Das Altpapier am 30. März 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 30. März 2023 Der Schatten der Baumwolle

30. März 2023, 11:49 Uhr

Der "Guardian" stellt sich seiner Vergangenheit. Eine Untersuchung deckt die Verbindung von Gründern und Geldgebern in den Sklavenhandel auf. Was bedeutet das für die Gegenwart? Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Der Guardian und die Sklaverei

Der britische "Guardian" hat vor drei Jahren eine unabhängige Untersuchung in Auftrag gegeben, die klären sollte, ob und in welchem Maße Gründer und Geldgeber der Zeitung ihren Reichtum mit der Arbeit von Sklaven verdient haben. Der Verdacht bestand, weil Gründer John Edward Taylor Baumwollerbe war und das Geld bei reichen Geschäftsleuten aus Manchester eingesammelt hatte, die ihr Geld in großen Teilen ebenfalls mit dem Handel von Baumwolle machten. 

Das Ergebnis der Untersuchung ist am Dienstag erschienen. Herausgekommen ist: Der Verdacht war nicht so ganz falsch. Sowohl Taylor als auch mindestens neun seiner elf Geldgeber hatten enge Verbindungen zur Sklaverei.

Die Zeitung hat ein ganzes Dossier aus Artikeln veröffentlicht, die sich mit ihrer Baumwollvergangenheit beschäftigen. Die Historikerin Cassandra Gooptar erklärt in einem der Texte, wie sie und ihr Team vorgingen. Sie zeigt auf, wer die Geldgeber waren und erklärt ihre Verbindungen zur Zeitung. In einem weiteren Beitrag nennt die Zeitung alle Namen der 300 versklavten Menschen, die mit den Gründern in Verbindung standen.

In einem Übersichtsartikel fasst die Zeitung die Untersuchungsergebnisse zusammen. Darin bittet der heutige Eigentümer der Zeitung, die Stiftung Scott Trust, um Entschuldigung und kündigt ein umfangreiches Wiedergutmachungsprogramm über einen Zeitraum von zehn Jahren an, das zehn Millionen Pfund kosten soll.

Die Zeitung schreibt, sie hoffe, mit ihrer Untersuchung auch Vorbild für andere Institutionen zu sein, die sich bislang nicht mit ihrer Verstrickung in den Sklavenhandel beschäftigt haben.

Einen Grund dafür erklärt der Historiker David Olusoga in einem Essay, der ebenfalls im "Guardian" erschienen ist. Olusoga wurde in Nigeria geboren und lebt heute in Manchester. Er hat sich lange mit dem Thema beschäftigt. Die Frage, wie das eigentlich damals beim "Guardian" war, hätte ihm also durchaus schon begegnen können. Aber nach seiner eigenen Erklärung wurde Olusoga die Verbindung erst klar, als man ihm bei der Zeitung von der geplanten Untersuchung erzählte. Das beschreibt er als "kognitive Dissonanz", deren Funktionsweise er so beschreibt (Übersetzung mit Deepl.com, wie auch alle weiteren):

"Die Illusion, um die es hier geht, funktioniert so: Sie grenzt die Geschichte der Sklaverei und des Imperiums aus und sperrt sie in separate Bereiche. Sie schafft Brandmauern, die die Geschichte fein säuberlich abtrennen und die großen Ströme von Geld, Rohstoffen, Menschen und Ideen, die zwischen den weit entfernten Plantagen an den kolonialen Grenzen und dem imperialen Mutterland hin und her flossen, fast unsichtbar machen. Was in diesen Kolonien geschah, wird entweder ignoriert oder als unbedeutend abgetan, von Interesse vielleicht nur für einige wenige Minderheiten oder eine Handvoll Geschichtsspezialisten, aber ohne größere Bedeutung."

Nach dieser Erzählung beendeten die Briten die Sklaverei deutlich früher als andere Länder. Im Grunde schon, bevor es den "Guardian" überhaupt gab. Im Jahr 1807 verbot ein Gesetz den Sklavenhandel in Großbritannien, 14 Jahre später gründete Taylor die Zeitung. Das erste Gesetz änderte zwar nicht viel an der Praxis, das folgt erst im Jahr 1833, als ein weiteres Gesetz die Sklaverei in Großbritannien endgültig abschaffte. Doch auch danach profitierte vor allem die Textilindustrie von der Sklaverei. Und das wird heute gerne vergessen. Die Unternehmen kauften und verarbeiteten weiterhin Baumwolle, die von versklavten Menschen hergestellt worden war. Und das hatte Folgen, die in ihren Ausmaßen nur dann sichtbar werden, wenn man sich die Zusammenhänge verdeutlicht.

