Das Altpapier am 12. Oktober 2022: Porträt der Altpapier-Autorin Annika Schneider
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Das Altpapier am 12. Oktober 2022 Von mehr oder weniger mutigen Männern

12. Oktober 2022, 10:12 Uhr

Was Komiker John Cleese von Journalisten mit Perlenketten hält, ist nicht bekannt, lässt sich aber vermuten. Der "Stern"-Chef überschlägt sich fast vor Begeisterung für das eigene Produkt. Ein Altpapier von Annika Schneider.

Mut zur Perlenkette

Zwei Interviews aus den Medienressorts sind heute lesenswert: Michael Hanfeld hat für die FAZ mit Gregor Peter Schmitz gesprochen, der seit einem halben Jahr an der Spitze der Marke "Stern" steht. Olivia Samnick hat für Übermedien den 25-jährigen Atay Küçükler interviewt, der nach einem Livestream für die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" mit Bezug auf sein Outfit rassistisch und queerfeindlich beleidigt wurde.

Das Interview mit dem Nachwuchsjournalisten Atay Küçükler (schöner Titel: "Queer, migrantisch, Perlenkette: Wo ist das Problem?") ist nicht deshalb lesenswert, weil das Thema so außergewöhnlich oder neu wäre – erschreckenderweise sagt der Interviewte gleich zu Beginn, dass er schon damit gerechnet habe, irgendwann angefeindet zu werden. Er wird migrantisch gelesen und ist mit einem Mann zusammen.

Bemerkenswert ist allerdings, wie selbstbewusst der 25-Jährige auftritt. Er lässt sich weder einschüchtern noch nutzt er den Anlass für übermäßige Selbstdarstellung – die HAZ kann sich freuen, dass die junge Generation mit einer solchen Persönlichkeit im Haus vertreten ist. Über die Wahl seines Outfits für seinen Instagram-Livekommentar zu den Niedersächsischen Landtagswahlen sagt Küçükler:

"Von Seiten der Redaktion wurde mir gesagt, ich dürfe tragen, was ich möchte. Eben dem Anlass entsprechend. Daher habe ich für Landtagswahlen keinen Kapuzenpullover angezogen, sondern Kleidung, die ich als passend empfand und in der ich mich wohl fühle: ein Sakko mit Shirt. Eine Perlenkette trage ich sonst im Alltag auch gerne."

Dass Atay Küçükler mit diesem Look live gegangen ist, liegt sicherlich auch daran, dass ihm seine Redaktion schon im Vorhinein Unterstützung zugesagt hat, falls er es mit Diskriminierung zu tun bekomme – und diese Zusage dann auch eingelöst hat:

"Meine Chef*innen haben das sehr ernst genommen und sofort reagiert. Als ich den Vorfall auf meinem Twitter-Account bekannt gemacht habe, haben meine Kolleg*innen dort auch ihre Solidarität bekundet. Die Chefredaktion hat sich konkret zu meiner Leistung vor der Kamera geäußert und mich gelobt. Ich habe allgemein sehr viel Zuspruch erhalten."

Zum Schluss spricht Atay Küçükler sich für eine Diversitätsquote aus. Wenn allerdings mehr Redaktionen Menschen wie ihn so offen willkommen heißen und dann auch so entschieden gegen Anfeindungen verteidigen würden, bräuchte es vielleicht gar keine Quote für mehr Vielfalt im Journalismus.

Was womöglich ebenfalls hilft: Abschreckende Strafen für Menschen, die Hass auf Plattformen und in Messengerdiensten verbreiten. Zu 6.000 Euro Strafe wurde gerade ein Mann in Erding verurteilt, der zwei Journalisten unter anderem als "Mittäter am Genozid" bezeichnet hatte. Dabei erhöhte die Richterin sogar noch das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmaß, wie der Münchner Merkur berichtet.

Fleißige "Stern"-Werbung

Dem Interview mit dem neuen "Stern"-Chef in der FAZ (€) hätte etwas weniger Selbstbewusstsein hingegen ganz gut getan. Gregor Peter Schmitz strotzt geradezu vor Begeisterung und Optimismus für das eigene Produkt, was schon im Titel ("Der 'Stern" ist Deutschland") nicht zu überlesen ist.

Zur Einordnung: Die Auflage des Magazins betrug im zweiten Quartal des Jahres 340.000 Stück, hat sich seit 2015 also mehr als halbiert (IVW). Aber natürlich gehören zur Marke "Stern", die Schmitz im Gespräch eifrig vermarktet, längst nicht mehr nur das Printmagazin, sondern auch digitale Inhalte und die Fernsehsendung. Der Vorsitzende Chefredakteur (so sein offizieller Titel, mehr dazu hier) hat sich vorgenommen,

"den 'Stern' wieder ein wenig mehr zum Leben zu erwecken. Der 'Stern' sollte immer Gesprächsthema, niemals langweilig und immer mittendrin sein. Das ist vielleicht ein wenig verloren gegangen."

