Das Altpapier am 15. Mai 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 15. Mai 2023 ESC, oh yeah, oh je

15. Mai 2023, 09:22 Uhr

Monothematische "Tagesthemen" wie kürzlich aus einem Atomkraftwerk oder aus Istanbul: Ist das eine gute Idee? Außerdem: Wolodimir Selenskij durfte nicht beim "Eurovision Song Contest" sprechen. Nebenbei endete der Wettbewerb mit einem letzten Platz für den deutschen Beitrag und der Frage: Sollte der NDR mal den Trainer wechseln? Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Wir schalten in die Türkei

In der Türkei und in Bremen wurde gewählt. Für die Welt ist die Türkei-Wahl von größerer Bedeutung, weshalb sie auf den überregionalen deutschen Nachrichten- und Einordnungsportalen auch ausführlicher und weiter oben behandelt wurde. Hinzu kommt, dass die Ergebnisse aus Bremen deutlich weniger Dynamik hatten: Am Ergebnis dort änderte sich schon nach der ersten Hochrechnung nicht mehr viel. Anders in der Türkei, wo bereits die Verkündung von Zwischenergebnissen nicht als Journalismus, sondern als Kommentar und Einflussnahme gelesen wurde. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete früh einen ordentlichen Vorsprung für Amtsinhaber Erdogan, die türkische Opposition sprach dagegen von Manipulation durch Anadolu. In Deutschland kam das als "Widersprüchliche Umfrageergebnisse" oder "Riesen-Streit" an. Später als "Nervenkrieg".

In vielen deutschen Berichten vom Sonntagabend fand sich ein erklärender Satz wie dieser: "Die Staatsagentur veröffentlicht in der Regel zunächst die Auszählungsergebnisse in Erdogan-Hochburgen. Die ersten Daten lassen daher noch keine Rückschlüsse auf das Endergebnis zu." Insofern war die Überschrift "Opposition wirft Staatsmedien Manipulation vor", wie sie spiegel.de gegen 21 Uhr wählte, sicher die bessere als die von tagesschau.de, wo es hieß: "Erdogan liegt laut Teilergebnissen vorne".

Den Umgang der "Tagesthemen" mit der Türkei-Wahl hat sich Peer Schader für seine dwdl.de-Kolumne angeschaut. Anlass dafür bot eine Sendung aus der vergangenen Woche, die aus Istanbul gesendet wurde. Er ist ambivalent:

"(E)ine Nachrichtensendung, die den Anspruch hat, ihrem Publikum das tagesaktuelle Weltgeschehen zusammenzufassen und einzuordnen, war's halt nicht. Das ist nicht weiter schlimm. Im Gegenteil: Dass sich die ARD traut, eines ihrer Nachrichtenflaggschiffe nicht immer nur stur aus sicherer Entfernung von außen auf die Welt blicken zu lassen, ist durchaus begrüßenswert. Dafür lässt sich auch mal eine veränderte Schwerpunktsetzung in Kauf nehmen. Bloß wird die Ausnahmesituation gerade zur Gewohnheit."

Denn eine ganze Sendung aus dem Atomkraftwerk Isar2 gab es ja auch erst kürzlich. Schader fragt sich daher, ob es eine "gute Idee ist, wenn die Redaktion einer klar strukturierten aktuellen Sendung wie den 'Tagesthemen' plötzlich in schöner Regelmäßigkeit ihre Liebe zur Monothematik entdeckt und dafür ihre übrigen Verpflichtungen herunterdampft. Ich glaube: leider eher nicht."

Er wäre eher "für ein wiederkehrendes Schwerpunktformat (…) in zeitlicher Ergänzung zur regulären Ausgabe", schreibt er.

Ich kann den Argumenten etwas abgewinnen, den Außenstunts der "Tagesthemen" allerdings auch. Inflationär darf man sie gewiss nicht einsetzen. Aber sie sind eine Möglichkeit, ein Thema nach vorne zu kuratieren. Die Sendungen von außerhalb haben das Ziel, herausragend Wichtigem eine besondere Schaufensterfläche zu bieten, das – wie die Wahl in der Türkei – zudem eine sehr große Zahl von Menschen in Deutschland schon deshalb sehr interessiert, weil sie selbst an der Wahl teilnehmen konnten. Man kann auch argumentieren: Für andere Themen gibt es an solchen Abenden ausnahmsweise mal nur das "heute journal".

Selenskij war nicht beim ESC

Keine "Tagesthemen"-Sondersendung nötig wurde für den Eurovision Song Contest, kurz ESC, der am Samstag in Liverpool veranstaltet wurde. Am Sonntag war er das quantitativ deutlich größte Medienressortthema, was nicht überraschend war, denn mit dem internationalen Unterhaltungswettbewerb verhält es sich wie mit den letzten internationalen Männerfußballwettbewerben: Irgendwas gibt es halt doch immer zu erörtern, wenn der deutsche Beitrag wieder mal nicht gut ankam.