"Guardian"-Chefredakteurin Katharine Viner beschreibt in einem Leitartikel, wie die Verbindung zu Menschen, die vom Sklavenhandel profitierten, also den Geldgebern, auch die Berichterstattung beeinflusste:

"Als die Sklavenhalter 1833 eine hohe Abfindung für die Überlassung ihres menschlichen ‚Eigentums‘ forderten, unterstützte ein Leitartikel des Guardian sie mit dem Argument: ‚Wir sind überzeugt, dass kein Plan zur Abschaffung der Sklaverei würdig gewesen wäre (…), der nicht auf den großen Prinzipien der Gerechtigkeit gegenüber dem Pflanzer [d. h. dem Sklavenhalter] wie auch gegenüber dem Sklaven beruhte."

Die Sklaven sollten Gerechtigkeit in Form von Freiheit erfahren, die Sklavenhalter in Form von Geld. Und so kam es: Die Sklavenhalter bekamen 20 Millionen Pfund, die befreiten Menschen gar nichts. So führte das Ende des Sklavenhandels viele Menschen nicht nur in die Freiheit, sondern auch in die Armut, Obdachlosigkeit und in ausweglose Situationen. Die Zeitung begünstigte das mit ihrer Berichterstattung. Das ist die kurzfristige Perspektive, aber es gibt auch eine langfristige, die bis in die heutige Zeit reicht.

Der Historiker David Olusoga formuliert sie in einem Essay in Form einer Frage:

"Für den Guardian und Tausende britischer Institutionen lautet die grundlegende Gleichung: Wenn wir Reichtum erben und über Jahrhunderte von Zinseszinsen profitieren können, erben wir dann nicht auch gleichermaßen die Verantwortung?"

Die Sklaverei habe zwei Vermächtnisse hinterlassen, schreibt Olusoga. Das erste sei Ungleichheit, die sich im Verlauf der Jahre verfestigte und vergrößerte. Das zweite sei eine "Hierarchie der Rasse und die Stereotypen, die mit Menschen afrikanischer Herkunft verbunden sind". Sie seien von den um sie herum entstandenen Lobbys erfunden und propagiert worden. Diese Ideen seien auch heute noch in der Kultur verankert, sie reichten hinein in die Sprache und sogar bis ins Unterbewusstsein.

Die Aufarbeitung soll nun nicht mit der Artikelserie enden. Der "Guardian" will sie weiter fortsetzen, mit Essays, interaktivem Journalismus, Videos, Podcasts und einem Newsletter. Zu dem angekündigten Wiedergutmachungsprogramm sollen zudem Projekte gehören, die für Folgen der Sklaverei sensibilisieren und Schwarze Menschen im Journalismus fördern. Am Samstag will die Zeitung eine Beilage veröffentlichen, "einschließlich Features und Essays von einigen der weltbesten Denker über Rasse und Geschichte", schreibt Katharine Viner in ihrem Leitartikel. Dort zitiert sie auch den Schriftsteller James Baldwin. Er soll gesagt haben: "Nicht alles, dem wir uns stellen, kann geändert werden, aber nichts kann geändert werden, bevor wir uns dem stellen."

Der NDR und sein Führungsproblem

(In der ursprünglichen Fassung stand hier eine Passage über den "Klima-Bericht" des NDR, also die Untersuchung zur Unternehmenskultur beim Sender. Damit hatte Christian Bartels sich auch gestern schon ausführlich im Altpapier beschäftigt. Das hatte ich beim Schreiben kurz vergessen. Um Déjà-vus und Kopfschütteln zu vermeiden, haben wir die Passage wieder gelöscht.)

Altpapierkorb (Russischer Cyberkrieg, US-Journalist, taz-Karikatur, Bundesverfassungsgericht, Anschlag, RBB, Papst, Künstliche Intelligenz, Helmut Kohl, Freien-Honorare)

+++ Der "Spiegel" hat bei Twitter für heute die Veröffentlichung einer großen Recherche dazu angekündigt, wie Russland seinen Cyberkrieg führt. Beteiligt sind laut dem Magazin neun weitere Medien, unter anderem das ZDF-Magazin "Frontal", die "Washington Post", der "Guardian", die"Süddeutsche Zeitung" und der "Tagesanzeiger".

+++ Am Morgen kam dann noch die Eilmeldung rein, dass russische Behörden den amerikanischen Journalisten Evan Gershkovich festgenommen haben, der für das "Wall Street Journal" arbeitet. Der Vorwurf gegen ihn lautet wie so oft, wenn Diktaturen der freien Presse den Mund zuhalten wollen: Spionage.

+++ Die "taz" hat am Mittwoch eine Karikatur veröffentlicht, die Verkehrsminister Volker Wissing in einer Goebbels-Uniform zeigt. Später löschte man die Karikatur. Chefredakteurinnen Barbara Junge und Ulrike Winkelmann baten um Entschuldigung. Die Deutsche Presseagentur liefert eine Zusammenfassung, hier zu lesen bei "Newsroom.de".

+++ Beim Bundesverfassungsgericht können ausgewählte Journalistinnen und Journalisten sich ab sofort nicht mehr am Abend vor wichtigen Entscheidungen Presseerklärungen im Gerichtsgebäude abholen, berichtet unter anderem Jochen Zenthöfer auf der FAZ-Medienseite. Das Gericht begründet das mit den "in den vergangenen Jahren eingetretenen Veränderungen des Umfelds". Das klinge ominös, doch dahinter stehe ein einfacher Grund, schreibt Zenthöfer. Die "Bild"-Zeitung und der "Tagesspiegel" hätten sich über die Praxis beschwert.

