Das Altpapier am 16. Juni 2020 Ikonoklasten und Teppichverkäufer
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16. Juni 2020, 08:30 Uhr
Was “Tim und Struppi“ mit der dem Black Lives-Matter-Movement angeschlossenen Diskussion um Ikonoklasmus zu tun haben, und wieso Rassismus und Misogynie ein “match made in hell“ sind. Ein Altpapier von Jenni Zylka.
Teppichverkäufer sind keine Hausierer
“Sauvages! Aztéques! Grenouilles! Marchands de Tapis! ICONOCLASTES!“ - Kapitän Haddock nahm noch nie ein Blatt vor den Mund. Der Seemann, Alkoholiker und Rassist, der (neben dem für einen Hund (!) enorm philanthropischen Struppi) Tims treuester Gefährte ist, stößt seine Beleidigungen das erste Mal 1940 in “Die Krabbe mit den Goldenen Scheren“ heraus, natürlich in Rage, natürlich besoffen. Die deutsche Fassung von Hergés neuntem Comicband schwächte die rassistischen Zuschreibungen und Diskriminierungen minimal in “Ihr Wilden! Feuerfresser! Hausierer! Ikonoklasten!“ ab – die Originalbeleidigungen (“Azteken!“, “Frösche!“ “Teppichverkäufer!“) waren dem Carlsen-Verlag, in dem die Bände seit 1967 auf Deutsch erscheinen, dann wohl doch zu unverkennbar xenophob. Selbst für einen durchaus widersprüchlich gezeichneten (sic!) Charakter. (Teppichverkäufer sind klar mit negativen Orient-Klischees belegt, Hausierer dagegen kommen auch im Loriotsketch vor und trinken Wein mit Evelyn Hamann). Eine Seite weiter beschimpft der wütende Haddock die Marokkaner dann als “Barbaren“, “Sandflöhe“ und “Anthropophagen“, um seinem Erguss die Krone aufzusetzen.
Bilderstürmer damals und heute
Das Fremdwort “Ikonoklasten“ ist in dem Zusammenhang besonders interessant: Es bedeutet “Bilderstürmer“, und wurde vom Carlsen-Verlag genauso wenig übersetzt wie “Anthropophagen“ (Kannibalen), vermutlich weil man den fremd-bizarren Klang erhalten wollte und sich darauf verließ, dass beide Worte weder im passiven noch im aktiven Wortschatz der meisten Comicafficionados zu finden sind. Was vielleicht auch so ist. Aber angesichts der aus den USA größtenteils auf alle Länder anwendbaren aktuellen “Black Lives Matter“-Bewegung und der dazugehörigen Antirassismusdebatte, deren notwendige Stärke mit jahrhundertelanger Wut und Ohnmacht zusammenhängt, und angesichts der Tatsache, dass die Belgier “Tim und Struppi“ im benannten Band erneut “den Wilden“ in einem afrikanischen Land zeigen, wer die Herrenmenschen sind (der Rassismus im ersten offiziellen Abenteuer “Tim im Kongo“ ist derartig deutlich, dass keine deutsche Übersetzung, keine dem Zeichner zugesprochene Naivität ihn überdecken kann), bekommt die von Haddock ausgerufene Diffamierung eine neue Ebene.
Gibt es guten Ikonoklasmus?
Denn dass ein weißer, belgischer Mann hier die “Fremden“, die Nicht-Weißen (in diesem Fall die Moslems) des “Bilderstürmens“ bezichtigt, ist (trotz der gleichermaßen christlichen wie islamischen Tradition, in der Ikonoklasmus zu finden ist) momentan brennend aktuell. Und wirft die Frage auf, ob es “guten“ und “schlechten“ Ikonoklasmus geben kann. Kann man gegen die Zerstörung von Kultur sein, selbst wenn die Kultur ein historisches Zeugnis von Mord, Ungerechtigkeit, Erniedrigung und Benachteiligung ist? Kann man dafür sein? Ist das Zerstören von Monumenten, die andere Religionen versinnbildlichen, schlimmer oder weniger schlimm als das Zerstören von Statuen und Denkmäler, die Rassisten und Mörder ehren? Welche Rolle spielt es, wer die Zerstörung in Auftrag gibt? “Wenn Steine beleidigen“ überschreibt die taz einen Kommentar dazu, der die Ambivalenz der Debatte gut auf den Punkt bringt:
“Alle diese Monumente zu schleifen würde bedeuten, Geschichte zu entsorgen, sobald diese uns nicht mehr passt. Es wäre der unsinnige Versuch, die Welt widerspruchslos entsorgen zu wollen und heutige Maßstäbe an die Vergangenheit anzulegen. Aber manche Statuen sollten fallen – in Auftrag gegeben nicht von einer Obrigkeit, sondern im Rahmen eines demokratischen Verfahrens.“
Finde ich richtig, manche sollten fallen – manche sollten aber auch stehen bleiben, vom Ehren- zum Mahnmal umfunktioniert und mit erklärenden Schildern neu eingeordnet werden.
