Teasergrafik Altpapier vom 23. März 2020: Porträt Autor Christian Bartels
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Das Altpapier am 23. März 2020 Hält die Bandbreite die neue Superhelden-Dichte aus?

23. März 2020, 11:45 Uhr

Jetzt startet auch noch Disneys Streamingdienst, immerhin vorerst nicht mit ganz superscharfen Superhelden- und Raumschiff-Filmen. Ist die Gesellschaft bereits Corona-kompatibler als ihr bewusst ist? Ist das Internet ein Geschenk, das jetzt erst richtig erkannt wird? Außerdem: Kritik an westlicher Parteilichkeit und Lob für Südkoreas ungleichzeitige Gleichzeitigkeit. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Neuer Internet-Optimismus!

Mehr denn je, zumindest bis zum morgigen Dienstag, bestimmt das Corona-Virus die Themenlage. Nicht-Corona-Themen gibt es derzeit eigentlich nicht,  jenseits von Fernseh- oder Streaming-Tipps (die natürlich wegen der Virusfolgen Aufmerksamkeit bekommen). Bloß handwerkliche Tricks, solche Nicht-direkt-Corona-Themen, an denen länger gearbeitet wurde und die nicht ewig halten würden, ans Mega-Thema anzukoppeln, gibt es. Dazu unten mehr.

Los geht's zur Abwechslung mit dem Positiven. Dazu muss  man nicht zu Trendforschern, die natürlich auch trenden wollen und sich bereits die Domain diezukunftnachcorona.com gesichert haben, klicken, sondern kann es auch zu den Kollegen von uebermedien.de tun, die sich eigentlich der besonders kritischen Medienkritik verschrieben haben. Es sei

"absehbar, dass in einigen Wochen sowohl bei Lesern als auch bei Redaktionen wieder das Bedürfnis nach frischen Themen wächst. Wer dann terminunabhängige Themen und frische Lesegeschichten anbietet, hat gute Chancen, mit seinen Angeboten auf offene Ohren bei den Redakteurinnen und Redakteuren zu stoßen",

lassen sie ihren Überblick über Hilfen für freie Journalisten ausklingen. Und es kommt noch deutlich besser: "Das Internet beweist in diesen Tagen, dass es ein Geschenk für die Menschheit ist". In einem wortgewaltigen sueddeutsche.de-Essay schießt Dirk von Gehlen, sozusagen der Vorsitzende des Internet-Heimatvereins, sozusagen den Vogel ab. Bekannte Internet-Nachteile wie Gerüchte- und Hassverbreitung hat er bereits berücksichtigt. Es käme eben darauf an, das Geschenk nicht zu miss-, sondern zu gebrauchen; künftige Vorzüge überwögen:

"Denn die Vorsichtigen und Zweifelnden, die bisher voller Sorge am Beckenrand standen, werden nach dem unfreiwilligen Sprung ins Wasser, den Corona bedeutet, besser übers Schwimmen mitreden können als jemals zuvor. Sie werden Wasser schlucken und ungelenk herumplanschen - wie das alle tun, die schwimmen lernen. Aber sie werden danach aus eigenem Erleben neue Perspektiven kennen und gemeinsam mit anderen im virtuellen Becken vielleicht sogar Schwimmstile entwickeln, die wir noch gar nicht kennen."

Nicht zuletzt hat von Gehlen die "Streamkultur" im Sinn. Der Begriff selbst fällt nicht im Essay, sondern bietet an dieser Stelle bloß Gelegenheit, den gleichnamigen Twitter-Account zu erwähnen, der nicht neue Netflix-Serien empfiehlt, sondern solche Kultur, die normalerweise vor physisch anwesendem Publikum aufgeführt worden wäre. Und außer schönen Aphorismen hat von Gehlen für seine auch harte Zahlen wie den kürzlich erwähnten 9,1-Terabit-pro-Sekunde-Rekord am Frankfurter Internet-Knotenpunkt DE-Cix im Blick.

Wobei, da handelt es sich um einen Verbrauchsrekord, vermutlich einen Stromverbrauchsrekord. Womit wir bei den weniger positiven Aspekten sind ...

Bandbreite wie Toilettenpapier?

