Teasergrafik Altpapier vom 9. November 2020: Porträt Autorin Jenni Zylka
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Das Altpapier am 9. November 2020 Habemus Praesidem

09. November 2020, 09:06 Uhr

Gefühle, Gefühle, Gefühle. Und immer an die Leser denken: Medien nach der US-Wahl zwischen Aufregung und Beruhigung. Ein Altpapier von Jenni Zylka.

Es geht eine Träne auf Reisen

Ist der Spuk nun vorüber, oder doch noch nicht?  Die FAZ sagt hier nein, und weist auf die Unvereinbarkeit der Lager hin. Aber auf den Straßen der US-amerikanischen Städte atmen die Menschen nicht nur auf, sondern rufen dazu "We can breathe again!" (ZDF-heute am 8.11.), und auch der CNN-Kommentator Van Jones, dessen Live-Tränen bei der Reaktion auf den Sieg Joe Bidens ihn in sämtliche internationalen Nachrichten brachten, verbindet den Mord an George Floyd mit dem Wahlausgang, dokumentiert die New York Times hörbar angefasst:

"The election of Joseph R. Biden Jr. elicited powerful reactions across the nation but few are resonating as deeply as the emotional on-air response to President Trump’s defeat by the CNN contributor Van Jones — who invoked George Floyd’s dying words in expressing his sense of relief and vindication. "‘I can’t breathe’ — that wasn’t just George Floyd, that was a lot of people who felt they couldn’t breathe,” said Mr. Jones, a former Obama administration official, breaking down in tears moments after the network called the race for Mr. Biden."

Dabei hatte Van Jones, so erinnert nicht nur die Süddeutsche hier, sich vor einer Weile noch recht positiv über Teile von Trumps Politik geäußert, und die Trump-Wähler*innen in einem Interview mit dem New York Times Magazine sogar mit den Aktiven der Black Lives Matter-Bewegung verglichen:

"Ich habe viel Empathie für die Donald Trump-Wähler. Wenn Sie ihnen zuhören, wie verletzt, verängstigt und zurückgelassen sie sich fühlen, klingen sie wie die Black-Lives-Matter-Aktivisten."

Life is live

Aber Verständnis, auch für politische Gegner*innen, macht die nachvollziehbaren  Sentimente nicht kleiner, sondern größer. Man ist schließlich kollektiv ausgelaugt und weichgekocht – nicht nur von den vier Jahren Trump, sondern jetzt auch noch von tagelanger monothematischer Berichterstattung, Zahlenrasseln und Bundesstaatenvergleich, "Spezials" und "Sondersendungen", "Breaking News" und jenen ominösen "Key Race Alerts" , die der Spiegel hier als "Verrücktmachmaschine" bespöttelt und fragt, wieso man das Ergebnis nicht schlichtweg nur nach Ende der Auszählungen berichten könnte:

Was würde man verlieren? Es wäre nicht undemokratischer oder intransparenter. Die Live-Berichterstattung des Zählens suggeriert Transparenz, liefert aber keine. Auch CNN hat keinen Zugang zu den Stimmzetteln. Ob die Ergebnisse Stück für Stück oder gesammelt am Ende angegeben werden, ändert daran nichts. Und was das Herunterbrechen der Stimmen auf einzelne Countys angeht, um daraus interessante Schlüsse zu ziehen – das wäre auch im Nachhinein möglich. Die Daten an sich ändern sich ja nicht. Das ist natürlich utopisch, die Werbeeinnahmen sind viel zu hoch, das Spektakel viel zu gut, um es abzuschaffen. Die Verrücktmachmaschine läuft auf Hochtouren, weil wir längst süchtig nach ihr sind.

Genau, es entspricht weder der menschlichen Natur noch dem Finanzierungsmodell der US-Medien. Wir wollen Live is life, na naa na ne na (obwohl ich nie verstanden habe, wieso es nicht "Life is live" heißt... aber besser nicht anfangen mit dem Kack, der schlimme Song bleibt sonst im Ohr). Live bedeutet eben Rundfunk – die einen zählen die Votes, die anderen die Quoten. Man darf, apropos live, nicht vergessen: Im Vatikan gibt es mittlerweile eine App, mit der sich bei den Papstwahlen LIVE die Schornsteine beobachten lassen, das werde ich beim nächsten Mal machen, und wenn die Spannung nicht mehr auszuhalten ist, schalte ich LIVE hier hin: Zur "centennial bulb", der seit 1901 ununterbrochen brennenden Glühbirne der Welt, die eine eigene Webcam hat. Nimm das, Osram.

Golfen und Joggen

Der Spiegel meldete am Sonntag um 17:26 Uhr übrigens auch, dass die Trump-Figur im Londoner Madame Tussauds bereits zum Golfer umgestaltet wurde, vermutlich angeregt durch die ominösen Golffluchten, bei denen der designierte Ex-Präsident an jenem Tag gesichtet wurde (anstatt wie sonst bei ihm üblich seine wachen Tagesstunden in Versalien durchzutwittern):

Mit lavendelfarbigem Shirt und grimmigem Gesichtsausdruck steht die Figur nun neben einer großen Golftasche, auf der roten Mütze steht "Trump 2020 - Make America Great".

Neben diesem Döneken klingen die Restmeldungen auch gleich ein bisschen ulkiger – wer weiß, vielleicht war das Absicht.

