Das Altpapier am 02. November 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier am 02. November 2022 VLOP? Tröt?? Tweet???

02. November 2022, 10:12 Uhr

Welche Zukunft hat Twitter unter Elon Musk und Kompagnons wie einem saudiarabischen Prinzen? Im revolutionären Iran wird Instagram von allen genutzt, auch von der mörderischen "Sittenpolizei". In Gütersloh geht eine Geschäftsidee nach der anderen schief. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Die Proteste im Iran und das Internet

Im Iran, dem Land mit der derzeit wohl revolutionärsten Situation, sind weder Twitter, noch Facebook oder Telegram die meistgenutzten Plattformen. Sie sind schon lange weithin gesperrt. "Zur wichtigsten Plattform der Proteste" wurde Instagram, das visuell orientierte Netzwerk des Facebook-Konzerns Meta, schreibt Carlotta Wald auf der "SZ"-Medienseite (€). Außer von denen, die gegen den Islamismus des Mullah-Regimes protestieren, werde Instagram aber auch von dessen berüchtigter "Sitten"-Polizei benutzt:

"Zunächst sah das Regime in Instagram offenbar keine politische Gefahr. Im Gegenteil: Es schätzte die hohen Nutzerzahlen als Vorteil ein. Die App ermöglicht der Regierung einen direkten Blick in die Wohnzimmer, denn in Iran gibt es eine Zensurbehörde, die Verstöße gegen das Sittengesetz verfolgt. Die eigens dafür geschaffene Internetpolizei Fata hat beispielsweise im September die Iranerinnen Sareh Sedighi-Hamedani und Elham Choobdar laut Medienberichten wegen ihrer angeblichen 'Werbung für Homosexualität' auf Instagram angezeigt. Die LGBTQ-Aktivistinnen wurden verhaftet, wegen 'Verbreitung der Korruption auf der Erde' angeklagt und schließlich zum Tode verurteilt."

Der "SZ"-Artikel ist unter anderem inspiriert davon, dass die Pro Sieben-Entertainer Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf sowohl 15 Minuten Sendezeit als auch "ihre gesammelte Instagram-Reichweite", das heißt: ihre eigenen Instagram-Accounts (diese beiden) iranischen Frauen überließen. Es geht aber auch um technische Internet-Fragen, etwa um Virtual Private Networks (VPN), mit denen junge Leute im Iran zeitlich oder lokal verhängte Sperrungen des Internets umgehen. Das Nutzen und Sperren solcher VPNs nennt der Kommunikationswissenschaftler Marcus Michaelsen "ein Katz-und-Maus-Spiel".

Wie schwer es ist, in diesem "Spiel" gegen die digital versierte Staatsmacht zu bestehen, beschreibt netzpolitik.org auf Basis von "The Intercept"-Recherchen, die auf geleakten iranischen Dokumenten basieren. Denen zufolge wurde der Telekomanbieter Ariantel verpflichtet, der iranischen Telekommunikationsbehörde 28 Funktionen "bereitzustellen", auf die sogenannte Smartphones und Betreiber entsprechender Infrastrukturen technisch Zugriff haben. Eine dieser Funktionen

"liefert Webseiten und IP-Adressen, mit denen sich Kund:innen in einem Zeitintervall verbunden haben. Das stellt dem Sicherheitsexperten Rashidi zufolge eine enorme Gefahr für beliebte VPN-Umleitungen dar, von der sich Nutzer:innen Anonymisierung im Netz erhoffen. 'Die Regierung kann IP-Adressen, die von einem bestimmten VPN-Anbieter genutzt werden, leicht identifizieren, diese dann an die Ortungsfunktion weiterleiten und herausfinden, wo die Menschen sind, die diesen VPN-Dienst verwenden' ..."

Zwar bieten neuere Mobilgeräte, die neuere Netz-Generationen wie 5G bzw. die im Iran verbreiteteren 4G- und 3G-Netze nutzen können, höhere Sicherheitsstandards. Allerdings bietet sich Netzbetreibern die Möglichkeit, Nutzer aus solchen Netzen in ältere umzuleiten, so dass die Nutzer sich womöglich bloß sicher wähnen und erst recht in Gefahr geraten.

