Altpapier vom 2. Mai 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier am 2. Mai 2022 Musk, aber mit Habermas

02. Mai 2022, 09:30 Uhr

In der Diskussion über Elon Musks Twitterübernahme wird nun vor allem der Machtaspekt herausgearbeitet: Was, wenn er die Algorithmen nach eigenen Vorstellungen ändert? Und Jürgen Habermas deutet die Zustimmung zur Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine als medial gelernten Affekt. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Doppeltes Wochenende

"Elon Musk möchte Twitter übernehmen. Das rückt in den Fokus, welche Herausforderung wir mit den sozialen Medien bewältigen müssen." So lautet die Unterzeile eines Texts des Informatikers Albrecht Schmidt von der LMU München im Unternehmensressort der heutigen "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Er schreibt:

"Auf der Kurznachrichtenplattform tauschen sich Millionen Menschen rund um den Globus permanent aus – und dies über nahezu alles: Weltpolitik, Tratsch, Lifestyle, neue Serien, Debatten. Über solche 'sozialen' Medien nehmen unzählige Menschen inzwischen das Weltgeschehen wahr, was sie dort lesen und sehen, kann sie glücklich oder traurig machen, beeinflusst, was sie denken und fühlen. (…) Wie Einzelne zum Beispiel den Krieg in der Ukraine oder die aktuelle Corona-Situation in Deutschland oder China wahrnehmen, das basiert auf medialer Information, die Wenigsten können sich ja (vor Ort) ein echtes eigenes Bild machen."

Schmidt meint, "(w)er die Informationen kontrolliert, die Menschen sehen, kann also auf ganz reale Weise Einfluss nehmen auf deren Leben, ultimativ auch darauf, was sie tun. Gemessen daran ist gut möglich, dass Elon Musk Twitter zu einem Schnäppchenpreis bekommt."

Wir sind also nun schon wieder mitten drin im Medienthema der vergangenen Woche, das auch eines dieser Woche bleiben dürfte. Es gibt ja diese Wochenenden, an denen die vorangegangene Woche in den Zeitungen noch einmal umfänglich nachbereitet wird, weil freitags nichts denkstückwertes Neues mehr passiert, worum man sich als Redaktion vorrangig kümmern müsste. Und es gibt Wochenenden, an denen vornehmlich die Diskussionen der Folgewoche beginnen. Hinter und liegt in diesem Sinn ein Wochenende mit Doppeljob.

Der Machtaspekt bei Musk

Zum einen gingen die Diskussionen über Twitter und die angekündigte Übernahme durch Elon Musk (die nach wie vor nur angekündigt und nicht vollzogen ist) weiter, und dabei wurde vor allem der Machtaspekt herausgearbeitet, mit dem die Milliardärsübernahme einer medialen Infrastruktur/eines Mediums verbunden ist.

In der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" betrachtet etwa der ehemalige Piratenabgeordnete Christopher Lauer eine Twitter-Übernahme durch Musk als "Katastrophe" (denn "jeder kann sich seine Timeline von einem Algorithmus kuratieren lassen. Somit bestimmt Twitter, wie man die Welt wahrnimmt, indem es einem bestimmte Tweets zeigt und andere vorenthält").

Und im "Spiegel" stoßen Alexander Demling und Marcel Rosenbach zu ähnlichen Fragen vor, wie sie Albrecht Schmidt aufwirft:

"Es ist vielsagend, wer Musks Versprechen nun bejubelt und die Übernahme feiert – es sind vor allem rechtskonservative und libertäre Kreise. (…) Trump-Fans setzen darauf, dass Musk als Alleineigentümer den Account des Ex-Präsidenten wieder zulässt, der wegen Anstiftung zur Gewalt im Januar 2021 gesperrt wurde. Egal wie Musk entscheidet, er greift damit in bevorstehende US-Wahlkämpfe ein. Und was, wenn er sich für die privaten, bislang unverschlüsselten Direktnachrichten von Politikern, Vertretern von Aufsichtsbehörden oder die seiner vielen Wettbewerber interessiert? Oder deren Aufenthaltsorte, die die Twitter-App abfragt? Was, wenn er die Algorithmen nach seinen Interessen und Vorstellungen 'optimieren' lässt? Die Möglichkeiten für Missbrauch sind enorm, das haben die Datenskandale der vergangenen Jahre gezeigt."