Ganz anders werden Jogging Pants in der taz gesehen. Der Kommentator analysiert die Symbolkraft der Kamala Harris, die ihr "We did it Joe" in Sportkleidung nach dem Joggen ins Handy triumphierte:

Joggen ist in den USA vorzuzugsweise der Sport der effizienten Leistungsmenschen aus Kalifornien oder New York City.

Die taz attestiert Harris, neben der unzweifelhaften, notwendigen und relevanten Signalwirkung der kompetenten, nicht-weißen Frau in diesem Amt, einen

"auf Selbstoptimierung getrimmten Habitus und eine auf persönlichen Ehrgeiz fixierte Programmatik – "Dream with ambition!" appellierte sie in ihrer Siegesrede am Samstag an junge Frauen."

Und als Kritik, die auch die NZZ in einem Text hier formuliert, notiert die taz weiter:

Als Generalstaatsanwältin von Kalifornien und Bezirksstaatsanwältin von San Francisco verfocht sie eine harte Linie bei der Verfolgung kleiner Vergehen. Eltern von notorischen Schulschwänzern – überproportional Schwarze – machte sie mit strafrechtlichen Drohungen Druck. Kamala Harris hat die Chance, als progressive Vizepräsidentin und Antreiberin des Präsidenten in die Geschichte einzugehen. Dafür ist aber eine Agenda nötig, die die strukturellen Ursachen der fatalen Ungleichheit im Land tatsächlich angeht und nicht nur den uramerikanischen, aber längst unrealistischen Traum, dass es jeder schaffen könne, der sich an die Regeln hält, nacherzählt.

Es gibt weder Plan noch Planet B

Und damit wären wir wieder beim eigentlichen Spuk-Problem. Das ist wohl eben doch noch lange nicht vorbei, es beginnt erst – die Republikanische Partei muss sich schleunigst irgendwie zu ihrem abgewählten Oberhaupt stellen, analysiert unter anderem hier der Tagesspiegel, damit sie nicht zerbricht.

Überhaupt: Die bröckelnden Beziehungen zu anderen Ländern und Kontinenten zu kitten, die Schulden abzubauen, und vor allem innenpolitisch Frieden und Vertrauen zu schaffen - Puh. Es gilt, 70 Millionen wütende und enttäuschte Menschen zu befrieden und aufmuntern – 70 Millionen, von denen nicht wenige QAnon-Anhänger*innen und bereit sind, den vermeintlichem "Plan" auch mit Hilfe von Gewalt auszuführen. Hier äußert im RBB ein Experte für "Verschwörungsideologische Internetforen" von der Amadeu-Antonio-Stiftung seine Bedenken:

"Deren großes Motto ist "trust the plan", vertraut auf den Plan. Trump hat alles in der Hand. Was wir jetzt sehen ist, wie die Menschen daran zweifeln, dass es vielleicht doch nicht alles so klappt"

Und aus "trust the plan" würde dann schnell "be the plan". Das Wort "Plan" fiel in den deutschen Medien übrigens auch immer wieder im Zusammenhang mit einem Wahlgewinn Trumps: Es hätte in diesem Fall keinen Plan B gegeben, weder für Deutschland, noch für Europa hieß es. Laut "Gala" hat überhaupt nur eine einzige Person einen "Plan B in der Tasche": Melania. Die will nämlich angeblich bald eine Model-Agentur eröffnen.


Altpapierkorb (...mit Jan Böhmermanns neuer Show, Spy Cams bei einem ZDF-Produzenten und hingehaltenen Sportstudio-Fans)

+++ Bitte, her mit den anderen Themen! Der Spiegel setzt sich kritisch mit Jan Böhmermanns neuer ZDF Show auseinander, und bescheinigt ihm "riskanten Relativismus", weil er einen "sonderbaren Twist" von "Illuminati-Geraune" zu "Generalkritik an Deutschlands Superreichen" hinlege. Die taz fand’s hier dagegen gelungen: "Botschaft und Haltung".

+++ Der Spiegel und die FAZ schreiben über den Fall einer Produktionsfirma und hundertprozentigen ZDF-Tochter, deren Geschäftsführer unter Verdacht steht, Mitarbeiterinnen mit so genannten "Spy Cams" heimlich gefilmt zu haben. Neben der möglichen Straftat selbst ist der medienpolitisch fragwürdige Aspekt, dass das ZDF mit dem Hintergrund für die Trennung von der Produktionsfirma so lange hinter dem Berg hielt  - dwdl berichtete hier bereits im Sommer darüber.

+++ Und ganz still und heimlich wandelt sich vielleicht ein alter Streit zu einem möglichen Mediendiskurs: Wegen Überlänge einer Kerner-Quizshow und der klitzekleinen Geschichte in den USA (s.o.), kam das Sportstudio am Samstagabend erst kurz vor Mitternacht. Der Tagesspiegel vergleicht hier Zahlen und Quoten, zitiert empörte Sportfans-Tweets und könnte ruhig noch etwas spitzer werden. Denn es gibt doch nichts Schöneres als die Frage, was mehr zum Bildungsauftrag gehört: Eine Samstagabend-Unterhaltungs-Quizshow oder Fußballspiele.

Neues Altpapier gibt es am Dienstag.

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