Das Altpapier am 17. Mai 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 17. Mai 2023 Deutliche Worte, harte Zahlen

17. Mai 2023, 10:06 Uhr

Medien als "Wachhund" im "Meinungskampf" dürfen einiges, urteilt der BGH. Anstalts-Intendanten sollten weniger verdienen, findet ein Rechnungshof. Steigen wöchentlich zwei Medienschaffende aus ihrem Beruf aus? Außerdem: die Hans-Abich-Frage. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Karlsruher Urteil zur Tagebuch-Frage

Das sind schön deutliche Worte, kein Wunder, dass sie breit vermeldet werden: "Überragendes Informationsinteresse der Öffentlichkeit", lautet die Antwort des Bundesgerichtshofs auf eine der vieldiskutierten Darf-man-aus-privaten-Mitteilungen-zitieren-Fragen (wie sie neulich hier im Korb genannt wurde). Bekanntlich will sich demnächst der Presserat, der kein Gericht ist, zur Frage äußern, ob aus Mathias Döpfners digitalen Textnachrichten zitiert werden durfte (AP gestern). Nun urteilte das Karlsruher Höchstgericht zur Frage, ob aus dem Tagebuch des Bankiers Christian Olearius zitiert werden durfte (der seinerzeit Chef der Bank M.M. Warburg war und inzwischen wegen des Cum-ex-Skandals selbst vor Gericht steht; dass in diesem Tagebuch und diesem Zusammenhang auch der inzwischen amtierende Bundeskanzler Scholz genannt wird, erhöht die Brisanz).

Die "SZ" durfte und darf also zitieren. "Ein weitreichendes Urteil mit hohem Stellenwert für den investigativen Journalismus", freut sich ihre Investigativ-Redaktion. Und auf der Medienseite erläutert Gerichtsreporter Wolfgang Janisch:

"Die Belange von Olearius seien 'nur in verhältnismäßig geringem Maß beeinträchtigt'. Dagegen habe die Medienfreiheit hier ein besonders hohes Gewicht. Die SZ habe mit der Wiedergabe der Aufzeichnungen 'einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit in höchstem Maße berührenden Frage geleistet', die sogar Gegenstand eines Untersuchungsausschusses sei. Und dafür ist laut BGH eben auch der Wortlaut wichtig. 'Den wörtlichen Zitaten kommt ein besonderer Dokumentationswert im Rahmen der Berichterstattung zu.' ..."

"Geistiger Meinungskampf" – muss man sich diesen deutlichen Fachbegriff nun merken? Von der "Funktion der Presse als Wachhund der Öffentlichkeit" sprach der Vorsitzende Richter Stephan Seiters außerdem. Frei online zu haben ist z. B., was die "FAZ" und Christian Rath in der "taz" schreiben.

Harte Zahlen aus dem Medien-Arbeitsalltag

Das sind mal harte Zahlen:

"Beim Vergleich der höchstmöglichen tariflichen Endvergütungen klafft ein gewaltiger Unterschied: 6.274,21 Euro im öffentlichen versus 10.329 Euro im öffentlich-rechtlichen Dienst."

Da empfehlen die Landesrechnungshöfe der Bundesländer Berlin und Brandenburg der gemeinsamen Landesrundfunkanstalt RBB, die Gehälter in Führungspositionen vom Niveau, auf das Ex-Intendantin Schlesinger (und ihre Vorgänger) sie heraufschraubten, auf das des öffentlichen Diensts herunterzuschrauben. Und zwar besonders, weil "die Leitungsorgane öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten ein deutlich geringeres Risiko als Geschäftsführungen von Unternehmen der privaten Wirtschaft" tragen, zitiert der "Tagesspiegel". Schließlich können öffentlich-rechtliche Anstalten, selbst wenn sie noch so schlecht geleitet würden, nicht pleite gehen. Gut, dass das mal so deutlich formuliert wurde. Ob die Empfehlung umgesetzt wird und falls ja, wie schnell, sind andere Fragen, mit denen sich die Verwaltungsräte der Anstalten befassen müssen, zu deren die Rechnungshöfe auch Ratschläge geben.

Ebenfalls harte Zahlen kommen aus einer andere Ecke der Arbeit für Medienunternehmen und von einem anderen Ende der Gehalts-Skala, wo weniger Führungsverantwortung auf gewiss nicht weniger Arbeit trifft. "Im Schnitt steigen jede Woche zwei Medien­schaffende aus dem Beruf aus", schreibt republik.ch und nennt dann ausdrücklich "die Namen von 129 Journalistinnen. Davon haben sich 95 im letzten Jahr und 34 seit Anfang 2023 aus dem Beruf verabschiedet"–  wobei das schweizerische Medium bei "Journalistinnen" zwar männliche Journalisten mitmeint, aber ausschließlich schweizerische. Lassen die Zahlen sich auf Deutschland übertragen und also vergrößern? Jedenfalls nennt der Longread Gründe für die bedenkliche Entwicklung, natürlich "das Problem unzähliger, oft unbezahlter Über­stunden". Und das Adjektiv "toxisch" fällt wiederholt im Zusammenhang mit "Arbeitsklima". (Dass das digitale Medium republik.ch im schweizerischen ... wie heißt das, Meinungskampf, selber attackiert wird, etwa vom "Tagesanzeiger" ("Medien-Start-up im Krisenmodus ...") und natürlich der "NZZ", verdient an dieser Stelle auch Erwähnung.)

