in der Vergangenheit relativ hoch war. Voreingenommene Erwartung und Erinnerung erzeugen also die Illusion vom Verfall der Regeln für unser Zusammenleben.

Verzerrte Erinnerungen malen die Vergangenheit schön

Der verklärte Blick auf die Kindheit. Der Gedanke daran, dass früher alles einfacher war, dass es noch echte Wertarbeit gab. Unser Gedächtnis kann uns trügen und ist durchaus auch manipulierbar. Kein Wunder: In unserem Gehirn sind 100 Milliarden Nervenzellen durch mehr als 100 Billionen Synapsen miteinander verbunden. Diese verändern sich ständig, sorgen dafür, dass wir dazulernen, neue Zusammenhänge erkennen oder Dinge vergisst. So ändern sich im Laufe der Zeit unsere Erinnerungen und können im Laufe der Zeit sogar aktiv beeinflusst werden. Wir haben also keineswegs ein objektives Archiv an tatsächlich Erlebtem im Kopf, sondern eine Spiegelkabinett gefilterter Ereignisse, die im Laufe der Zeit beschönigt, verdrängt, verzerrt oder hinzugefügt wurden. Besonders wenn diese Effekte uns belasten, weil das hier und jetzt im Gegensatz zur rosaroten Vergangenheit abfällt, lohnt eine gezielte Auseinanderzusetzung und die kritische Frage danach, was in diesem Sammelsurium vielleicht Schein ist und was Wirklichkeit.

krm

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77 Kommentare

MDR-Team vor 44 Wochen

Hallo Petronius der Vierte,
eine Studie der Freien Universität Berlin und der Uni Hannover hat nun jedoch gezeigt, dass es keine wissenschaftliche Grundlage dafür gebe, die deutsche Gesellschaft als polarisiert zu beschreiben und dass sie nicht in verschiedene Lager zerfalle: https://www.mdr.de/wissen/kein-wissenschaftlicher-beleg-fuer-polarisierung-der-deutschen-gesellschaft100.html

MDR-Team vor 44 Wochen

Hallo THOMAS H,
wenn wir das Gleiche tun, sind beide angesprochenen Kommentare und noch einige weitere sichtbar. Eine Erklärung für Ihr Problem haben wir deshalb leider nicht. Einfach mal das übliche probieren: Cache leeren, anderen Browser versuchen.
Freundliche Grüße vom MDR-Wissen-Team

THOMAS H vor 44 Wochen

Wertes MDR-Wissen-Team: Wenn ich den obigen Beitrag öffne und zur Kommentarmöglich komme, sind heute von @Atze1 und @Petronius der Vierte jeweils ein Kommentar zu lesen, welche nach dem Kommentare öffnen jedoch nicht erscheinen. Warum ist das so? Danke für die Bearbeitung.