Teasergrafik Altpapier vom 15. September 2020: Porträt Autorin Jenni Zylka
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Das Altpapier am 15. September 2020 Sprache generiert Canceln

15. September 2020, 10:30 Uhr

Was die Sapir-Whorf-Hypthese mit einem großartigen und verleumdeten Netflix-Film zu tun hat. Ein Altpapier von Jenni Zylka.

  “Sprache-Denken-Wirklichkeit“

Viele glauben ja, Dinge entstünden erst, wenn der Begriff dazu gefunden ist. In der Psycholinguistik nennt man das “Sprache generiert Denken“, und die bekannteste Theorie dazu stammt von Benjamin Whorf (der sympathischerweise eher zufällig zum Linguisten wurde, hier kann man mal kurz in seiner Biografie stöbern): In der “Sapir-Whorf-Hypothese“ versuchte er zu beweisen, dass durch die grammatikalischen und lexikalischen Strukturen die Gedanken der Sprachgruppe, die diese Strukturen benutzt, vorbestimmt sind. Es folgt eine kleine Erklärung, die ich Wikipedia abgeluchst habe, es lohnt sich aber auf jeden Fall, das großartige Buch “Sprache, Denken, Wirklichkeit“ von Benjamin Whorf selbst zu lesen:

“The strong version says that language determines thought and that linguistic categories limit and determine cognitive categories. The weak version says that linguistic categories and usage only influence thought and decisions.“

Cancel Culture bei den Cuties

Und wenn man sich anguckt, wie sich der Begriff “Cancel Culture“ ausgebreitet hat, und vor allem wo er überall Anwendung findet, neige ich dazu, ihm zu glauben. Das neueste Beispiel stammt vom Streamingportal Netflix, und ist über den New Yorker und den Guardian inzwischen in den deutschen Medien angekommen. Der Hintergrund: Die französische Regisseurin Maïmouna Doucouré erzählt in ihrem auf Netflix zugänglichen Erstlingsfilm “Mignonnes“ (der englische Titel lautet “Cuties“ und bedeutet das Gleiche, nämlich “die Süßen“) von der elfjährigen Amy, die mit ihrer muslimischen Familie, der Mutter, und zwei jüngeren Brüdern, in einem Vorort von Paris lebt. Sie stammen aus dem Senegal, und warten auf die Ankunft des Vaters. Zwischen strengen Gebetsstunden, in denen Amy alles über “anzüglich gekleidete“, ergo “böse“ Frauenkörper lernt, also sozusagen den Hass auf den eigenen Leib eingepflanzt bekommt, und der Trauer ihrer Mutter über die Tatsache, dass ihr Ehemann sich eine Zweitfrau genommen hat, und von ihr, der gedemütigten, verletzten Ehefrau nur Freude darüber erwartet wird, entdeckt Amy eine neue Welt. Denn in ihrer Schule gibt es eine Gruppe kleiner, bunt gekleideter, selbstbewusster und freier Mädchen, die für einen Tanzwettbewerb probt. Und Amy, deren Erfahrungen mit der Körperliebe aus dem Anschauen von Twerking-Videos stammt, in denen Tänzerinnen selbstbewusst ihre Hinterteile schwenken, und die beim nächsten Frauengebet darum fasziniert auf die mächtigen, verhüllten Kehrseiten ihrer Gemeindeschwestern schaut, zieht aus den beiden gegenteiligen Informationen die falschen Rückschlüsse: Abgestoßen von der religiös motivierten, misogynen Inbesitznahme der Weiblichkeit beginnt das präpubertäre Mädchen zu glauben, je mehr man seinen Körper liebe, desto aufreizender sollte man ihn präsentieren.

Kinder in Erwachsenenposen

Die Tanzgruppe, die dem Film seinen Namen gibt, verhält sich ebenso rührend harmlos, als Amy danach mit neuen Ideen für Choreografien kommt. Und so schwenken die vier weißen und schwarzen Mädchen die Kinderhintern beim Wettbewerb in knappen Höschen, und simulieren jene Erwachsenenposen, die sie aus den Clips kennen – ohne zu verstehen, welche Botschaft man daraus ableiten könnte. Amy bricht angesichts der verwirrten Reaktion der kopftuchtragenden Zuschauerinnen jedoch verzweifelt auf der Bühne zusammen – im Film ist das der Moment, in dem ihre Mutter für sie eintritt. Beide haben, nach bewährter Coming-of-Age-Manier, eine wichtige Lektion über Selbstermächtigung und Vertrauen gelernt: Dass das nämlich gar nichts mit der Klamotte oder dem Hüftschwenken zu tun hat. Sondern ganz woanders sitzt.

