Teasergrafik Altpapier vom 16. März 2022: Porträt der Altpapier-Autorin Annika Schneider
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Das Altpapier am 16. März 2022 Viel Applaus für die "Heldin der Wahrheit"

16. März 2022, 10:15 Uhr

Die Protestaktion einer russischen TV-Journalistin wird von vielen gefeiert und von wenigen hinterfragt. Währenddessen drohen Reporterinnen und Reporter in der Ukraine zur Zielscheibe zu werden. Ein Altpapier von Annika Schneider.

Von einer frisch gekürten Heldin…

Die russische Journalistin Marina Owsjannikowa hat es mit ihrem nur wenige Sekunden langen Auftritt im russischen Staatsfernsehen (und einem Begleitvideo in sozialen Medien) gleich auf mehrere deutsche Titelseiten (Tagesspiegel, FAZ) und in die 20-Uhr-Ausgabe der gestrigen "Tagesschau" geschafft.

Das liegt nicht nur daran, dass ihr Protest gegen den Krieg, mit dem sie Russlands wichtigste Nachrichtensendung störte, unbestritten mutig war – zur "Heldin der Wahrheit" kürte sie die FAZ. Die große Reichweite erzielte sie auch deshalb, weil ihre Aktion sich geradezu idealtypisch in die Funktionslogik der Nachrichtenmedien einfügt: Sie bietet eine konkrete Protagonistin, lässt sich in einem Foto erzählen und folgt dem uralten Erzählmuster "David gegen Goliath".

Hinzu kommt: Im Horror des fortschreitenden Krieges mit immer neuen Schreckensmeldungen bleiben nur wenige Gründe, auf ein schnelles Ende zu hoffen. Eine immer wieder artikulierte Hoffnung lautet, dass das russische Volk den Verbrechen Putins ein Ende setzen könnte. Die Protestaktion im Staatsfernsehen scheint da wie ein Strohhalm, nach dem wir allzu gerne greifen: Ist das nun endlich der Funke, den es braucht, um Massenproteste zu entfachen?

Das Online-Portal "Republic" hat mit einem Mitarbeiter bei einem anderen russischen Staatssender, der Medienholding WGTRK, gesprochen und protokolliert seine Reaktion folgendermaßen (Dekoder hat dankenswerterweise eine automatische Google-Übersetzung verlinkt):

"Ich bin bei der Arbeit angekommen, der Chefredakteur kommt auf mich zu und sagt: 'Haben Sie gesehen?' und zeigt ein Video mit Ovsyannikova. In diesem Moment begannen alle um ihn herum zu schauen. Alle waren natürlich verblüfft und bewunderten gleichzeitig ihren Mut. Überwiegend positives Feedback. Sie sagten: 'Was für eine mutige Tat, gut gemachtes Mädchen, hat alles gegeben!'"

…den Folgen ihres Protestes…

Welche Auswirkungen die Aktion in Russland über Journalistenkreise hinaus hat, darüber gehen die Meinungen allerdings auseinander – sogar innerhalb der "FAZ".

"Der Auftritt im russischen Staatsfernsehen dauert nur Sekunden, die Wirkung dürfte erschütternd sein",

schreibt dort Sandra Kegel, während ihr Kollege Berthold Kohler zu einem ganz anderen Schluss kommt:

"Es müssten viele so mutig sein wie Marina Owsjannikowa, um Sichtweisen zu ändern, die Putin und seine Helfer den Russen jahrzehntelang einbläuten."

In den meisten Redaktionen steht die Einordnung der Aktion in einen größeren Kontext ohnehin nicht an erster Stelle. Stattdessen werden der Auftritt und das Video sekundengenau beschrieben, bis hin zu den Farben der symbolträchtigen Halskette. Hinzu kommen tiefere Recherchen zur Person der Journalistin mit Beschreibungen ihrer Urlaubs- und Hundefotos auf Facebook und (nicht gesicherten) Angaben zu Alter und Geburtstort. Auch dass die eigentliche Moderatorin der Nachrichtensendung später auf Instagram schrieb, sie sei während der Aktion "still wie ein Felsen" geblieben, ist an verschiedenen Stellen dokumentiert.

Der "Guardian" hat eine Person aus Owsjannikowas Umfeld interviewt und Folgendes zu Tage gefördert:

"The anger has been building up with her ever since the war started,” said a friend of Ovsyannikova’s, who asked to stay anonymous. "Two days ago, she told me how she was going to do it.”

…den Zweifeln daran…

Das klingt banal, trägt aber immerhin dazu bei, den Vorfall besser einschätzen zu können. Denn bislang scheint Marina Owsjannikowa politisch nicht in Aktion getreten zu sein. Die gesunde journalistische Skepsis gebietet es folgendermaßen, die Geschichte nicht ungeprüft abzuhaken, mag sie auch noch so schön zu erzählen sein.

Eher zurückhaltend in ihrer Bewertung war beispielsweise die in Kiew geborene Publizistin Marina Weisband. Sie habe zu wenige Informationen, twitterte sie auf eine Nachfrage – und warnte davor, den russischen Widerstand an einzelnen Personen wie Marina Owsjannikowa festzumachen.