Das Beschützen des Denkmalbeschützers
Weiterhin kann man in der gleichen Zeitung eine Reihe Reportagen zum Thema aus verschiedenen Ländern lesen – wobei die Geschichte zum belgischen Kolonialismus, die unfassbaren Taten des rassistischen Königs Leopold II und der Versuch, seine Heldenverehrung zu brechen uns wieder zu den unseligen Cartoon-Rassisten Hergé, Tim, Struppi und Haddock zurückführt. Apropos: Nicht nur in Brüssel stehen einige Hergé-Skulpturen, denen könnte man bei der Gelegenheit auch gleich mal ein neues Schild annageln.
Die Reportage von den Demonstrationen in London (da wäre Haddock gewiss mitgelaufen) ist ebenfalls lesenswert:
“Mit Hunden, Pferden, Kampfmontur und Schlagstöcken versuchte die Polizei in London am Samstag, im Herzen des Regierungsviertels zwischen Trafalgar Square und Parliament Square “patriotische Beschützer*innen britischer Denkmäler“, wie sie sich selbst bezeichneten, von Black-Lives-Matter-Demonstrant*innen zu trennen. Neben den Black-Lives-Matter-Protesten hatten nämlich verschiedene Organisationen, manche davon aus dem extrem rechten Milieu, zur Bewachung von Denkmälern in Westminster aufgerufen.“
Dass auch schwarze Britinnen und Briten die Denkmäler bewachten, Veteraninnen und Veteranen zum Beispiel, beschreibt der Text darüber hinaus ausführlich. Man stritt, man diskutierte, man lotete Grenze zum Thema Deutungshoheit aus – und man half sich: Ein Foto entstand, hier aus der Frankfurter Rundschau, auf dem ein schwarzer Aktivist einen verletzten, weißen, mutmaßlichen Rechtsradikalen wegträgt, um ihn behandeln zu lassen. (Bitte schon mal für das Pressefoto des Jahres vormerken.) Der Diskurs ist eben ebenso wenig zu Ende wie die Demonstrationen selbst. Und Harald Schmidt widmet dem Thema seine Videokolumne bei Spiegel Online.
“Der Schock hielt eine Woche“
Noch mehr Rassismus in einer seiner perfidesten Formen (klar, alle Formen sind perfide, aber so eine ekelhafte Mischung aus Sexismus, Clickbait und vorgeschobener Solidarität hat man nicht alle Tage) findet sich in einem aktuellen Artikel aus der Welt, Überschrift: “Serena war komplett nackt – der Schock hielt eine Woche an“. Im Text geht es um die “sehr schlanke“ und “grazile“ rumänische Tennisspielerin Alexandra Cadantu, die ihrer Kontrahentin Williams unter der Dusche begegnete, und einen “Schock“ erlitt, der dann in “Bewunderung“ umschlug: “Sie war so unglaublich groß und kräftig. Es ist kaum vorstellbar, dass sie sich so gut bewegen kann.“ Das nennt man vergiftete Komplimente, die Welt-Redaktion, die auch für den Clickbait-Titel verantwortlich ist, stellte noch ein “recht freizügiges Bild“ (Welt-Originalzitat) von Williams in goldenem Kleid dazu, und ordnet den gesamten, unsäglich sexistischen Schmu tatsächlich unter “Sport“ ein. Dabei hätte er doch viel besser ins Ressort “misogyner Rassismus“ gepasst.
Altpapierkorb (Folgen einer Halloweenparty, Rassismus in Deutschland, Tod von Rayshard Brooks)
+++ Vielleicht ist die Tatsache, dass diese Meldung aus den traditionell unpolitischen Foodie-Kreisen stammt, in dem Zusammenhang dann doch ein kleines vielversprechendes Zeichen für eine nachhaltige Änderung: Der Chefredakteur des US-amerikanischen “Genuss-Magazins“ (iiih!) “Bon appétit“, das zum Condé -Nast-Verlag gehört, ist wegen Rassismus-Vorwürfen gegangen, schrieb die New York Post. Adam Rapoport hatte anscheinend mit seiner Frau zusammen “brownfaced“ an einer Halloweenparty teilgenommen – und das scheint nur die Spitze des Eisbergs zu sein. Denn im Zuge der Geschichte dümpelte noch viel mehr struktureller Rassismus ans Tageslicht, so wurden anscheinend PoCs in der Redaktion prinzipiell schlechter bezahlt.
+++ Und hier ein Gespräch zum Thema Rassismus in Deutschland aus dem Tagesspiegel. “Es gibt gefährliche rassistische Tendenzen, wie in vielen anderen Ländern auch. Allerdings sollte man nicht alle Menschen hierzulande unter Generalverdacht stellen“, sagt darin der SPD-Abgeordnete Karamba Diaby.
+++ Die Süddeutsche (neben vielen anderen Zeitungen) beschäftigt sich genauer mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen dem Mord an Floyd und dem an Rayshard Brooks, und damit, inwiefern die traditionelle Bewaffnung der US-Gesellschaft zu dem so oft tödlichen Dilemma beiträgt. Ich hätte eh gedacht, dass Polizist*innen prinzipiell lernen, Verdächtigen in die Beine zu schießen, nicht dass das den Gebrauch der Waffe gegenüber einem/einer gar nicht oder weniger Bewaffneten in irgendeiner Art und Weise rechtfertigt – aber war das nicht mal so? Hier ist jedenfalls ein vier Jahre alter Artikel über die Schießausbildung der Polizei aus Nordrhein-Westfalen dazu, nur mal so aus Interesse.
Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.