Ans Weltgeschehen anschlussfähig war die Nachricht, dass der Präsident der Ukraine, Wolodimir Selenskij, nicht beim ESC sprechen durfte, obwohl die Ukraine im vergangenen Jahr den Wettbewerb gewonnen hatte. Unter dem nicht schlechten Titel "Ein bisschen Frieden" schreibt Joachim Hentschel in der "SZ":

"Eine Selenskij-Rede beim Finale in Liverpool am Samstag hatte die EBU (…) abgelehnt: Der Contest sei nun mal keine politische Veranstaltung, hieß die Begründung. Dass man dem Präsidenten in der Absage noch generös 'lobenswerte Absichten' zugestand, machte die Demütigung noch umfassender."

Ein interessantes Gespräch über den Grund für die Absage hatte am Samstag die "Frankfurter Allgemeine" auf ihrer Medienseite. Peter-Philipp Schmitt hatte es mit Frank-Dieter Freiling geführt, der beim ZDF höhere Ämter im Hintergrund bekleidet und bis zu diesem ESC "Vorsitzender der Reference Group bzw. des Boards, Eurovision Song Contest" gewesen ist. Freiling sagt:

"Wir unterscheiden sehr deutlich zwischen auf der Bühne und hinter der Bühne. Auf der Bühne gilt das Prinzip: keine Statements, kein Gemeinmachen mit einem politischen Thema oder einer politischen Sache."

Das klingt seltsam, weil der ESC als offen politische Veranstaltung gelesen werden kann, nur eben nicht als politisch im Sinn von Verteidigungsministerium. Gleichwohl sind solche Regeln begründbar, genau wie das Verbot politischer Äußerungen, das es bei anderen internationalen Sport- oder Unterhaltungsgroßveranstaltungen gibt. Zum Beispiel ist es damit begründbar, dass, wenn die einen ein politisches Statement abgeben dürfen, andere das auch dürfen wollen. Was dann im Zweifel auch für ein reaktionärer Senf zugelassen werden müsste, will man sich lieber nicht vorstellen.

Ob die Abwägung, was erlaubt ist und was nicht, immer gelingt, ist eine andere Frage. Die "FAZ" kommt im Gespräch mit Freiling auf einen ESC-Song von 2009 zu sprechen, den georgischen Beitrag "We Don’t Wanna Put In": "Das wurde nach dem Kaukasuskrieg ein Jahr zuvor als Anspielung auf Wladimir Putin verstanden, gesungen klang es wie: Wir wollen keinen Putin. Die Reference Group sah einen Regelverstoß, die Band sollte das Lied umschreiben, Georgien verzichtete auf eine Teilnahme." Den diesjährigen Beitrag aus Kroatien dagegen, "Mama ŠČ!", in dem es ebenfalls um Putin geht, nur ohne dass die Buchstaben p, u, t, i und n in einer Reihe auftauchen, bezeichnet Freiling als "künstlerisch verbrämt, Putin und Lukaschenko werden nicht direkt angesprochen, das gehört allemal zur künstlerischen Freiheit. Wir leben in einem Umfeld der Zeitgeschichte, deshalb wird und darf das auch reflektiert werden".

So ganz klar wird mir der Unterschied zwischen Texten, die als Kunst durchgehen, und solchen, die es nicht tun, hier nicht. Allerdings bin ich auch nicht der größte Experte. Wohl deswegen habe ich auch bei der Lektüre des "epd Medien"-Beitrags von Lukas Respondek (frei lesbar bei turi2.de) einigermaßen erstaunt zur Kenntnis genommen, dass es vorab doch einiges an öffentlich-rechtlicher ESC-Berichterstattung gab. Von Leuten etwa, von denen man womöglich noch hören wird, wie dem "ESC-Reporter Consi" im Onlineformat "Alles Eurovision".

Diesen Mann, Constantin Zöller vom SWR, versuchte am Wochenende der in SWR-Kreisen gut connectete Thomas Gottschalk als seine Entdeckung zu verkaufen. Im Rahmen eines patriotisch gekränkten Instagram-Posts, in dem er mimimimonierte, dass Deutschland vom Rest Europas "doch inzwischen verarscht" werde, "was die Bewertung beim ESC angeht", empfahl er Zöller als Nachfolger von ESC-Kommentator Peter Urban: "Ich erkenne ein Radiotalent, wenn ich es höre. Er ist eines!"

Kann der NDR ESC?

Aber apropos "wir sind toll, die anderen sind blöd": Wer ist wirklich verantwortlich dafür, dass der deutsche Beitrag in diesem Jahr wieder einmal ganz hinten landete? Bei zdf.de vermutet man eher: der NDR.

"Eine schlechte Songauswahl im Vorfeld führt zu schlechten Ergebnissen. Die Frage, ob der verantwortliche Sender NDR auch weiterhin die Federführung für den ESC innerhalb der ARD haben sollte, lässt ein Sprecher unbeantwortet. Etwas vage sagt Andreas Gerling: 'Der Diskussion und Überlegung, warum auch dieser Titel beim ESC nicht verfangen hat, müssen und werden wir uns jetzt stellen.' Deutlicher wird dafür NDR-Redakteur Thomas Mohr. Er fordert personelle Konsequenzen im eigenen Sender. Vielleicht sollten den ESC künftig Menschen machen, deren Herz dafür schlägt, sagt er eurovision.de."

