Das Altpapier am 19. Dezember 2022: Porträt der Altpapier-Autorin Jenni Zylka
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Kolumne: Das Altpapier am 19. Dezember 2022 Auf die Nüsse

19. Dezember 2022, 10:05 Uhr

Rihanna selbstermächtigt sich des Babyzeigens, Aschenputtel der Auswahl ihres Partners: Vor Weihnachten werden Märchen wahr. Heute kommentiert Jenni Zylka die Medienberichterstattung.

Geschenk von Rihanna

Ist so kurz vor Weihnachten überhaupt noch etwas los? Bei TikTok schon. Denn Rihanna hat am Sonntag zum ersten Mal ein Video ihres sieben Monate alten Sohnes gezeigt, das bislang rund 13 Millionen Klicks bekam, und mit Kommentaren über anderer Menschen Erziehung hat man sich bekanntlich aus Prinzip zurückzuhalten. Aber rein küchenpsychologisch ist die Situation von prominenten Kindern immer wieder interessant. N-tv nennt das Kinderzeigen der Sängerin ein "Geschenk":

"Ein vorweihnachtliches Geschenk für alle Fans von Rihanna: Die Popsängerin hat ihren kleinen Sohn in einem süßen TikTok-Video gezeigt. Der Clip markiert zugleich ihr TikTok-Debüt. Medienberichten zufolge ist die 34-Jährige am 13. Mai zum ersten Mal Mutter geworden. Vater des Kleinen ist der Rapper A$AP Rocky."

Vielleicht sollte man das öffentliche Kinderpräsentieren als konsequente Selbstermächtigung verstehen – auch Rihannas Selbstinszenierung als Schwangere in transparenten Outfits stand bereits in einer längeren Tradition von schwangeren Frauen, die dem übergriffigen Bauchbetatsche anderer Menschen durch die stolze und autarke Präsentation ihres Körpers vorgriffen, wie Samira El Ouassil im April in ihrer Spiegel Kolumne schrieb:

"Auch in der Logik plattformorientierter Selbstvermarktung darf der Bauch als professionell privater Content gezeigt werden (und wird dabei auch fleißig kommentiert). Bemerkenswert hierbei ist der ästhetische Rahmen, der sich als moderne Darstellung von Schwangerschaft durchgesetzt hat: ätherische, scheinbar natürliche Arrangements in Pastelltönen mit floraler Alnatura-Optik. (…). Dieses moderne Klischee hat eine Künstlerin nun aufgebrochen: die Sängerin Rihanna. Mit inszenierten Paparazzi-Fotos präsentierte sie der Öffentlichkeit, was sie von dem Verstecken des Babybauches hält: nichts."

Bauch in Floraloptik

Die Stilkritik an der Art und Weise des Bauchzeigens ist insofern wichtig und richtig, als dass es bei einem so visuell orientierten Popstar tatsächlich eine Rolle spielt, ob der Bauch sich "in floraler Alnatura-Optik" oder in Lack und Leder wölben darf. El Ouassil schrieb weiter:

"Sie inszenierte sich als sexuell selbstbestimmten Frau – mit Babybauch. Bei einigen Kommentatoren führte diese Kombination aus Mutterschaft und Freizügigkeit zu kognitiver Überforderung und Skandalatmung. Aufgrund der steten sozialen Überwachung des Frauentorsos erscheint es außergewöhnlich, die unberührbare Präsenz des eigenen Körpers im öffentlichen Raum so unverhüllt einzufordern. Insbesondere als Schwarze Frau, deren Körper noch mal einer anderen Objektifizierung und Grenzüberschreitung unterliegt. Rihannas Bauch ist politisch – zu ihren Bedingungen."

