Das Altpapier am 4. Oktober 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier am 4. Oktober 2022 Alles hat ja seinen Value

04. Oktober 2022, 09:46 Uhr

Die Debatte, wann und warum Medien "Public Value", also: öffentlichen Wert besitzen, leidet unter Verwässerung. Die Iran-Berichterstattung der "Tagesschau" überzeugt nicht. Leuchtturm- und Auster-Preise wurden vergeben. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Neues von den Medienanstalten

Das klingt doch mal nach guten Nachrichten: jede Menge Public Value! "Die Medienanstalten legen eine Liste zu Sendungen vor, die besonders zur Meinungsvielfalt beitragen", fasst die "FAZ" zusammen, was die vierzehn deutschen Landesmedienanstalten unter der Überschrift "Qualitätsprädikat Public-Value" vermeldeten. Hier auf die-medienanstalten.de lassen sich zwei PDF-Listen herunterladen. Der obere Link "Alphanumerische Gesamtliste der Public-Value-Angebote" führt zu einer sechs DIN-A-4-Seiten umfassenden Liste, die rund 250 privatwirtschaftliche Medienangebote zwischen "104,6 RTL Berlins Hitradio" und "Westerwald-Wied TV" auflistet. Da haben die Medienanstalten

"in einem in Europa einmaligen Verfahren diejenigen Angebote bestimmt, die in besonderem Maße zur Meinungs- und Angebotsvielfalt beitragen und damit zukünftig auf Benutzeroberflächen leicht auffindbar sein müssen",

Heißt: Die aufgezählten Angebote des privaten Radios und Fernsehens sollen, nein: müssen dem Medienstaatsvertrag zufolge "zukünftig auf Benutzeroberflächen leicht auffindbar sein", also etwa auf Startseiten von mit dem Internet verbundenen Fernsehgeräten (die herstellerseitig auch gerne "Smart TV" genannt werden). Wobei, 250 Angebote schnell auffindbar zu machen, ist nicht ganz leicht – auch wenn, wie der Name des alphabetisch letzten wertvollen Angebots "Westerwald-Wied TV" andeutet, nicht alle genannten Angebote überregionale Relevanz besitzen  und überall auffindbar sein müssen. Doch was ist dann z.B. mit dem, rein alphanumerisch, noch hinter dem Westerwälder Anbieter rangierenden ZDF? Zwar fallen öffentlich-rechtliche Programme aus medienpolitik-historischen Gründen überhaupt nicht in die Zuständigkeit der Landesmedienanstalten. Aber auf Fernsehgeräte-Startseiten gehören sie ja wohl.

Tatsächlich, diesem Zweck dient das zweite PDF-Dokument. Der dort aufgeführten "Empfehlung zur Listung der beitragsfinanzierten und privaten Bewegtbildangebote" zufolge sollen ARD und ZDF die Plätze 1 und 2 belegen, so wie es sich eingebürgert hatte, als die bis heute gern "Das Erste" und "Das Zweite" genannten, erst- und zweitältesten deutschen Programme sich einbürgerten. "Platz auf der Fernbedienung: ARD und ZDF vor RTL und Sat.1", fasst heise.de zusammen. Ungefähr deshalb ist in der "Qualitätsprädikat ..."-PM auch der ARD-Vorsitzende Tom Buhrow mit einer Sechs-Zeilen-Grußbotschaft vertreten. (Aber ob Pro Sieben glücklich ist, mit Vox dann schon die Plätze 5 und 6 anempfohlen zu bekommen, oder doch irgendwie an seiner Sieben hängt?)

Bei nüchterner Betrachtung besitzt die üppige Übersicht über so viel sog. "Public Value" fürs Publikum wenig bis gar keinen Wert. Was genau das Ganze soll, ist schwer zu erklären. Die Medienanstalten schreiben von "325 Anträgen" auf Public-Value-Anerkennung, die bei ihnen eingingen, und die offenkundig vor allem deswegen gestellt worden waren, damit die Antragsteller keine Nachteile erleiden, wenn irgendwann demnächst "smarte" Startseiten umkonfiguriert werden. Interessant wäre zu erfahren, warum offenbar 75 Anträge ausgesiebt wurden. Irre wählerisch waren die Medienanstalten nicht. Schließlich messen sie auch Privatradios wie, nur zum Beispiel, Star FM und Sunshine Live öffentlichen Wert zu, ebenso sämtlichen privaten Fernsehsender zwischen RTL 2 und Servus TV der Red Bull Media House GmbH. (Für Springer-Gegner: Selbstverständlich findet "Bild TV", das ja wirklich viele Reporter in die Welt schickt, sich auch in der Liste. Der "Empfehlung zur Listung der beitragsfinanzierten und privaten Bewegtbildangebote" zufolge gehört es auf den Fernbedienungs-Platz 14 zwischen BBC und ZDF-Neo).