Die Quote freilich war für ESC-Verhältnisse gut, und das wird von der ARD tendenziell nach vorne gerückt. Besser als die Quote eines "Tatorts" war sie eigentlich gar nicht, schreibt Michael Hanfeld bei faz.net, aber aus dem jüngeren Publikum hätten eben doch erstaunlich viele eingeschaltet, so Uwe Mantel bei dwdl.de. Er merkt an, "dass sich auch nach Jahren des musikalischen Misserfolgs offenbar immer noch sehr viele von dem Spektakel bestens unterhalten fühlen – und die ARD mit einem ähnlich großen Investment wohl kaum eine vor allem beim jüngeren Publikum ähnlich erfolgreiche andere Show produzieren könnte".

Es bleiben mehrere Möglichkeiten für die Zukunft des ESC in Deutschland:

a) Man will im linearen Fernsehen in erster Linie eine Samstagabendshow zeigen, die gerade Jüngere einschalten. Das ist die Variante "Weiter so".

b) Man will an einem Wettbewerb teilnehmen mit einem Beitrag, der zeigt, dass man den Wettbewerb verstanden hat. Dann wär’s vielleicht doch mal Zeit für einen Trainerwechsel.

c) Man schneidet sich eine Scheibe von "Eddy the Eagle" ab: Michael Edwards alias Eddy the Eagle war ein Skispringer, der im Weltcup startete und so gut wie immer klarer Letzter wurde. Aber: lustig. Dann könnte man nächstes Jahr mit einem Song antreten, der garantiert keinen einzigen Punkt kriegt, aber am lustigsten von allen ist. Aber ob man das wirklich hinkriegen würde im Land der "neidzerfressenen Arschgesichter" (Olli Schulz)?


Altpapierkorb (ESC-Kommentatoren, Linda Yaccarino, RBB-Intendanz)

+++ Apropos Olli Schulz: "Während in der ARD der seit 26 Jahren beim ESC aktive Peter Urban mit der gewohnten Seelenruhe seine Abschiedsperformance gab, funktionierten Jan Böhmermann und Olli Schulz parallel (im Online-Angebot des ORF) die tradierte Form zu einer Art Live-Podcast um, in der auch endlich die Frage den verdienten Raum bekam, was der Sprecher eigentlich machen soll, wenn der stimmschonende Kamillentee plötzlich auf die Blase zu drücken beginnt." Schreibt Joachim Hentschel in seinem oben schon erwähnten Text in der "Süddeutschen".

+++ Das neue ESC-Kommentatoren-Duo des ORF brachte im Vergleich zu den Vorjahren ein wenig Abwechslung in die Nachbetrachtung. Manche Redaktion nutzte lediglich die Möglichkeit, Böhmermann und Schulz ausführlich nachzuerzählen. Das ist ja für Medien, die mit Promi-News handeln, eh das Gute an Podcasts und Audios: Man hat jederzeit ohne viel Aufwand was zu zitieren, hat es aber als Textmeldung quasi exklusiv. Rezensionen der Kommentatoren-Performance gab es aber auch; spiegel.de fand etwa, Böhmermann und vor allem Schulz hätten’s ganz gut gemacht: "Ihre Arbeit an diesem Abend zeigte vor allem, wo der subjektive Blick von der Seite (oder aus einer Kabine knapp unter dem Hallendach) der auktorialen Erzählerstimme eines Peter Urban überlegen ist – und wo nicht. (…) Wenn ein Urban den Leitartikel auf Seite 1 schreibt, dann zeichnen Schulz und Böhmermann zum gleichen Thema den Cartoon auf der letzten Seite."

+++Linda Yaccarino. So heißt Meldungen zufolge die kommende Twitter-Chefin, und ob das eine gute Nachricht ist, wird sich weisen. Von ihrer Ankündigung, die Musksche "Vision" aufzugreifen, bis zu "Antithese zu Musk" (standard.at) gibt es doch so einige Einordnungen. Die Erfahrung lehrt: abwarten hilft.

+++ Beim RBB steht die Neu- oder Altbesetzung der Intendanz bevor, und der "Tagesspiegel" sieht ein Problem in der fehlenden "Präzisierung der Bewerbungsvoraussetzungen": "Bereits zuvor wurde darüber debattiert, ob der RBB besser dem MDR oder dem NDR zugeschlagen werden sollte. Ohne eine Führung, die sowohl von den Gremien als auch von den Beschäftigten unterstützt wird, könnte es schnell zu einer Neuauflage dieser Diskussion kommen."

Neues Altpapier gibt es am Dienstag, dann von Christian Bartels.

Mehr vom Altpapier

Kontakt