Teasergrafik Altpapier vom 26. März 2020: Porträt Autor Klaus Raab
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Das Altpapier am 26. März 2020 Was heute ist, war gestern nicht planbar

26. März 2020, 11:00 Uhr

Die Handlung der stets an die Gegenwart angedockten "Lindenstraße" wird in einer Zeit enden, die nicht die Gegenwart ist: Die Figuren verhalten sich, als gäbe es keine Kontaktsperre. Und die lange geplante James-Bond-Sonderausgabe des "Playboy" erscheint leider auch zu einem nicht wirklich perfekten Zeitpunkt. Gute Prognosen gibt es aber auch. Für den Journalismus allgemein. Und auch für den Printjournalismus. Ein Altpapier von Klaus Raab.

James Bond: Timing ist alles

Es geht doch nichts über eine gute Vorplanung. "James Bond – Alles über den 007-Kult auf 132 Seiten" ist der Titel des Playboy-Hefts, das nun erscheint. "Anlass für die Playboy-Sonderausgabe ist der Kinostart von 'Keine Zeit zu Sterben', dem 25. Film der legendären Agentenreihe", steht in der zugehörigen Redaktionsmitteilung. Und tja, was soll man sagen? Da hat sich jemand rechtzeitig ein paar warme und sicher richtige Gedanken über seine Zielgruppe gemacht. Der Filmstart war mal für den 2. April terminiert, da wäre der 26. März ein Spitzen-Erstveröffentlichungstag. Es geht nichts über eine ordentliche Ausgabenplanung.

Wenn nur dieses dämliche Virus nicht wäre, das alles auf den Kopf stellt. Denn herrje, was steht da noch in der Playboy-Mitteilung? Da steht etwas von der Verschiebung des Bond-Filmstarts, die dummerweise erst vor drei Wochen bekannt wurde. Zu spät.

"Mit 'Keine Zeit zu sterben' startet voraussichtlich am 12. November dieses Jahres die 25. Mission des Gentleman-Spions James Bond in den Kinos. Es wird der letzte Auftritt von Daniel Craig als 007 sein. Grund genug für uns, der legendären Action-Reihe ein eigenes Sonderheft zu widmen."

Jetzt. Das Heft kommt halt leider sieben Monate zu früh.

Was bleibt einer Redaktion, wenn das Weltgeschehen sich nicht an den Redaktionskalender halten will? Sie wird zunächst einmal die Ohren steif halten müssen. Die James-Bond-Ausgabe erscheint natürlich trotzdem, man wäre ja dämlich, sie vor Gram einfach einzustampfen. Und wer weiß, vielleicht verkauft sie sich sogar besser, als man – Stand jetzt – spontan annehmen sollte. Man darf niemals nie sagen, schon gar nicht in diesen Tagen, in denen sich die Perspektiven täglich verschieben.

Man kann aber auch konkret darauf setzen, dass sich ein Publikum schon findet, wenn es ansonsten so wenig zu tun hat wie jetzt. "In Zeiten wie diesen ist Ablenkung durch Unterhaltung gefragter denn je", sagt im DWDL-Interview die Discovery-Geschäftsführerin Susanne Aigner, und vielleicht will man das in Bunnyhausen ja als kleinen Schulterklopfer verstehen.

Die "Lindenstraße" und die Gegenwart

Insgesamt aber hat die Langzeitplanung von Redaktionen gerade wirklich keinen guten Lauf: Es gibt derzeit nur noch Gegenwart für Medienschaffende. Und es ist dummerweise keine Gegenwart, auf die man gestern schon gekommen wäre.

Man merkte das vergangene Woche aber auch bei der Sichtung der "Lindenstraße"-Folge 1757, der vorletzten in der mehr als 34-jährigen Geschichte der Serie. Man merkte es daran, dass der bewährte "Lindenstraße"-Trick nicht funktionierte. Es gehörte zum Selbstverständnis der Serie, gesellschaftsrelevante Ereignisse einzubinden und auf der Straße liegende Debatten aufzugreifen. Das geschah nicht zwangsläufig tagesaktuell, aber das war auch gar nicht nötig: Es ging in der "Lindenstraße" um den Blick vom Küchentisch der Charaktere auf die Dinge. Der durfte auch mal ein paar Tage hinterher hängen, das war nicht entscheidend.