Dass "der Datenverkehr durch Videokonferenzen binnen sieben Tagen um 50 Prozent gestiegen" sei, wurde vorige Woche vermeldet (c't Magazin). "Wir würden ohne Weiteres einen Zuwachs um 70% im Datenverkehr verkraften", hatte der WDR-Blog Digitalistan sich von der Deutschen Telekom sagen lassen (und zugleich vermeldet, dass in Italien solch eine 70-Prozent-Zunahme bereits eingetreten war). Und nachdem in der Schweiz die Sorge geäußert wurde, dass "sich Bandbreite zu einem knappen Gut ... wie Toilettenpapier oder Atemschutzmasken" entwickelt (NZZ), beteuerte Digital-Staatsministerin Doro Bär am Wochenende, "dass die Netze in Deutschland den zunehmenden Datenverkehr problemlos verkraften" (Stuttgarter Zeitung via heise.de).

Die aktuelle Meldung ebd. lautet, dass der allerneueste Streamingdienst, der allerhand der allerteuersten Kinofilme und kommenden Serien anbietet und erst recht zu bieten plant, nun in Europa ebenfalls "mit reduzierter Auflösung" startet – und das in Frankreich "auf Wunsch der französischen Regierung" erst in zwei Wochen tun werde. Die Mitbewerber um Aufmerksamkeit oder/und Abo-Einnahmen, Netflix und Youtube, haben bereits, aufgrund "einer persönlichen Bitte" von dem EU-Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton, ihre Bitraten runtergefahren. Sie zeigen also ihre teuren Hochqualitäts-Filme nurmehr in weniger superscharfer SD-Standardauflösung. Das war bereits am Freitag im Korb verlinkt.

Schön, wenn in Deutschland mit seiner so oft kritisierten Netz-Infrastruktur sämtliche Bewegtbilder der kommenden Wochen – von Politiker- und Homeoffice-Videokonferenzen über aus leeren Hallen übertragene Konzerte bis hin zu den mehr denn ja abgerufenen Netflix- (und ARD-ZDF-Mediatheken!)-Angeboten – problemlos gestreamt werden können. Allerdings dürfte die große Welle erst kommen, und sehr viele Vorhersagen, die lange hielten, gab es zuletzt nicht. Insofern passt an dieser Stelle vielleicht nochmals die Faustregel, dass, wenn es auf Aktualität ankommt, linear fernsehen oder Radio hören die Infrastrukturen entlastet (und Strom spart).

Und nun kommt zur Fülle des Angebots also das neue Disney-Dings hinzu. Womit wir beim versprochenen Nicht-s-Corona-Thema sind.

Jetzt kommt auch noch Disney

Der Termin war lange angekündigt, schon weil solche Ankündigungen ja immer viele Meldungen nach sich ziehen und zum PR-Kalkül der Konzerne gehören. Zwei Medienressorts haben für den Wochenstart ausführliche Beiträge vorbereitet.

Der Beitrag der SZ-Medienseite betrachtet es erwartungsgemäß unter Nutzwert-Aspekten für Serien-Aficionados. Er freut sich also einerseits, dass "die Superhelden- und Raumschiffdichte noch zunehmen wird", fürchtet andererseits die Kosten und den "nicht unerheblichen Aufwand. Wer zum Beispiel bei Star Trek auf dem Laufenden bleiben möchte, muss schon mindestens zwei Dienste abonnieren, denn 'Discovery' läuft in Deutschland bei Netflix, 'Picard' aber bei Amazon". Immerhin steht der SZ-Artikel frei online.

Interessanter, aber bezahlpflichtig ist das Sechs-Autoren-Stück des Spiegel zum selben Thema. Das Magazin fand einen cleveren Einstieg:

"Vor gut drei Wochen entschloss sich Bob Iger, als vielleicht erfolgreichster Firmenchef der Welt abzutreten, und er wusste, er musste es schnell tun. Die Welt hatte Corona noch nicht als die globale Krise erkannt, die sie nun ist, doch Iger, 69, seit fast 15 Jahren CEO der Walt Disney Company, ahnte mehr als andere und entschied, auf dem Höhepunkt zu scheiden."

Um rasch zu spoilern, wie es hinter der Bezahlschranke weitergeht: Iger wusste schon mehr oder weniger, was kommen würde, da der Disney-Konzern seinen Medien-Turbokapitalismus selbstverständlich besonders auch im Riesenmarkt China betreibt. Insgesamt ergibt das alte Spiegel-Rezept, Berichte von unterschiedlichen Reportern und Schauplatzen zu oft redundanten Langstrecken zusammenzumontieren, hier tatsächlich Sinn. Der Text springt produktiv hin und her zwischen mit Milliarden jonglierenden Moguln sowie Filmschaffenden dies- und jenseits des Atlantik, die davon – zumindest bis vor wenigen Tagen – enorm profitierten. Hierzulande etwa

"... hängt [Regisseur Christian] Schwochow ein bisschen in den Seilen, er hatte einen Nachtdreh in Köln, wo er unter Geheimhaltung einen Film über den Aufstieg der neuen Faschisten in Europa macht. Er hat kein Auge zugemacht, aber wenn er von den neuen Möglichkeiten der Streamingwelt spricht, wirkt er hellwach. Es ist eine Goldgräberstimmung, aber es herrscht auch Chaos. Es ist schlicht zu viel Geld im Markt, es wird zu viel gemacht, zu schnell gearbeitet."