Und wenn Rihannas Bauch politisch ist – ist dann nicht auch ihr Baby politisch? Muss man sein Kind vor der Süüüüüß-Offensive der Öffentlichkeit schützen und vor den Blicken anderer Menschen bewahren? Oder muss man es, das vermutlich ohnehin nicht unerkannt in "normaler" Umgebung aufwachsen wird, möglichst früh an die Übergriffigkeit gewöhnen, so wie prominente Adlige das mit ihren Kindern machen? Greift Rihanna Paparazzi vor, indem sie die Bilder selbst verteilt? Oder schürt sie erst das öffentliche Interesse? Aber, wie gesagt, andere Menschen, andere Erziehungsstile. Und, auch wie gesagt, so viel ist vor Weihnachten einfach nicht los.

50 Jahre Puderzucker

Beziehungsweise, es ist immer das Gleiche los: Seit 50 Jahren läuft "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" im Fernsehen, wie die taz hier bemerkt, und den Film von Václav Vorlíček zumindest ausstattungstechnisch in eine Reihe mit modernen Serienerfolgen setzt:

"In diesem Jahr eröffnete ARD bereits am 27. 11. die Festspiele des Märchenklassikers aus dem Jahr 1973. Der Film, eine Koproduktion zwischen der Tschechoslowakei und der DDR, ist eine Adaption des Aschenputtel-Märchens, die, was seine Kostüme und exaltierten Schau­spie­le­r*in­nen betrifft, der aktuellsten Aschenputtel-Adaption, der Erfolgsserie "Bridgerton", in nichts nachsteht."

Echte Fans ignorierten die Mediathek, in der der Film noch bis Mitte Januar abzurufen ist, schreibt die taz weiter, und schwörten auf das lineare Märchenerleben. Das mag sein, klar wird allerdings nicht, wieso die von der taz als "schneeschmelzende Puderzuckermelancholie" bezeichnete Geschichte überhaupt so erfolgreich ist. Denn "Drei Haselnüsse" steht nicht nur symptomatisch für eine kollektive, nicht-lineare und darum stark von der jahreszeitunterstützenden Gestaltung der Programmacher*innen abhängigen Vergangenheit. Sondern ist tatsächlich in all seiner "Puderzuckermelancholie" und in all seiner klassischen Märchenhaftigkeit ein großartiger Film über eine Selbstermächtigung: Das Leben einer jungen Frau, gespielt von Libuše Šafránková, hat sich nach dem Tod ihres Vaters stark gewandelt – ihre für eine Gutshoftochter untypischen Hobbies wie Reiten, Jagen und durch die Natur stürmen werden von der bösen Stiefmutter stark eingeschränkt. Das so genannte Aschenbrödel wird stattdessen zur urweiblichsten aller misogynen Tätigkeiten, dem Hinterherputzen verdammt – und auch noch dafür verhöhnt, dass es beim ewigen Feudeln dementsprechend schmutzig aussieht.

Trotzdem schafft es die junge Frau, sich ihre Freiheiten herauszunehmen: Sie verhält sich aufmüpfig gegenüber Stiefmutter und Stiefschwester. Und während ihr die solidarischen Tauben bei der Arbeit helfen, geht sie heimlich reiten und schießen – und beeindruckt, weil sie derartig begabt ist, einen erfolgsverwöhnten Prinzen (Pavel Trávníček) mit ihrem Können, indem sie ihm einen Pfeil aus der Hand schießt. Dass eine junge Frau ihnen überlegen ist, haben der Prinz und seine nichtsnutzigen Freunde natürlich noch nie erlebt – sie sind dementsprechend irritiert, und halten den "fremden Jäger" für einen Mann. Später reitet Aschenputtel eigeninitiativ und in schickem Schleppenkleid auf den Prinzenball, eilt dem gelangweilten Blaublut entgegen, hält ihn davon ab, den Saal zu verlassen, bezaubert ihn durch Charisma – und entzieht sich seinem Interesse letzten Endes wieder, weil sie möchte, dass er sie als das erkennt (und liebt), was sie ist: Das Aschenputtel.

Märchen im Siechenhaus

Wikipedia listet eine ganze Reihe von Ursprüngen für dieses beliebteste aller Hausmärchen der Brüder Grimm auf:

"So finden sich die ersten Spuren bei den Griechen und Römern, im Kaiserreich China des 9. Jahrhunderts; in Persien vor allem Ende des 12. Jahrhunderts in den von Nezami verfassten Sieben Schönheiten, auch genannt Die sieben Prinzessinnen, finden sich Vorformulierungen des Aschenbrödel-Motivs."