An dieser Stelle verdient noch rasch der Artikel des Islamwissenschaftlers Stefan Weidner Erwähnung, der am Montag in der "FAZ" der deutschen Außenministerin Baerbock zwar konzedierte, an manchen Stellen, also vor allem Russland gegenüber, ihren hohen Ansprüchen gerecht werden zu wollen, ihr aber vor allem vorwarf, "die Zeit aussitzen zu wollen, bis die Proteste in Iran vom Regime erledigt werden".

Was wohl aus Twitter wird ...

Weiter erscheinen allerlei "think pieces ...über Elon Musks Twitter-Kauf" (Altpapier gestern). Härtere Neuigkeiten gibt es aber auch, z.B. dass Musk als Twitterer schon mal wieder eine "Verschwörungstheorie" verbreitete, wie Nina Rehfeld in der "FAZ" schreibt. "Der noch diskursive Krieg um die Deutungshoheit wird vor allem auch auf Twitter geführt, doch immer öfter schlägt er ... um in rohe Gewalt", formuliert es Jagoda Marinić in der "taz" mit Bezug auf denselben Fall, den Angriff auf das Ehepaar Pelosi.

An milliardenschwerer Unterstützung mangelt es Musk nicht, und das führt wieder in vorderasiatischen Raum. Zweitgrößter Eigentümer nach dem Tesla-Chef ist mit 34.948 Millionen Aktien bzw. "etwa 4 Prozent von Twitter" der saudiarabische Prinz Al-Walid bin Talal, entnahm futurezone.at Tweets des Prinzen. Auf den weiteren Plätzen folgen, ergänzt der "Tagesspiegel", Twitters Mitgründer und Exchef Jack Dorsey sowie "eine Tochtergesellschaft des Staatsfonds von Katar", also dem aus Zusammenhängen wie der bevorstehenden Fußball-WM und dem ikonischen Foto von Vizekanzler Habecks Verbeugung bekannten Emirat.

Einschätzungen, was aus dieser Struktur und aus Musks erratischen Äußerungen mittelfristig erfolgen wird, sind schwer, aber gerade jetzt gefragt, und werden natürlich abgegeben. Z.B. zitiert Deutschlandfunks "@mediasres" Matthias Kettemann, "Professor für Innovation und Internet-Governance" in Innsbruck:

"'Bisher durften in den USA Plattformen nach Gutdünken moderieren und auch reiche und mächtige Männer ausschließen', erklärt der Jurist. Nun versuchten republikanische Politiker in Texas und Florida Gesetze vor den Supreme Court zu bringen, die es Plattformen verbieten würden, legale Inhalte zu moderieren. 'Das ist brandgefährlich, weil in den USA sehr viel legal ist', so Kettemann."

Hm. Reines Gutdünken der Plattformkonzerne, deren Besitzer ja auch oft reich und mächtig sind bzw. wurden, wäre also besser als dass sich die meist US-amerikanischen Plattformen an US-amerikanische Gesetze halten? Zumindest vor US-amerikanischen Gerichten dürften solche Argumente wenig Überzeugungskraft entfalten. "Der Katzenjammer ist groß, weil der 'falsche' Kapitalist sich für 44 Milliarden Dollar Meinungsmacht gekauft hat", schreibt Claudia Wegerin mit mehr Distanz bei "Telepolis".

Oder können in Überblicksartikel gern eingestreute Floskeln wie die, dass Musk "die Rechnung ohne die EU gemacht haben" könnte (hier z.B.), beruhigen?

Hilft die EU? Hilft Mastodon?

Die Twitter-Übernahme "wird zum Präzedenzfall für Plattformregulierung", wie die EU sie in lange diskutierten, in ihren konkreten Auswirkungen kaum absehbaren Gesetzen vorsieht, schrieb Markus Beckedahl, als er für netzpolitik.org mal wieder in die Tasten griff. Vor allem geht es um den Digital Services Act/ DSA, der im kommenden Frühjahr in Kraft tritt (bzw. in Kraft zu treten beginnt: "Wir erwarten, dass die Verhaltensvorschriften ab Anfang 2024 greifen", sagte EU-Kommissarin Margrethe Vestager gerade in einem Interview).