Klar wäre es hochgradig anfechtbar, wenn die Medienanstalten, die zwar medienstaatsvertraglich als "staatsfern" gelten, deren Chefposten aber oft von den Regierungen der jeweiligen Bundesländer vergeben werden (Altpapier), auf einmal die Qualität privater Rundfunkanbieter bestimmen sollten. Wie genau man Qualität in Medien misst, ist ja auch im öffentlich-rechtlichen Sektor ein komplett ungelöstes Problem. Und klar ist es sinnvoll, dass die Medienanstalten für Chancengleichheit auf Startseiten sorgen wollen, damit global aktive Gerätehersteller nicht die besten Plätze an ihre eigenen Tochterfirmen vergeben oder an die, die dafür zahlen.

Aber mit solchen nichtssagenden "Public Value"-Listen, die nicht einmal andeuten, welchen Sendungen Westerwald-Wied TV seinen Wert verdankt, verwässern die Medienanstalten die Begrifflichkeiten eher noch weiter. (Und das zusätzliche Problem, dass die Liste ausschließlich das enthält, was Anstalten nach alter Sitte als Rundfunk definieren, und überhaupt keine Internetangebote, obwohl im Netz ja auch oder erst viel Audiovisuelles von Wert zu finden ist, ist damit noch gar nicht angesprochen).

Aus der nichtigen Nische der Medienstaatsvertrags-Umsetzung an einen der brisantesten Konfliktherde der Weltpolitik...

Der Iran und die "Tagesschau"

"Dieser Protest ist nicht nur ein Protest, er ist ein Aufstand der Iraner gegen die Regierung",

sagt Kourosh Sehati vom in London ansässigen Iran International TV Channel im "FAS"-Interview. Am Ende äußert der Exiljournalist auch, was er sich von der westlichen Öffentlichkeit und damit von ihren Medien wünscht:

"Die Proteste zur Unterstützung der Iraner müssen auch außerhalb Irans fortgesetzt werden. Die freie Welt muss auch härtere Sanktionen gegen die Führer der Islamischen Republik verhängen, die unschuldige Demonstranten töten"

Ebenfalls Sanktionen forderte auf Twitter die ARD-Reporterin Natalie Amiri:

"Außenpolitische Möglichkeiten: Visastopp f Regimeangehörige,Einfrieren ihres Vermögens in Europa, Stopp Atomverhandlungen,Stärkung Zivilgesellschaft indem man lautstark Regime kritisiert,tägliche Einbestellung iranischer Botschafter in EUStädten. IRGC auf Terrorliste,sagen Iraner"

Und tatsächlich werden im zusammengeschweißten Westen, der ja schon allerhand Sanktionspakete gegen Russland verhängte, Sanktionen auch gegen den Iran wohl erwogen. Das steht etwa in dieser "Spiegel"-Meldung, weiter unten, nachdem weitere Twitter-Stimmen, etwa von Außenministerin Baerbock, zitiert wurden. Überhaupt liefert Twitter unter Hashtags wie #IranProtests2022 viel Stoff, selbst auf deutsch. Isabel Schayani, noch eine ARD-Reporterin mit iranischen Wurzeln, teilte etwa dieses Video ("Schülerinnen im #Iran stehen mit offenen Haaren und sprechen zusammen den Songtext von #shervinhajipour, der schon festgenommenen wurde ...").

Was weiterhin in merkwürdigem Kontrast dazu steht: wie die ARD-"Tagesschau" berichtet. Auch am gestrigen Nationalfeiertags-Hauptabend tat sie es kurz vorm bunten Oktoberfest-Schluss-Bericht (ab Min 11.27), und stieg nicht etwa mit dem Protest bzw. dem Aufstand ein, sondern mit Vorwürfen, die Irans oberster Ayatollah an Israel und die USA richtete. Worin ja auch eine Art Einordnung des Geschehens liegt.

Klar gibt es im Moment jede Menge Krisenherde, den nächstgelegenen in allen deutschen Gasleitungen. Vielleicht ist dem "Tagesschau"-Publikum das gute alte England dank Queen, Rosamunde Pilcher und Co derart ans Herz gewachsen, dass jedes britische Regierungsproblem automatisch Vorrang vor dem Rest der internationalen Nachrichtenlage genießt. Aber wie zurückhaltend bis verdruckst die deutsche Hauptnachrichtensendung über die Lage im Iran berichtet, gerade auch angesichts des verfügbaren Bildmaterials, berührt inzwischen merkwürdig.