Eine französisches Erzählung des Schriftstellers Charles Perrault namens "Aschenputtel oder der kleine Glasschuh" aus dem Jahr 1697 sei ebenfalls Vorbild für das Märchen gewesen, das Wilhelm Grimm im Jahr 1810 von einer etwas später verarmt "im Siechenhaus" verstorbenen "Marburger Märchenfau" namens Elisabeth Schellenberg erzählt und aufgeschrieben bekommen habe. All das wurde erst im Jahr 2016 von einem Kasseler Forscher und Professor namens Holger Erhardt recherchiert, hier erschien damals ein sehr interessanter Artikel dazu. Darin erzählt der Akademiker:

 "Die Identifizierung war bislang auch deswegen nicht gelungen, weil Elisabeth Schellenbergs Cousine dies noch zu ihren Lebzeiten erschwerte. Sie verschleierte gegenüber den Grimms Elisabeths Rolle als Erzählerin, möglicherweise wegen ihrer unehelichen Geburt." Hinzu kamen fehlerhafte Einträge in den 200 Jahre alten Registern und falsche Annahmen der Forschung. "Für die Grimm-Forschung ist es von großer Bedeutung, wenn nun die Quelle von Aschenputtel und Der Goldene Vogel bekannt ist", so Ehrhardt, der in seinem Band auch die Vita Elisabeth Schellenbergs rekonstruiert. "Die Lebensumstände legen beispielsweise nahe, dass sie keinen Zugang zu Literatur und kaum Kontakt zu französischen Überlieferungen hatte."

Feenübergriffe

Psychologisch gibt es mannigfache Deutungen der Geschichte – einerseits entsprängen Aschenputtels Demütigungen einer egozentrischen Kindperspektive, andererseits gibt es auch die ödipale Lesung einer inzestuös geprägten Vater-Tochter-Beziehung in der, wie bei "Allerleirauh", die Tochter vor dem Vater flieht, der sie heiraten wolle. Interessant zudem, dass Disneys "Cinderella" eben nicht mit genau der gleichen Selbstermächtigung wie das Aschenputtel aufwartet: Cinderella brauchte bekanntlich mindestens eine Fee, die ihr steckte, wo der Frosch seine Locken hat beziehungsweise wie man auf einem Kürbis und ein paar weißen Mäusen zum Ball reitet. (Der Freitag veröffentlicht hier hinter einer paywall übrigens auch Recherchen zu den Ursprüngen der erfolgreichen deutsch-tschechischen Koproduktion.)

Und trotz all dieser interessanten Details und dem selbstermächtigenden Grundgedanken braucht es dennoch keine Neuverfilmung. Egal ob linear oder nicht: Der Film reicht! Er ist einfach zu gut, um ihn neuzuinterpretieren.


Altpapierkorb

+++ Martin Semmelrogge zieht ins Dschungelcamp ein, berichtet unter anderem der Spiegel. Außerdem Claudia Effenberg und der "Ich will Spaß"-Sänger Markus, dessen NDW-Hit damit irgendwie noch anachronistischer als ohnehin wird. +++

+++ Die FAZ meldet, dass Berlusconi stärker bei ProSieben einsteigen will: "Die Medienholding des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi hat in Österreich die vollständige Kontrolle des deutschen TV-Konzerns ProSiebenSat.1 bekanntgemacht." +++

+++ Und noch eine kleine Kultfilmmeldung: Eine Figur des sympathischen Außerirdischen E.T. wurde für 2,5 Millionen Dollar verkauft, berichtet der Stern. Vor ein paar Wochen hatte die Schauspielerin Drew Barrymore, die damals mirt ebendiesem Model vor der Kamera stand, in ihrer Talkshow erzählt, sie habe die Figur für echt gehalten. Wahrscheinlich geht es dem anonymen Käufer genauso. +++

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