"Die Europäische Union definiert im DSA Online-Plattformen als sogenannte VLOPs ('Very large Online-Platforms'), wenn sie in der EU mehr als 45 Millionen monatliche Nutzer:innen haben",

erläutert Beckedahl. Twitter hat nun nach eigenen Angaben (denen man, wie bei allen Plattformkonzernen, glauben muss oder nicht unbedingt) "237,8 Millionen 'monetizable daily active users' ... , davon 41,5 Millionen in den USA". Wieviele Nutzer es in EU-Europa hat, teilt Twitter, mutmaßlich wohlweislich, nicht mit. Wenn es akut wird, könnte die nicht unberechtigte Vermutung, dass es sich bei allerhand Twitter-Accounts um Bots statt um echte Menschen handelt, die bislang häufig gegen Twitter und die ihm zugeschriebene Relevanz verwendet wird, verwendet werden, um die Zahl echter Nutzer auf unter 45 Millionen runterzurechnen, meint nun Beckedahl.

Und ein Beweis dafür, dass die EU in der aktuellen Weltlage, in der es ihr außer (sowieso) an digitaler Souveränität auch noch unter vielen anderen Aspekten an Souveränität fehlt, in der Lage wäre, US-amerikanische Plattformen ernsthaft zu regulieren, müsste ja auch erst mal erbracht werden. Jedenfalls, meint nun wieder Beckedahl,

"sollten wir die Zeit nutzen, dezentrale, offene und datenschutzfreundliche Infrastrukturen zu verbessern und jene nachhaltigen Ökosysteme aufzubauen, in die wir und unsere Twitter-Timeline schlimmstenfalls hin wechseln könnte".

Sollten überzeugte Twitter-Nutzer, zu denen das Altpapier ja auch zählt, also zu Mastodon ("Soziales Netzwerk nicht zum Verkauf") wechseln? In seinen nutzwertigen Artikel "So legt man einen Account bei der Twitter-Alternative Mastodon an", flicht der "Standard" einiges Wissenswerte zu dieser Plattform ein, die 2016 "vom russisch-deutschen" (nicht aber in Russlans lebenden und arbeitenden!) Programmierer Eugen Rochko gegründet wurde. Z.B. gibt es Tools, mit denen man "die richtigen Leute", also die jeweiligen Twitter-Follower, importieren kann, sofern sie mitwechseln wollen wollen. Und wie groß ist dieses Mastodon?

"Ende Oktober meldete das Netzwerk 3.776 Server und über 5,7 Millionen Nutzer, wobei Rochko in den vergangenen Tagen mehrfach 'trötete' – das Mastodon-Äquivalent zu 'twittern' –, dass aufgrund der Entwicklungen rund um Elon Musk zuletzt zehntausende User hinzugekommen sind."

Wobei einer dieser neuen Nutzer, der als Kriegsreporter aus der Ukraine bekannt gewordene Enno Lenze, dann allerdings trö... nein twitterte:

"Es tut mir ja leid, aber mir scheint nach drei Tagen, dass Mastodon die 'bei Mutti wohnen' Version von twitter ist. Jemand anderes moderiert, mit welchen Instanzen man interagieren darf und jemand anderes soll den Streit vie 'Meldung' für einen schlichten."

Für sein eigenes Portal berlinstory-news.de schrieb Lenze einen längeren, aus eigenen Erfahrungen kritischen Artikel, den, wer sich eine Meinung zu Mastodon bilden möchte, auch lesen sollte:

"Das Problem ist aber weder Musk, noch Trump, noch Twitter. Das sind nur Symptome. Das Problem sind Leute, die sich in der ersten Welt immer mehr von Problemen abschotten wollen und nur noch in ihrer rosaroten Bubble leben wollen. Das will ich ihnen gar nicht nehmen und sicher ist es besonders schön dort. Aber genau dafür könnte Mastodon und ähnliches eine Lösung sein: Man baut sich seine eigenen Server ohne Kontakt zur Aussenwelt und spielt nur schöne Dinge ein, mit denen man sich befassen mag. Und das ist total ok, wenn man es so möchte."

Bertelsmann in Bredouillen

Rasch noch ein Blick in die Welt der klassischen Medien: Für den Bertelsmann-Konzern kommt es knüppeldick. Nachdem vor wenigen Wochen die Idee scheiterte, die französischen M6-Sender mit dem Marktführer zu fusionieren (und so minoritärer Partner eines "nationalen Champions" im französischen Privatfernsehen zu werden), scheiterte nun noch eine lange angekündigte Übernahme – wiederum aus durchaus überraschenden Kartellgründen.