+++ Unbekannte haben das Haus eines Journalisten in Braunschweig mit roter Farbe und rechtsextremen Inhalten beschmiert, ein brennendes Teelicht aufgestellt, wie man es von Gräbern kennt, und rohes Fleisch in den Briefkasten geworfen. Wie die Deutsche Presseagentur berichtet, hier bei der "Welt", wertet die Polizei das aber erst mal nur als "Sachbeschädigung". Man kann ja nie wissen.

+++ Um Geld zu sparen hat der RBB den Vertrag zur gemeinsamen Nutzung des Mittagsmagazin-Studios im Berliner Zollernhof mit dem ZDF gekündigt. Dabei sei gerade diese Zusammenarbeit ein "Musterbeispiel" füröffentlich-rechtliche Kooperationen gewesen, schreibt Claudia Tieschky auf der SZ-Medienseite. RBB-Intendantin Katrin Vernau hatte angekündigt, dass ihr Sender bis zum nächsten Jahr 49 Millionen Euro sparen müsse, um die Finanzierung des Senders zu sichern. Wie es mit dem Studio weitergeht, ist nicht klar. Vernau wünsche ihrer eigenen "Mittagsmagazin"-Redaktion, dass die ARD eine Lösung finde, schreibt Tieschky.

+++ Nach der "Hart aber Fair"-Talkshow mit Sahra Wagenknecht sind laut der Sächsischen Zeitung mehr als 25 Eingaben beim Presserat eingegangen, in denen das Verhalten von Moderator Louis Klamroth bemängelt werde. Klamroth hatte Wagenknecht in der Sendung korrigiert, musste seine eigenen Aussagen aber später selbst relativieren (Altpapier).

+++ Ein Bild vom Papst im Daunenmantel hat im Netz für viel Verwirrung gesorgt. Das Problem war: Die gezeigte Szene hatte es so nie gegeben. Eine künstliche Intelligenz hatte das Foto erstellt. Der Medienethiker Christian Schicha von der Uni Erlangen sagt im Gespräch mit dem Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" einerseits, Probleme mit gefälschten Bildern habe es auch schon gegeben, als KI-Software noch nicht verfügbar war. Und problematisch seien nicht nur gefälschte Bilder, sondern auch Bilder, die in falschen Kontexten gezeigt würden– etwa Fotos aus dem Syrien-Krieg, die nun in einen Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine gestellt würden. Trotzdem plädiert Schicha für neue Regelungen zur Nutzung und von KI und für das Fach Medienkompetenz in der Schule.

+++ Eine Gruppe aus über 1.300 Menschen, darunter "OpenAI"-Mitgründer Elon Musk und der Chef der KI-Firma "Stability AI", will erreichen, dass die Forschung an künstlichen Intelligenzen erst einmal ausgesetzt wird, um ein Regelwerk für die Technologie zu schaffen. In dem offenen Brief, den sie unterzeichnet haben, heißt es:"Moderne KI-Systeme werden bei allgemeinen Aufgaben mit Menschen konkurrenzfähig, und wir müssen uns fragen: Sollen wir zulassen, dass Maschinen unsere Informationskanäle mit Propaganda und Unwahrheiten überfluten? Sollen wir alle Aufgaben automatisieren, einschließlich derer, die uns erfüllen? Sollen wir nichtmenschliche Gehirne entwickeln, die uns schließlich zahlenmäßig übertreffen,überlisten,überflüssig machen und ersetzen könnten? Sollen wir riskieren, die Kontrolle über unsere Zivilisation zu verlieren? Solche Entscheidungen dürfen nicht an ungewählte Technologieführer delegiert werden. Leistungsfähige KI-Systeme sollten nur dann entwickelt werden, wenn wir sicher sind, dass ihre Auswirkungen positiv und ihre Risiken überschaubar sind."

+++ Das Bundesverwaltungsgericht hat die Klage einer Journalistin abgelehnt, die Herausgabe und Wiederbeschaffung von Akten des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl gefordert hatte, berichtet das Nachrichtenportal "n-tv". Die Akten, die die Journalistin gern sehen würde, sollen bei Kohl zu Hause gelandet sein und sich jetzt bei dessen Witwe Maike Kohl-Richter befinden, die das jedoch verneint. Das Gericht sieht keinen Anspruch darauf, dass die Dokumente wiederbeschafft werden müssen. Die Journalistin will nun in Karlsruhe eine Verfassungsbeschwerde einlegen.

+++ Joachim Budde vom Berufsverband "Freischreiber" hat mit Holger Klein für den "Übermedien"-Podcast "Holger ruft an" über die schlechte Bezahlung von freien Journalistinnen und Journalisten gesprochen.

Das Altpapier am Freitag schreibt René Martens.

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