Zu erwähnen wäre zudem Michael Seemanns Aufmachertext in der "taz am wochenende", in dem er eine der Fragen stellt und sich eine Vermutung erlaubt:

"Musk hat nun die Chance, seine Hingabe zur Redefreiheit unter Beweis zu stellen. Bedeutet es die Rückkehr von Donald Trump, Alex Jones und anderer Hetzer, Lügner und Verschwörungstheoretiker unter einem Anything-goes-Regime? Oder will er Wege finden, wie seine Kritiker*innen sich wieder trauen, über ihn zu schreiben? Ich fürchte, wir kennen die Antwort."

Falls jemand aus Versehen nicht jeden der bisher erschienenen 44 Milliarden Musk-Texte gelesen haben sollte: Ich fürchte ja, Seemann meint ersteres.

Habermas’ Essay und ein Offener Brief

Noch mehr redaktionelle Energie dürfte allerdings in eine andere Debatte geflossen sein, die zwar nichts mit Musk und Twitter zu tun hat, aber es geht auch dabei um den Strukturwandel der Öffentlichkeit und Fragen, wie sich mediale Machtverhältnisse in Mentalität und Meinungsbildung übersetzen können.

Ausgelöst wurde diese Debatte, die "große Wellen" schlägt (Perlentaucher) durch einen Offenen Brief an den Bundeskanzler auf emma.de und, vor allem, einen Essay des Philosophen Jürgen Habermas aus der "Süddeutschen Zeitung" vom Freitag, in dem er schreibt, ihn irritiere "die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundesregierung auftreten".

Nachrichtlich gesehen geht es um die Lieferung weiterer schwerer Waffen an die Ukraine. Davor warnen in dem Offenen Brief Alice Schwarzer und 27 weitere Personen der Zeitgeschichte, darunter Andreas Dresen, Ranga Yogeshwar, Gerhard Polt, Dieter Nuhr, Reinhard Mey, Svenja Flaßpöhler, Harald Welzer, Teile der Walser-Familie und Alexander Kluge. Vor einer Kriegsbeteiligung warnt in der "SZ" auch Habermas: "Ich sehe keine überzeugende Rechtfertigung für die Forderung nach einer Politik, die – im peinigenden, immer unerträglicher werdenden Anblick der täglich qualvolleren Opfer – den gleichwohl gut begründeten Entschluss der Nichtbeteiligung an diesem Krieg de facto aufs Spiel setzt."

Es geht allerdings auch um Affekte, wie Kurt Kister am Samstag in der "Süddeutschen Zeitung" schrieb, und die "öffentliche Meinungsproduktion", wie es Mark Siemons in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" nannte.

"Tatsächlich fällt beim übergangslosen Wechsel der öffentlichen Meinungsproduktion in die militärische Sphäre eine Leerstelle auf", schreibt Siemons. "Natürlich geben all die Politiker, Twitterer und Talkshowmoderatoren, die jetzt zu Panzerhaubitzen, Artilleriesystemen und anderem 'schweren Material' so starke Meinungen vertreten wie eben noch zu Klima oder Corona, nicht vor, über Nacht zu geopolitischen und militärischen Experten geworden zu sein. Den Boden ihrer Entschiedenheit bildet vielmehr die moralische Evidenz, die der Angriffskrieg selbst und Bilder wie aus Butscha oder dem zerstörten Mariupol liefern."

Man kann darüber streiten, ob das so ist (und es wird gestritten): dass es in Deutschland eine öffentliche, aber nicht mit ausreichender Tiefenkenntnis reflektierte Stimmung für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine gibt, weil die Bilder aus dem Krieg eine klare moralische Positionierung verlangen.

Der erwähnte Offene Brief gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine deutet das in einigem Eiern an. Der Schauspieler Edgar Selge begründet den Brief, den auch er unterzeichnet hat, in einem "Tagesspiegel"-Interview wie folgt:

"Ich finde, jetzt ist der richtige Zeitpunkt für diesen Offenen Brief, weil es im Moment eine Eskalation in der Rhetorik gibt in der öffentlichen Diskussion, die beendet werden muss. Wir fokussieren uns hier unausgesetzt auf Waffenlieferungen statt auf Waffenstillstand. Die Folge wird sein, dass die zivilen Opfer in der Ukraine durch diese neuen Lieferungen schwerer Waffen ein Maß erreichen werden, [das] mit keiner politischen Moral mehr zu rechtfertigen ist."