Zu dieser gewünschten "Erweckung" trägt das lange FAZ-Interview wohl einiges bei. Zeilenlang listet Gregor Peter Schmitz besonders gelungene Themen und peppige Slogans auf – sonderlich kritisch sind die Nachfragen nicht.

Spannend ist das Gespräch natürlich vor allem vor dem Hintergrund, dass Gruner + Jahr nach seiner Fusion mit RTL einzelne Zeitschriftentitel abschaffen oder verkaufen will. Gregor Peter Schmitz kämpft also nicht nur um Leserinnen und Leser, sondern auch um Aufmerksamkeit im eigenen Haus. Er fühle sich im Fusionsprozess bisher "wertgeschätzt", sagt er:

"Die bisweilen vorgetragene Sorge, dass der 'Stern' untergehen könnte, verstehe ich nicht. Kaum eine Marke wird in diesem Verbund so stark präsentiert wie diese. Wir haben das Magazin, wir sehen Investitionen in 'Stern TV'."

John Cleese bleibt ungecancelt

Der im vergangenen Jahr in Großbritannien gestartete TV-Nachrichtensender GB News wird gerne mit dem amerikanischen Fox News verglichen, auch wenn dieser Vergleich nicht ganz griffig ist:

"Fox News ist in den USA gestartet, als es sehr wenige rechtsgerichtete, kommentierende Nachrichtensendungen gab. Sie haben ein unterversorgtes Zielpublikum angetroffen. GB News startet jedoch in einem Umfeld, in dem es das schon lange gibt. Und deshalb muss es mit anderen Anbietern um ein alterndes, konservatives, meist männliches Publikum konkurrieren",

sagte Rasmus Kleis Nielsen, Direktor am Reuters-Institut für Journalismus an der Universität Oxford, dem Deutschlandfunk kurz nach Sendestart im Sommer 2021. GB News hat dabei von Anfang an auf bekannte Gesichter gesetzt, die unter anderem von der öffentlich-rechtlichen BBC kamen. Nun reiht sich ein weiterer Name ein: Schauspieler John Cleese, bekannt geworden als Mitgründer von Monty Python, bekommt bei GB News seine eigene Show, wie die "Süddeutsche Zeitung" berichtet.

Der 82-Jährige ist demnach schon länger erklärter Gegner von "Cancel Culture" und Wokeness. Sein ehemaliger Kollege Eric Idle kommentierte das laut SZ in der vergangenen Woche so:

"Er ist jetzt eben der, der er ist. Ich versuche, mich an die guten Zeiten zu erinnern, als wir jung und lustig waren. So sind wir nicht mehr und sprechen auch nicht die heutige Generation an. Wir sind alte Knacker. Man sollte uns ruhig ins Bett gehen und fernsehen lassen."

Diesen Rat hat Cleese nicht beherzigt: Ausgerechnet im Radio der BBC kündigte er seine neue Show an und verstrickte sich in den üblichen Widerspruch, dass diejenigen, die sich über "Cancel Culture" beklagen, das oft mit großer Reichweite in herkömmlichen Medien tun. Nächstes Jahr soll die neue Sendung starten, in der John Cleese mit Gästen seiner Wahl über verschiedene Themen sprechen soll – bei einem Sender, dessen Berichterstattung zur Corona-Impfung gerade von der britischen Medienaufsicht untersucht wird.

"Er sei von GB News kontaktiert worden und habe zunächst nicht gewusst, 'wer sie waren'. Dann habe er sich mit Vertretern des Senders zum Dinner getroffen, 'und sie gefielen mir sehr': "Sie sagten: 'Die Leute bezeichnen uns als rechten Sender – aber es ist ein Sender für freie Meinungsäußerung'."

zitiert Alexander Menden den Komiker in der SZ. Im "Guardian" ist zu lesen, wie sich John Cleese selbst sieht und dabei wohlbekannte Frames bedient:

"There’s a massive amount of important information that gets censored, both in TV and in the press. In my new show, I’ll be talking about a lot of it. You should be prepared to be shocked.

Schockiert zeigten sich tatsächlich schon jetzt viele Fans, die mit dem Komiker bisher vielleicht den Centurio aus dem "Leben des Brian" oder die absurden Verrenkungen im "Ministry of Silly Walks" verbunden haben, aber eher keine "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen"-Show. Um den legendären Komiker dennoch noch einmal zu zitieren (bevor er womöglich Sachen sagt, die man lieber nicht zitieren möchte):

"And now for something completely different."


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