Wenn es emotional wurde auf den Trottoirs, war die "Lindenstraße" jedenfalls da. Und sei es nur mit einem Halbsatz in einem Dialog. Die Figuren kommentierten das Referendum in der Türkei, die Impfpflicht, Pegida, Hartz IV, und sie zogen sich in Folgen, die an Wahlabenden liefen, Hochrechnungen rein.

Diesmal aber reicht kein Halbsatz und kein Nachschnitt. Corona in der "Lindenstraße" aufzugreifen, würde bedeuten, dass die Serie ihre Charaktere von der Straße holt und sie eineinhalb Meter Abstand zueinander halten lässt. Am vergangenen Sonntag aber, als die Verkündung der sogenannten Kontaktverbotsregeln gerade ein paar Stunden alt war, rieben sich die Anwohner der "Lindenstraße" bei einer Straßendemonstration zu Dutzenden aneinander. Das Corona-Virus hat das Gegenwartsprinzip der "Lindenstraße" auf ihre alten Tage aus den Angeln gehoben: Ausgerechnet die letzte Folge der stets an die Gegenwart angedockten "Lindenstraße" am kommenden Sonntag wird in einer Zeit enden, die nicht die Gegenwart sein kann.

Das bedeutet kein Scheitern. Es ist nur bemerkenwert: wie schräg manche Dinge nun in der Landschaft stehen, die vor ein paar Wochen noch kerzengerade und beinahe alternativlos schienen. James-Bond-Jubiläumsausgaben. Lindenstraßler, die einander nahe kommen.

Man kann nichts tun gegen diese Schrägheit. Es gibt dagegen nicht einmal eine App, die Abhilfe schafft:

"Das Motto der Zehnerjahre war: 'There’s an app for that', dafür gibt es eine App, für alles gibt es eine App. Und jetzt stehen wir da mit unseren Smartphones, kennen das Wetter von übermorgen in Kapstadt, können KI-gesteuert 900 verschiedene Apfelkuchenfertigbackmischungen bestellen oder im Liegen einhändig ein witziges Effektvideo weltweit verbreiten. Aber fühlen uns bitter hilflos im Angesicht der Coronakrise."

Schreibt Sascha Lobo in seiner SpOn-Kolumne.

Zwei Prognosen zum Printjournalismus

Wobei man sagen muss: Medienunternehmen haben es, bei allen offenen Fragen und Problemen, noch vergleichsweise gut, zumindest die aktuell arbeitenden. Ihre Arbeit ist derzeit gefragt, wenn auch nicht alle Journalistinnen und Journalisten gleich gut beschäftigt sind. (Übermedien hat etwa ein sehr, sehr lustiges Zitat aus dem NDR-Kosmos abgefangen, über das nur leider niemand lacht: "Arbeitnehmerähnliche Personen können einen Urlaubsantrag stellen, um diese Zeit finanziell zu überbrücken.")

Aber schauen wir an dieser Stelle nicht auf Journalistinnen und Journalisten, schauen wir auf Medienhäuser. Es gibt neue Zahlen zu einem der größeren Themen dieser Tage – zu Reichweiteentwicklungen digital und nicht-digital. Die gewissen Verlegergrößen nicht in übertriebener Ablehnung verbundene Welt hatte sie kürzlich schon; die FAZ hat sie heute in der Druckausgabe:

"Die digitalen Reichweiten der Zeitungen sind nach Angaben der Verleger in der Corona-Krise 'sprunghaft' gestiegen. (…) So habe sich die digitale Nutzung neuesten Erhebungen zufolge um bis zu 65 Prozent erhöht, seit das Coronavirus die Nachrichtenlage beherrsche", heißt es dort. Wobei die Verlegerangaben auf Agof-Zahlen beruhen.

Hatten wir am Dienstag an dieser Stelle also bad news des Zeitungsverleger-Verbands (BDZV) in Sachen Anzeigenrückgang, so haben wir heute bessere news des Digitalpublisher-Verbands (ebenfalls BDZV) zur Reichweitenentwicklung. Allerdings sieht die Sache schon wieder anders – nämlich bestenfalls ambivalent – aus, wenn es um die Printauflagen geht: "(J)e weniger die Menschen nach draußen gehen, desto weniger werden sie auch Zeitungen kaufen. (…) Zweifellos wird die aktuelle Krise die Digitalisierung von Zeitungen weiter beschleunigen." So heißt es bei Christian Meier in der Welt.