Der Offene Brief hat einiges an Reaktion verursacht, nicht nur, aber vor allem an ablehnender Reaktion. Um drei Stimmen zu zitieren: "Es geht nur darum, sich im besorgten Modus des Einmischens möglichst herauszuhalten", schimpfte der Soziologe Armin Nassehi. Nils Minkmar schreibt in seinem Newsletter: "Abscheu vor Waffen, Friedensbewegung – das sind tolle Errungenschaften der Bundesrepublik im Hinblick auf die deutsche Geschichte und die lange Tradition des deutschen Militarismus. Nur sind sie im Fall der Ukraine nicht anwendbar"; "intellektuelle Dosenwurst" nennt er den Offenen Brief. Eine dritte Meinung, eine ausführliche Antwort, stammt von Wolfgang Müller und wurde u.a. bei spiegel.de veröffentlicht.

Viele weitere Stimmen, auch die üblichen matschbananenen Wenn-xy-einen-Offenen-Brief-unterzeichnet-kann-er-ja-nur-richtig-dumm-sein-Stimmen, findet man bei Twitter unter #OffenerBrief.

Habermas sieht ein "selbstverstärkendes Echo"

Zurück zu Mark Siemons Formulierung aus der "FAS", es gebe "beim übergangslosen Wechsel der öffentlichen Meinungsproduktion in die militärische Sphäre eine Leerstelle". Auch Jürgen Habermas’ Essay unterstellt im Grunde genau das. Er schreibt:

"Wie nie zuvor beherrscht die mediale Präsenz dieses Kriegsgeschehens unseren Alltag. Ein ukrainischer Präsident, der sich mit der Macht der Bilder auskennt, sorgt für eindrucksvolle Botschaften. Die täglich neuen Szenen von roher Zerstörung und aufrüttelndem Leiden finden in den sozialen Medien des Westens ein selbstverstärkendes Echo. Das Neue an der Veröffentlichung und kalkulierten Öffentlichkeitswirksamkeit eines unberechenbaren Kriegsgeschehens mag uns Ältere dabei mehr beeindrucken als die mediengewohnten Jüngeren."

Und wenn er von Jüngeren spricht, meint er jene, "die zur Empfindlichkeit in normativen Fragen erzogen worden sind, ihre Emotionen nicht verstecken und am lautesten ein stärkeres Engagement einfordern".

Ich will hier nicht Habermas aus dem Kontext reißen. Sein Text ist kein anti-woker Clickbait. Und die "Parteinahme gegen Putin und eine russische Regierung, die einen massiven völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaune gebrochen haben und die mit ihrer systematisch menschenverachtenden Kriegführung gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen", nennt er selbstverständlich.

Der Punkt ist: Die Zustimmung für die Lieferung schwerer Waffen , sieht er im Zusammenhang mit der "medialen Präsenz des Kriegsgeschehens" in unserem Alltag. Diese Zustimmung macht er vor allem bei den besagten Jüngeren aus, zu denen aus der Perspektive des 92-jährigen Philosophen auch noch die 41-jährige Außenministerin zählt, die "der spontanen Identifizierung mit dem ungestüm moralisierenden Drängen der zum Sieg entschlossenen ukrainischen Führung eine überzeugende Gestalt gegeben" habe.

Dass Habermas für seine Positionierung nicht nur Zustimmung bekommen hat, ist klar. Simon Strauß, der Habermas’ Argumentation aus verschiedenen Gründen nichts abgewinnen kann, schreibt ihm in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom Samstag zu, er deute "die aktuelle Konfliktlage in altbewährter Manier als kommunikationstheoretisches Problem". Was natürlich stimmt – Habermas schreibt nicht plötzlich über Betriebswirtschaft.

Strauß sieht Habermas aber zudem "in die Untiefen der Jugendbeschimpfung" abrutschen, wenn er "auf geradezu programmatische Weise (…) die deutsche Debatte um Waffenlieferungen in einem unterschwelligen Generationenkonflikt zwischen geschichtsvergessenen Jungen und kriegserfahrenen Alten begründet".

Baerbocks Verkürzung zur Ikone sei "definitiv frech", findet Johannes Schneider bei Zeit Online, und eine Verkürzung ist es in der Tat: Es ist ja nicht so, dass sich Baerbocks Arbeit auf ein paar aktivistische Sprüchen und Solidaritätsadressen reduzieren ließe. Allerdings geht es bei Habermas nicht unbedingt um das, was Baerbock tut, sondern in erster Linie darum, wie sie rezipiert wird.