Leuchtturm- und Auster-Preis

Am Wochenende fand die Netzwerk Recherche-Jahreskonferenz statt, weshalb auch wieder Journalistenpreise vergeben wurden. Ein Negativpreis ging an einen sehr prominenten Empfänger, der an einem kaum Tag nicht in den Nachrichten auftaucht, ein positiver Preis an einen nicht so bekannten Preisträger:

"Arndt Ginzel ist mit seinen Recherchen wie kaum jemand sonst vor Ort russischen Kriegsverbrechen nachgegangen und hat damit dem deutschen Publikum auf herausragende Weise die Schrecken dieses Krieges Nahe gebracht",

schreibt netzwerkrecherche.org zum "Leuchtturm"-Preis an den freien Reporter Arndt Ginzel, der auch in dieser Kolumne häufig erwähnt wurde. Herzlichen Glückwunsch! Sein im Text dann exemplarisch erwähnter Film "Die Straße des Todes/ Kriegsverbrechen in der Ukraine" ist in der ZDF-Mediathek verfügbar, die Hamburger Laudatio, gehalten von "Spiegel"-Reporter Christoph Reuter, als eingebettetes Youtube-Video.

Was auch für die Negativpreis-Laudatio gilt. Die "Verschlossene Auster", einer der renommiertesten Negativpreise, ging 2022 an Elon Musk und seine bekannteste Firma:

"Tesla ist unter Reporter:innen seit Jahren dafür bekannt, Recherchen und Berichterstattung aktiv und aggressiv zu behindern. Elon Musk selbst hat in der Vergangenheit immer wieder Journalist:innen bedroht, verbreitet regelmäßig Falschnachrichten und manipuliert die Medien für seine persönlichen finanziellen Interessen', sagt Daniel Drepper, Vorsitzender von Netzwerk Recherche. 'Elon Musk und Tesla haben offenbar keinerlei Respekt für einen kritischen öffentlichen Diskurs. Für Musk und Tesla scheint die Presse der Feind zu sein. Diese Haltung wird relevanter, je einflussreicher Musk und Tesla werden ...'"

Die Laudatio hielt Business Insider-Chefredakteur Kayhan Özgenç, also ein Springer-Journalist, was nicht nur deshalb bemerkenswert ist, weil Elon Musk ja auch Träger des Axel-Springer-Awards, eines Nicht-Negativpreises, ist, sondern immer noch in engem Kontakt mit Springer-Chef Döpfner steht (vgl. AP-Korb vom Freitag). Mit einer Goldenes Lenkrad-Verleihung, also noch einem Springer-Preis steigt Özgenç dann ein. Binnenpluralismus als wichtiger Teil der Meinungsvielfalt besitzt immer hohen Eigenwert. Da braucht niemand von "Value" zu reden ...


Altpapierkorb (neuer P7S1-Chef, ARD zu EU-Plänen, "0137" im Museum, "Tsp."-Hoffest)

+++ Trotz des großen Erfolgs auch der ProSiebenSat.1-Sender auf der Public Value-Liste, bekommt der Unterföhringer Fernsehkonzern einen neuen Chef. Auf Rainer Beaujean folgt der Niederländer Bert Habets und zwar mit "zwei Jahrzehnten RTL-Erfahrung im Gepäck", wie als wohl erster dwdl.de berichtete. +++

+++ Die erwähnten deutschen Landesmedienanstalten bekommen zwar durch den erwähnten Medienstaatsvertrag neue Aufgaben zugewiesen, aber auch durch neue EU-Pläne für europäische Regelungen neue Konkurrenz möglicher "Superbehörden" (Michael Hanfeld). Daher hat sich nun auch der ebenfalls schon erwähnte ARD-Vorsitzende Buhrow gegen solche Pläne ausgesprochen ("FAZ").

+++ Klares Indiz für Public Value, naturgemäß allerdings im Rückblick: Aufnahme ins Museum. Roger Willemsens am Ende des 20. Jahrhunderts für den damaligen Pay-TV-Anbieter Premiere entwickelte Talkshow "0137" kommt in die Fernsehsammlung der Deutschen Kinemathek, und der "Tagesspiegel" freut sich schon. +++

+++ Außerdem war beim "Tagesspiegel" "Hoffest" mit Stargast Giovanni di Lorenzo. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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