Während Jens Schröder bei Meedia allerdings das Gegenteil vermutet. Bei ihm heißt es nicht nur allgemein, die Corona-Berichterstattung beschere "dem Journalismus nie für möglich gehaltene Nutzerzahlen". Die Druckerzeugnisse sind bei ihm auch explizit mitgemeint: "Selbst Print-Medien scheinen durch die Corona-Krise neuen Zulauf zu bekommen." Und: "Die Nach-Hause-Lieferung von abonnierten Zeitungen und Zeitschriften dürfte aber für viele Leser wieder Attraktivität gewinnen."

Halten wir also fest, dass es unterschiedliche Ansichten über die bevorstehende Entwicklung gibt. Aber wie war das mit den Langzeitplanungen und -aussichten? Ach richtig: Das stand im ersten Absatz dieses Blogeintrags. (tl;dr: Man weiß es nicht.) Nochmal Jens Schröder, Meedia: "Belastbare, objektive Zahlen für verkaufte Auflagen werden aber erst im Laufe des Aprils vorliegen." Warten wir also ab. Es geht nichts über einen guten Geduldsfaden.

Gute Chancen auch für mittelgute Konzepte

Kommen wir noch einmal zurück auf das oben schon erwähnte DWDL-Interview mit Discovery-Geschäftsführerin Susanne Aigner. Sie spricht darin auch über Eurosport – und den Sportjournalismus muss man derzeit als Sonderfall betrachten. Noch mehr, seit nun feststeht, dass nach der Fußball-Europameisterschaft auch die Olympischen Spiele verschoben werden: Es gibt nicht viel zu tun derzeit. Immerhin sieht Aigner auch das Positive:

"Die Kollegen sind (…) von Vollgas von mehr als 50% Live-Strecke pro Tag für einen kurzen Moment auf Null runtergebremst worden, um zwei Tage später wieder mit einem neuen Konzept durchzustarten. Da steckt jede Menge Energie dahinter."

Weitergedacht: Wer jetzt eine Idee hat, die sich auch noch mit eineinhalb Metern Abstand zu den Nebenleuten umsetzen lässt, hat wahrscheinlich derzeit so gute Chancen wie lange nicht, sie auch ohne großes Tamtam ausprobieren zu dürfen. Wie diese. Oder diese. Es müssen, das sehen wir derzeit, nicht einmal überzeugende sein. Das Fernsehunterhaltungsprogramm wird – womöglich – anders aussehen nach dieser Krise. Wie? Vielleicht wird mancher Sender seinen Kram noch billiger produzieren, weil er jetzt sieht, dass es geht und man auch mit Skype-artigem Fernsehen ein Publikum gewinnt. Vielleicht kommen aber auch noch ein paar Konzeptideen um die Ecke, die in anderen Zeiten nicht mal geprüft worden wären, weil sie böseböse nach Experiment klingen.

Abwarten. Tee trinken. Aber was will man auch sonst gerade machen?


Altpapierkorb (Chinesische Medienstrategie, Redaktionsarbeit in Corona-Zeiten, Transparenz der Öffentlich-Rechtlichen, Fußballrechte, Facebook gegen Falschmeldungen)

+++ Der Deutschlandfunk thematisiert die chinesische Medienstrategie in der Corona-Krise, für die taz schreibt Altpapier-Kollege René Martens über die WDR-Doku "Neuland – Wer hat die Macht im Internet?", die unabhängig von Corona ebenfalls um chinesische Vorhaben nicht herumkommt

+++ Wie arbeiten Redaktionen in Zeiten von Corona? Die SZ-Medienseite schreibt über die Arbeit in der SZ. Der Tagesspiegel über die Arbeit von ORF, ARD, ZDF, RTL und ProSiebenSat1.

+++ Der Tagesspiegel hat auch eine Expertise des Deutschen Gewerkschaftsbunds gelesen – "Öffentliche Anteilnahme ermöglichen. Transparenz, Aufsicht und öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Deutschland" –, in deren Fazit es heißt: "Die Dringlichkeit, den Transparenzdefiziten im Rundfunksystem entgegenzuwirken, zeigt nicht zuletzt die aktuelle Debatte über einen zeit- und zukunftsgemäßen Auftrag öffentlich-rechtlicher Medien."

+++ Ein Update zur Fußballrechtefrage hat die Süddeutsche, die befürchtet, dass die Kleinen kleiner werden.

+++ Die Maßnahmen von Facebook "zeigen ein ernsthaftes Bemühen, Falschmeldungen über das Coronavirus einzudämmen", schreibt das WDR-Blog Digitalistan.

Neues Altpapier erscheint am Freitag.

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