Kurt Kister übersetzt in der "Süddeutschen" vom Samstag Habermas’ "SZ"-Text vom Vortag wohlwollend ins Allgemeinverständlichere:

"In einer Zeit, in der Empörung verständlicherweise ein Kriterium für Politik ist, tun sich Empathikerinnen wie Baerbock leichter als Schwerenöter wie Scholz. Wenn der Affekt mitregiert, gilt es als 'Erfolg', konstant, ein sehr beliebter Begriff, 'Druck auszuüben'. Dann werden Worte als Taten verstanden, und Toni Hofreiter wird zum national beachteten Außenpolitiker."

Simon Strauß meint allerdings: Alles, was Habermas zeit seines Lebens als politischer Kommentator erreicht zu haben meine, löse sich in diesen Tagen auf; die erinnerungspolitisch begründete Skepsis gegenüber Pathos und Gemeinschaft weiche vor dem aufgewühlten Ausdruck von Verteidigungspflicht und Bündnistreue.

In die Kerbe schlägt auch Thomas Schmid in der "Welt": "Der gegenwärtige Krieg hat Habermas' Theoriegebäude nicht gerade bekräftigt", schreibt er. "Die Welt des Jürgen Habermas setzte die Existenz einer regelbasierten Ordnung voraus." Habermas’ Hauptwerk, die "Theorie des kommunikativen Handelns",

"beruhte auf der in der goldenen Nachkriegszeit gewachsenen und selbst durch die atomare Blockkonfrontation nicht zu erschütternden Überzeugung, dass die Wasser der Kommunikation jeden Stein brechen und dass niemand sich der sanften Gewalt des – besseren – Arguments entziehen könne. (…) Wenn Habermas wenigstens zugäbe, dass der Ernstfall, der heute eingetreten ist, in seinem ganzen Denken nicht vorkommt, nicht einmal im Entferntesten. Stattdessen verteidigt er auf orthodoxe Weise sein Lebenswerk."

Dass Habermas in seinem "SZ"-Essay Haken schlagend sein eigenes Denken verteidigt, das kann man gewiss so sehen. Ich bin nach zweimaliger Lektüre seines Texts zudem auch nicht überzeugt davon, dass seine Antworten zum Problem passen. Die Reflexe gegen den "ideologisch so sicher verorteten Altlinken" (Strauß) funktionieren aber freilich schon auch.

Altpapierkorb (Maischberger, "DSDS", Flohmarkt-Fund)

+++ "Ich glaube an ein Prinzip im linearen Fernsehen: Verlässlichkeit. Wer vor Mitternacht einschaltet, muss wissen, was er oder sie bekommt." So wird Sandra Maischberger zitiert, deren Talk nun verdoppelt wird. "Deswegen machen wir am Dienstag aus denselben Elementen wie am Mittwoch eine Sendung." Joachim Huber schreibt im "Tagesspiegel" dazu: "Das Fernsehpublikum hat, wenn es will, künftig die Qual der Wahl. Nach Lage der Dinge werden sich 'Maischberger' und 'Markus Lanz' überschneiden. Klar ist, dass die Prominenz der Gäste die Entscheidung für und gegen Lanz oder Maischberger bestimmen wird. Der doppelte Lauterbach kann da bei keine Lösung sein."

+++ Für DWDL.de ordnet Senta Krasser die, hm, ARD-Talkoffensive auf das ZDF ein: "(W)elche Auswirkungen hat die ARD-Attacke eigentlich auf Markus Lanz? Sein Redaktionsleiter und Fernsehmacherintimus Markus Heidemanns gibt sich entspannt. Die Kolleginnen und Kollegen in Köln" – also bei "Maischberger" – "machten 'wirklich einen guten Job. Und die letzten 25 Jahre Talk haben mich gelehrt, dass Konkurrenz eigentlich immer das Geschäft belebt'."

+++ Auf dem Flohmarkt wurde eine Theodor-Wolff-Preis-Bronzeplakette entdeckt, die die mittlerweile verstorbene Nina Grunenberg erhalten hatte, "eine der wenigen Frauen, denen es in der Nachkriegsmännergesellschaft gelang", im Journalismus weit aufzusteigen, wie Willi Winkler in der "Süddeutschen" schreibt. Für wie wenig Geld der Lebenswerkpreis zu haben war, schreibt er auch.

+++"Deutschland sucht den Superstar" ist über Jahre die Castingshow mit der Jury gewesen, die die Kandidatinnen und Kandidaten vorführt und kleinmacht. Peer Schader findet bei DWDL.de: Gut, dass diese Zeit vorbei ist, auch wenn die Quoten gesunken sind.

Neues Altpapier erscheint am Dienstag.

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