Das mit den verwirrten Reaktion scheint sich jedoch aus der Story auf die Realität ausgebreitet zu haben: Obwohl der großartige Film bereits in mehreren Ländern skandalfrei im Kino lief und zurecht mit Preisen ausgezeichnet wurde, bekamen mehrere Petitionen große Unterstützung, die sich für die Absetzung des Films einsetzen. Den #cancelnetflix haben bis heute über 650 000 Menschen unterschrieben – all das, weil das Netflix-Filmposter ein Bild der Mädchen in ihren Showkostümen und in Pose zeigt. Der Film präsentiere sexualisierte Kinder, schrien konservative Politiker*innen und Journalist*innen auf, in der Folge bekam er eine Latte von schlechten Reviews auf Imdb, die Regisseurin hingegen erreichten Morddrohungen – was anscheinend seit einiger Zeit die übliche Art der Kritik ist

Wie bespricht man einen Film, ohne ihn gesehen zu haben?

Die Süddeutsche bringt das Thema in ihrer Zusammenfassung der Geschichte so auf den Punkt:

“Um den Film zu bewerben, hat Netflix in den USA ein Bild von diesem Auftritt benutzt: die vier Mädchen in ihren extrem knappen Outfits, in aufreizenden Posen. Das war falsch, weil so die Werbung für den Film so das tat, was der Film kritisiert. Netflix hat sich entschuldigt, aber da waren die Rechtskonservativen längst auf Kreuzzug - ohne den Film gesehen zu haben.“

Die einzige Kritik, die man also zu Recht äußern könnte, geht an die Werbeabteilung des Streamingportals. Die FAZ sieht das genauso:

“Kann man sichergehen, dass sich keine Erwachsenen mit pädophilen Neigungen sekundenweise heraussuchen, was sie suchen? Nein. Bei Netflix hat dieser Film das ganz große Publikum. Liefe er in Programmkinos, sähe das anders aus. Doch das ist ein Problem des Publikationskontexts, nicht des Films an sich.“

Auch der Spiegel zieht den gleichen Schluss aus dem angeblichen Skandal um “Mignonnes“:

“Am Donnerstag war "#CancelNetflix" auf Platz Eins der trending topics auf Twitter in den USA. Doch man muss "Mignonnes" schon mutwillig falsch interpretieren, um zu dem Schluss gelangen zu können, er beute Kinder sexuell aus.“

Mit grimmiger Hoffnung halte ich mich zumindest an der Möglichkeit fest, dass der wunderbare Film von der Geschichte profitiert. Und ärgere mich darüber, wie stark der Wille zur “mutwillig falschen Interpretation“ ist – denn das zeigt, wie sehr der eingangs erwähnte kluge Mister Whorf Recht hat: Die Kritiker*innen schieben nur die Worte vor sich her, türmen sie zu empörten und hasserfüllten Gebilden auf. Gesehen haben sie den Film nicht, die Bilder, die von Unterdrückung, Selbstbewusstsein, und von der Frauenfeindlichkeit von Religionen erzählen, kennen sie nicht. Dabei ist das für das Verständnis elementar.

Altpapierkorb ("Der große Moria-Irrtum", Belarus-Korrespondent im Interview, Wirecard-Dokumentation auf sky)

+++ Die ARD stellt einen Bericht über Moria ganz oben auf ihre Homepage, und betitelt ihn, vielleicht mit einem klitzekleinen Gedanken an clickbait, mit “Der große Moria-Irrtum“. Der besteht, so der Korrespondent, in Folgendem:

“Moria war nämlich nicht das einzige Elendslager in Griechenland. Auf den Inseln Samos, Chios, Kos und Leros drängen sich ebenfalls Tausende Flüchtlinge in überfüllten Lagern, auch dort hausen viele unter Plastikplanen oder selbst gezimmerten Hütten aus Holzpaletten. Die Regierung befürchtet, auch dort könnten verzweifelte oder radikalisierte Lagerbewohner Feuer legen, wenn das Beispiel Moria Schule machen würde. Um genau das zu verhindern, wird die griechische Regierung keinen einzigen Flüchtling aus Moria ausreisen lassen. So wird Deutschland aus Moria auch keinen einzigen Flüchtling aufnehmen können.“

+++ Die Süddeutsche hat den ARD-Korrespondenten Jo Angerer zu seinen Erfahrungen in Minsk interviewt, alles in allem ein recht launiges Gespräch.

+++ Und der Spiegel berichtet über die Pläne von Sky, den Wirecard-Skandal in einen Dokumentarfilm zu packen – eine geplante Kooperation zwischen dem Pay-TV-Sender und dem RBB, was noch recht neu im Fernsehbereich ist. Interessanterweise plane Sky ebenfalls eine fiktionale Miniserie zum Thema, diese wiederum soll aber dem Bezahlsender vorbehalten sein. Das Ganze, schreibt der Spiegel, zeigt,

“wie Pay-TV-Sender und Streamingplattformen internationaler Medienkonzerne hierzulande mit viel Geld in öffentlich-rechtliches Hoheitsgebiet vordringen.“

Und ebendieses Hoheitsgebiet wird sich somit warm anziehen müssen.

Neues Altpapier gibt es am Dienstag.

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