Im November 2020 hatte Bertelsmanns Buchverlag Penguin Random House angekündigt, für mehr als zwei Milliarden Dollar den US-amerikanischen Verlag Simon & Schuster zu kaufen (woraufhin ich im Altpapier-Jahresrückblick schrieb, dass Bertelsmann "das älteste Massenmedium", gedruckte Bücher, "als globale Nische" entdeckte). Zwei Jahre später gab nun das Bezirksgericht in Washington einer kartellrechtlichen Klage gegen diesen Kauf statt. Welche Rolle der vielleicht prominenteste Simon & Schuster-Autor, Stephen King, im Gerichtsverfahren spielte, beschreibt ausführlicher als dpa-Meldungen das "FAZ"-Wirtschaftsressort. (Und dass Bertelsmann dort als "Medienkonzern mit Sitz in Bielefeld" vorgestellt wird, wird in Gütersloh, wo das Unternehmen tatsächlich seit seiner Gründung sitzt, die Laune auch nicht heben). Sonst ist die "FAZ" aber gut informiert und weiß etwa, dass "im September ... schon ein milliardenschweres Fusionsvorhaben in der Callcenterbranche" scheiterte, also bereits die dritte Geschäfts-Vergößerungs-Idee in Folge geplatzt ist.

Vielleicht immerhin hat sich der jedenfalls ostwestfälische Medienkonzern enge Kontakte zu einem zukünftigen Bundeskanzler gesichert, als er die Rechte an der Langzeit-Doku über den westwestfälischen CDU-Politiker Jens Spahn erwarb. "Kann Spahn noch Kanzler?", lautet jedenfalls die Überschrift der "Tagesspiegel"-Besprechung zur bei RTL+ verfügbaren Doku-Serie "Second Move Kills" (Altpapier gestern). Markus Ehrenberg ist nicht soo begeistert:

"Jens Spahn, ein Medienprofi also durch und durch. Manchmal beschleicht einem beim Zuschauen das Gefühl, dass dem Porträtierten über neun Stunden zu viel Raum zur Selbstdarstellung gegeben wird. Da helfen auch nicht die Kommentare von Weggefährten und journalistischen Begleitern (Robin Alexander, Wolfgang Schäuble, Stephan-Andreas Casdorff, Frank Plasberg, Edmund Stoiber, Armin Laschet, Kühnert etc. etc.), die im Wesentlichen Spahns offenbar kalkulierter Kraftmeierei und der Vision hinterher denken, die der ehrgeizige junge Mann schon vor 30 Jahren selber in den Raum warf".

Aber Begeisterndheit zählt ja auch wahrlich nicht zu den Eigenschaften der jüngsten deutschen Bundeskanzler/innen.


Altpapierkorb

+++ Wow, ein Fettnapf, dem der RBB entgangen ist! "Programmdirektor Jan Schulte-Kellinghaus schrieb Anfang Juli von seinem privaten E-Mail-Account an die private E-Mail-Adresse der damaligen Intendantin Patricia Schlesinger, um eine 'Top secret'-Personalie zu besprechen", die den Ehemann einer Spitzenpolitikerin der Berliner Grünen in eine Spitzenposition der Anstalt bugsiert hätte (und zum politischen Profil der Anstalt bestens gepasst hätte. Das berichtete der "Spiegel" und fasst der "Tagesspiegel" zusammen. Vermutlich weil die Kritik an Schlesinger kurz darauf anschwoll, wurde nichts daraus. +++

+++ Aus dem WDR meldete sich vielstimmiger Protest gegen negative Berichte von correctiv.org und des "Kölner Stadtanzeigers" (Altpapier). Ein "Leserbrief von fast 100 Mitarbeitenden" des WDR-Newsrooms ist via Twitter im dwdl.de-Artikel dazu eingebunden. +++

+++ Der US-amerikanische Konzern, dem das in England ansässige Sky gehört, könnt dessen deutsche Plattform verkaufen wollen (auch dwdl.de). +++

+++ Und die Haupt-Werbeagentur des Bundesgesundheitsministeriums, dessen Werbeaktionen etwa fürs Impfen, künftig aber wohl auch für Cannabis, sich großer, freilich oft sehr kritischer Beachtung erfreuen, ist nun nicht mehr Scholz & Friends (horizont.net). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

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