Ufa-Produzent Nico Hofmann sagt natürlich etwas (dass es Netflix "nicht mehr um die spitze State-of-the-Art-Serie, sondern um Konsensstoffe für Leute zwischen 25 und 49" gehe). Zurselben Zeit in den USA äußert Marketing-Professor Scott Galloway, "eine Art Punk-Ökonom", seine Ansicht, dass "die Fähigkeit eines Mischkonzerns wie Amazon, den 'Schwung' eines Geschäftsfelds auf andere Bereiche zu übertragen", schließlich den Wettbewerb entscheiden könne. Also eher zugunsten des besonders üblen Datenkraken Amazon als zugunsten des Disney-Konzerns, der außer Filmen bloß Reisen in Themenparks und auf Kreuzfahrtschiffen sowie jede Menge Merch zu verkaufen hat. Und

"Regisseur Todd Haynes, bekannt geworden mit großem Kunstkino, hat inzwischen auch für HBO und Amazon gedreht. Auf der Terrasse des Sunset-Tower-Hotels in Hollywood sitzend, sagt er: 'Hier passieren zwei Dinge gleichzeitig: Einerseits ist die Entwicklung großartig, weil so viel Zeug jetzt hergestellt wird. Andererseits mache ich mir große Sorgen um das Kinoerlebnis.' Er macht eine Pause. 'Jetzt guckt jeder nur noch zu Hause im Bett.' Das passe gut in die Zeit. 'Wir werden immer mehr eine insulare, abgeschottete Gesellschaft. Dazu trägt das Streamen natürlich bei.'"

Ist die Gesellschaft also schon Corona-kompatibler geworden als ihr bewusst ist? Bleibt zu hoffen, dass die Streamkultur à la @streamkultur sich in der Zukunft nach Corona wieder an den alten Spielstätten steigen wird.

Corona-Ticker I ("Parteilichkeit", Handyortung, Koreanisierung?)

+++ "Die Parteilichkeit der westlichen Journalisten", die im Rahmen der meist unter ferner laufen rangierenden China-Berichterstattung noch vor kurzem ziemlich genau solche Maßnahmen scharf kritisierten, wie sie nun im deutschen Föderalismus verhängt und in den Medien meist gelobt werden werden,  kritisiert heise.de Telepolis. +++ Zur Verteidigung der Journalisten ließe sich vielleicht einwenden, dass der Wert des Haltungsjournalismus dem alten der Unparteilichkeit halt sowieso den Rang abgelaufen hat.

+++ Journalisten "müssen endlich konsequent Daten- und Digitalthemen als Querschnittsthemen behandeln, die rasch relevant für alle sind", fordert das "Media Lab" des Tagesspiegel. +++ Und tatsächlich, nach Kritik vorläufig aus einem der Instant-Gesetzespakete gestrichen wurde der Plan, dass "mit Hilfe von Handyortung im Fall einer nationalen Epidemie auch Kontaktpersonen von Kranken identifiziert und lokalisiert werden" sollten. Das Recht, sich solche Daten von Telekom-Dienstleistern übermitteln zu lassen, hätte Gesundheitsminister Spahn sonst ins Gesetz geschrieben, berichtet Christian Rath in der taz.

+++ Und wäre das schlimm oder ein Präzedenzfall gewesen? Eine weitere Frage, die diskutiert werden muss, obwohl sie sich in der dynamischen Situation nicht abschließend beantworten lässt. Dazu lesenwert (55 Cent bei Blendle) ist noch Sandra Kegels Interview "über Bewegungsfreiheit und den gläsernen Menschen in Südkorea" im FAZ-Feuilleton. Schließlich gilt Südkorea als eines der wenigen Länder, die bislang vergleichsweise gut mit dem Corona-Virus zurechtkommen. Der mit dem Berliner Professor für Koreastudien Hannes B. Mosler sagt:

"Die Südkoreaner sind total technikaffin, ihre Unternehmen gehören zur Weltspitze der Tech-Branche und kaum irgendwo gibt es mehr Internetanschlüsse und Smartphones pro Kopf. Das geht einher mit der Bereitschaft, Kontrolle über die eigenen Daten abzugeben. ... Dieses Selbstverständnis erklärt die blitzschnelle Entwicklung von Plattformen und Apps, die die Verbreitung des Virus und die Hotspots von Infektionen in Echtzeit zur Verfügung stellen. Die schonungslose Offenlegung der Bewegungsprofile ... können negative Folgen haben. Doch scheinen die Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte mit dem gesamtgesellschaftlichen Vorteil der Eindämmung der Pandemie aufgerechnet zu werden. Es wird als eine Frage der Gerechtigkeit gewertet: Warum müssen viele, mich eingeschlossen, potentiell leiden oder sterben, nur weil einige ein Problem damit haben, dass ihre Geheimnisse bekannt werden?"

Außerdem charakterisiere Südkore eine "ungleichzeitige Gleichzeitigkeit, in der sich verschiedene, teilweise widersprüchliche Handlungsmuster und Wertehorizonte überlagern". Und damit in den Altpapierkorb, der ebenfalls ein Corona-Ticker ist.


Altpapierkorb (Corona-Ticker II: Sport-Nachrichtenlage spannend, Drosten "schockiert", Kluge am Telefon, Künstliche Intelligenz am eigenen Schopf)

+++ "So erhöht die Ungleichzeitigkeit der Länder unter dem Strich eher die Akzeptanz der Maßnahmen, als dass es sie gefährdet" (nochmals Christian Rath in der taz in einem gebremsten Lob des deutschen Föderalismus).

+++ "Momentan ist die Nachrichtenlage aber noch extrem spannend. Leider nicht aus sportlichen Gründen": Im SZ-Interview nimmt Jörg Jakob, Chefredakteur des Kicker, der als Zeitschrift und im Netz ganz gut funktioniert (aber vor allem, wenn Fußball gespielt wird), die dynamische Situation sportlich.

+++ "Ein so einfaches wie geniales Format wie der NDR-Podcast (ja, auch das Radio blüht auf) mit Christian Drosten fesselt mehr als der dritte Fehlschuss im vierten Biathlon am fünften Wochenende." Norbert Schneider lobt im Tagesspiegel nach alter Schule die linearen Medien.

+++ Drosten selbst zeigte sich auf Twitter "schockiert" von einer im Grunde gelinde zugespitzten Interview-Überschrift des Stern. Interessant an der Diskussion unterm Tweet, wie oft Drosten aufgefordert wird, über den "direkten, ungefilterten Kanal zu den Menschen ... (Podcast, Tweets, …)" bzw. "am besten nur noch über Twitter" zu kommunizieren. +++ Weiter scharfe Kritik an ihm ("Die Zerfallszeit von Drostens Aussagen scheint noch kürzer zu sein als die Verdopplungszeit des Virus") findet sich bei Telepolis.

+++ "Wäre Olaf Gersemann Maler ... hätte er gestern ein komplett schwarzes Bild vorgestellt, sein neuestes Werk. Er hätte es 'Corona' genannt und bei einer Vernissage in Berlin-Charlottenburg erklärt, dies sei sein aktueller Blick auf die Welt. Die anwesenden Gäste hätten leicht betreten überm Sektglas genickt, einer hätte bedenklich gehustet, und dann wäre das noch eine beschwingte Party gewesen ..." Kritisiert Boris Rosenkranz da Corona-Partys im Westberliner Galeristenmilieu? Nein, nach alter uebermedien.de-Manier kritisiert er den Springer-Konzern. Gersemann ist Wirtschafts-Ressortleiter bei der Welt. +++ Deren Feuilleton-Leiter unterdessen mit Alexander Kluge telefonierte (€), der auch noch die Luftangriffe auf Halberstadt 1944 mit erlebt hatte und mit der Corona-Gegenwart vergleichen kann.

+++ Nochmals Stromverbrauchs-Fragen: Die sogenannte Künstliche Intelligenz dürfte künftig noch sehr viel mehr Strom verbrauchen als bislang, allerdings andererseits auch beim Stromsparen helfen. "Das erinnert an Baron Münchhausen, dem bekanntlich gelungen ist, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen", schreibt Timo Daum bei heise.de.

+++ Und; "Noch selten ist Unbewusstes so bewusst benutzt worden. 'Freud' ist Schreien und Kreischen in der Geisterbahn" schreibt Joachim Huber, der alte Dialektiker, im Tagesspiegel über die neue ORF-Bavaria-Netflix-Serie.

Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.

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