Im "Tagesspiegel" (€) ist zu lesen:

"Einige zweifelten an der Authentizität der Aktion: Der ukrainische Abgeordnete Roman Hryshchuk mutmaßte auf Twitter, dass der Protest die öffentliche Meinung in westlichen Ländern beeinflussen sollte, um die Sanktionen gegen Russland zu mildern. Auch der russische Journalist Stanislaw Kucher merkte an, man müsse mit der Bewertung abwarten, da man die ganze Geschichte hinter der ‚Inszenierung‘ der protestierenden Redakteurin nicht kenne."

Die "FAZ" erwähnt ebenfalls Vermutungen, dass es sich um "eine Inszenierung des einschlägig berüchtigten Staatsfernsehens" handeln könnte. Argumente dafür finden sich in einem Twitter-Thread des erwähnten ukrainischen Abgeordneten.

Deutschlandfunk-Korrespondent Florian Kellermann, der derzeit aus Warschau über Russland berichtet, brachte gestern im Dlf-Podcast "Der Tag", dessen Aufmacherthema die Protestaktion war, noch eine andere Variante ins Spiel. Er wies darauf hin, dass Owsjannikowa ihr Video-Statement möglicherweise von einer Art Teleprompter abgelesen habe und ausschließlich Wladimir Putin die Schuld für den Krieg zuweise.

"Das könnte darauf hinweisen, dass es im Kreml Unterstützer gibt von ihr, die auch wollen, dass der Krieg aufhört und die gegen Putin agieren – und dass sie eben nicht alleine ist mit diesem Protest. […] Kremlkritische Publizisten, Politologen diskutieren genau das, ob dahinter nicht mehr steckt."

Ein paar Recherche-Hausaufgaben harren in den kommenden Tagen also noch der Erledigung. Dass man schon gestern wesentlich mehr tun konnte, als Videoclips nachzuerzählen, zeigte eine Insta-Story des NDR-Journalisten und ehemaligen "Zapp"-Autoren Daniel Anibal Bröckerhoff. Er kommt zu dem vorsichtigen Schluss, dass die Aktion kein Fake war – unter anderem, weil Owsjannikowa von anderen Putin-Gegnern unterstützt werde, darunter Mitarbeiter von Oppositionspolitiker Alexej Nawalny und ein einschlägiger Anwalt. Bröckerhoff schreibt:

"Dass sowohl ein Menschenrechtsanwalt als auch das Team Nawalny auf einen Stunt der russischen Regierung reinfällt, ist relativ unwahrscheinlich."

Ein ausführlicheres Hintergrundstück mit Infos zu der Journalistin findet sich auf Englisch bei Meduza. Ein russischer Journalist beschreibt die Situation im Fernsehstudio dort folgendermaßen:

"Everybody knows each other, and bringing in a poster folded up four times and then unfolding it and standing behind the news anchor isn’t rocket science.”

Inzwischen ist die Journalistin zu einer ersten Geldstrafe verurteilt worden, weitere Konsequenzen könnten folgen. In einem Text über mangelnden Heldenmut in Deutschland mutmaßt Ariane Bemmer im "Tagesspiegel":

"Vielleicht erging deshalb ein erstes, mildes Urteil gegen Owsjannikowa. Man wollte sie nicht zu groß werden lassen."

Eine mediale Ikone ist die Journalistin aber jetzt schon. Nicht nur wegen der Resonanz auf der medialen und politischen Bühne (Selenskyjs Dank, Macrons Hilfsangebot), sondern auch, weil das Foto von ihrem Protest in seiner Eingängigkeit die sozialen Netzwerke geflutet hat und wahrscheinlich in kürzester Zeit zum Meme wird (wenn es das nicht schon geworden ist).

…und anderen Helden…

Das große Interesse für den Fall geht – wie immer bei solchen Aufmerksamkeitsspitzen – zu Lasten anderer, mindestens ebenso wichtiger Themen (auch in dieser Kolumne, wie ich selbstkritisch anmerken muss). Die taz räumt dem TV-Protest relativ wenig Platz ein, spricht aber mit Christopher Resch von Reporter ohne Grenzen über die aktuelle Lage für Journalistinnen und Journalisten in der Ukraine.

Nachdem Berichterstattende in mehreren Fällen unter direkten Beschuss geraten sind, steht die Frage im Raum, ob sie gezielt getötet oder zumindest eingeschüchtert werden sollen. "Bild"-Reporter Paul Ronzheimer, der aus Kiew berichtet, hatte sich dazu im Interview mit mir für @mediasres zurückhaltend geäußert, Resch findet nun klare Worte:

"Der Krieg ist auch ein Kampf um Informationen. Journalist:innen müssen deshalb damit rechnen, als Teil einer Seite betrachtet zu werden. Wenn eine Kriegspartei der Ansicht ist, dass ein:e Journalist:in auf der gegnerischen Seite steht, dann wird sie in deren Logik zum Ziel. Das ist dann die Rechtfertigung dafür, Medienschaffende anzugreifen. Obwohl das nach der Genfer Konvention als Kriegsverbrechen gilt. Die Zahl der verletzten und getöteten Kolleg:innen steigt aktuell. Das geschieht auch bewusst."

Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentrierte sich zuletzt vor allem auf den am Sonntag erschossenen US-Filmemacher Brent Renaud. Laut der Menschenrechtsbeauftragten des ukrainischen Parlaments sind seit der Invasion auch zwei ukrainische Reporter ums Leben gekommen, wie die FAZ mit Berufung auf die dpa schreibt:

"'Die russischen Besatzer kämpfen gegen eine objektive Berichterstattung ihrer Kriegsverbrechen in der Ukraine, sie töten und beschießen Journalisten', behauptete [die Menschenrechtsbeauftragte] Denisowa. Auch auf ausländische Reporter sei gezielt gefeuert worden."

Am Montag sind nun zwei weitere Tote hinzugekommen: Eine Journalistin und ein Kameramann des Senders "Fox News" wurden erschossen, wie das RND berichtet.

Leid lässt sich nicht vergleichen und ich zolle dem Mut von Marina Owsjannikowa großen Respekt. Aber vor dem Hintergrund der immer dramatischeren Situation für alle Zivilistinnen und Zivilisten in der Ukraine mutete es etwas unausgewogen an, als die "Tagesschau" sie gestern im Blitzlichtgewitter zeigte, wie sie Folgendes sagt:

"Das waren wirklich harte Tage in meinem Leben, weil ich quasi zwei Tage ohne Schlaf verbracht habe. Sie haben mich über 14 Stunden lang verhört und ich durfte niemanden kontaktieren."

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der Journalistin viele Jahre Gefängnis drohen, wenn sie nach dem neuen russischen Mediengesetz verurteilt werden sollte.

…zu ganz grundsätzlicher Medienkritik

Über diese Berichterstattung über die aktuelle Situation hinaus wird medial auch noch einmal aufzuarbeiten sein, ob es Redaktionen vor der Invasion versäumt haben, Putins Pläne richtig einzuschätzen. In einem lesenswerten taz-Text zieht die Schriftstellerin Jagoda Marinić in der taz ein bitteres Fazit, wobei sie nicht nur, aber auch Medien kritisiert:

"Vier Talkshows bieten uns die Öffentlich-Rechtlichen regelmäßig, alle haben fast zwei Jahre lange ausschließlich die pandemische Lage beackert. Natürlich kann man sagen, das lag an der historischen Herausforderung, es lag aber auch daran, dass es der deutschen politischen Diskurskultur entspricht, das Klein-Klein aufzublasen, so zu tun, als verstehe man in den Redaktionen den armen Michel oder die Luise in Bottrop; ich weiß nicht, wie man diese Kunstfiguren des mittelmäßigen Verstehens im Journalismus sonst noch nennt. Diese Vorstellung, dass die Bürgerinnen und Bürger im Durchschnitt eben nicht in der Lage wären, strukturelle Fragen in den Blick zu nehmen, Verbindungen zu ziehen und so nach Schaltstellen zu suchen, an denen man Größeres bewegen könnte. Dieses beharrliche Unterschätzen der demokratischen Öffentlichkeit, tausend Nostalgiesendungen wurden in den letzten zwei Jahren produziert, man will uns ja Ablenkung schenken, daher auch die Behauptung: Der erneute Angriff auf die Ukraine kam "plötzlich" und "unerwartet". Wer hätte das ahnen können, fragen jetzt einige, als müsste man sich freisprechen. […] All das, was Putin jetzt tut, kam mit Ansage."

Sie fordert mehr kritische Einordnung, mehr Themenvielfalt, mehr Komplexität und neue Talkshow-Formate, die gesellschaftliche Debatten abbilden, ohne dass Politiker dazu eingeladen werden (was zum Beispiel beim ZDF-Format "13 Fragen" schon ganz gut gelingt, wie ich bei Übermedien letztens beschrieben habe).


Altpapierkorb (... über Daten- und Virenschutz)

+++ Bei Netzpolitik.org fordern ein Datenschutzbeauftragter und eine Referentin für Datenschutz, dass Behörden keine sozialen Medien mehr nutzen: "Wichtige Informationen – sei es von der Polizei, einem Ministerium, dem Rathaus oder einer Bildungseinrichtung – sollten, nein: dürfen nicht über diese gemeinschaftsschädlichen und freiheitsgefährenden Plattformen gesendet werden. Auf diese Weise zwingen sie ihre Bürger, denen zu dienen sie bestimmt sind, auf die Verwertungs- und Manipulationsplattformen der Platzhirsche."

+++ Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik warnt davor, den Virenschutz des russischen Anbieters Kapersky weiter zu nutzen – nachzulesen unter anderem bei der "Tagesschau".

Neues Altpapier gibt’s wieder am Donnerstag.

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