Die Frage, ob es künftig vielleicht weniger Journalisten (und Journalistinnen) braucht, liegt ja schon des Trends zu KI à la ChatGPT wegen auch in der Luft. Da stellte gerade der Burda-Verlag – sonst in jünger zurückliegenden Jahrzehnten selten als innovativ aufgefallen – ein Experiment an. Und lagerte eine 2,99 Euro preiswerte Pasta-Sonderausgabe seiner Zeitschrift "Lisa kochen & backen" an Künstliche Intelligenz aus. Unter der hübschen Überschrift "KI mit Soße" schrieb die "Süddeutsche" am Wochenende:

"Das Heft sei 'mithilfe von Chat-GPT und Midjourney erstellt worden', bestätigt ein Verlagssprecher auf SZ-Nachfrage. Die Presseabteilung spricht von einem 'Experiment'. Man habe 'in sehr kurzer Zeit unter realistischen Bedingungen (inkl. Druck und Vertrieb)' analysieren wollen, 'inwieweit KI-Tools die Arbeitsabläufe bei der Erstellung von Print- wie Digitalprodukten sinnvoll unterstützen können'".

Wobei herauskam, dass die Mitwirkung von "insgesamt zehn richtigen Menschen" ("SZ") dann doch erforderlich war. "Keine Experimente mit der Glaubwürdigkeit" fordert der Bayerische Journalisten-Verband. Schon weil Glaubwürdigkeit von unterschiedlichen Seiten unterschiedlich bewertet wird, dürfte es aber kaum das letzte derartige Experiment gewesen sein.

Die Hans-Abich-Frage

Deutliche Worte lassen sich aus sichererer Entfernung umso leichter formulieren, was selbstverständlich nicht gegen sie spricht. Wenn nun etwa "116 Media Leaders From 42 Countries Call For The Release of Jimmy Lai", ist das aller Ehren wert. Der 75-jährige Verleger der Hongkonger Zeitung "Apple Daily" ist seit zweieinhalb Jahren eingesperrt und wird nun von "einer lebenslange Haftstrafe auf Grundlage des drakonischen Sicherheitsgesetzes" bedroht. Außer den Reportern ohne Grenzen berichtet die "taz".

Noch leichter fallen deutliche Worte mit zeitlichem Abstand, etwa zum Verhalten längst toter Menschen in der Nazi-Zeit und danach. Da wären aus Medien-Sicht etwa die Henri-Nannen-Frage (der sich "Die Zeit" aktuell wieder annimmt ...) und die Hans-Abich-Frage. Abich war von 1973 bis 1978 prägender Programmdirektor der ARD, zuvor Intendant bei Radio Bremen (als das noch eine größere Rolle spielte), davor Kinofilm-Produzent. Davor lag die Nazizeit. Er "hat falsche Angaben zu seiner Biografie während der Zeit des Nationalsozialismus gemacht", teilte die ARD Anfang Mai (Altpapier) mit, als sie ein 42-seitiges Gutachten des Salzburger Journalistik-Professors Thomas Birkner (PDF-Download) veröffentlichte. "Als Galionsfigur oder Vorbild taugt Hans Abich nicht mehr", zitierte dazu eine ausführliche Radio Bremen-Pressemitteilung den Vorsitzenden der Historischen Kommission der ARD, Christoph Singelnstein.

Vielleicht passt hier der Hinweis, dass Singelnstein sich aus völlig anderen Gründen auch nicht uneingeschränkt zur Galionsfigur eignen würde (weil er als Ex-Chefredakteur sowie Berater des RBB eine eher Verdienst-reiche als verdienstvolle Rolle spielte ...). Vielleicht ist so ein Hinweis überflüssig, da sowieso niemand Spitzenkräfte des gegenwärtigen öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Galionsfiguren in Betracht ziehen würde. In den frühen Jahrzehnten der BRD wurde der öffentlich-rechtliche Rundfunk aus dem Nichts aufgebaut ... und dann sehr groß, so dass er nun froh sein kann, wenn er nicht zu stark zurückgebaut werden wird. Schon daher dürften künftige Generationen kaum auf die Idee kommen, Tommy-Buhrow- oder Kai-Gniffke-Preise (oder einen Christine-Strobl-Preis für Regionalkrimis oder Herzkino) auszuloben. Aber einen Hans-Abich-Preis gab es auf dem Baden-Badener Fernsehfilmfestival, und der wird nach 2021 begonnenen Diskussionen nun wohl auf Dauer nicht mehr so heißen.

Das erzürnte dann, eine Woche nach der Pressemitteilung, Günter Rohrbach – wie Abich ein ehemaliger Filmproduzent und Sendermanager, Jahrgang 1928  (und damit zehn Jahre später geboren), nach dem übrigens auch ein Preis benannt ist. "Die ARD entehrt ihren ehemaligen Programmchef wegen seiner Vergangenheit im Nationalsozialismus", schimpfte Rohrbach in der "FAZ" und nannte das "Skandal". U. a. argumentierte er:

"Hans Abich hatte mit 11 Jahren Kinderlähmung. Er hat sie überlebt, aber eine schwere körperliche Behinderung davongetragen. Aus der Sicht des Systems war er fortan ein Mensch, den man mit dem Stigma 'unwertes Leben' belegte."

War das so? Sprach Abich, der 2003 starb und in seinen letzten Lebensjahren und -jahrzehnten als gefragter Gesprächspartner viel sprach, davon? Allen, die tiefer einstiegen möchten, bietet "epd medien" weiteren Stoff. In Birkners Gutachten wird wiederholt Lutz Hachmeister erwähnt, der insbesondere wegen seiner 1998 veröffentlichten Habilitation "Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six" einer der besten Kenner der Nazizeit-Verstrickungen des Nachkriegs-Journalismus ist. Dieser Dissertation halber sprach Hachmeister 1990 in Marl, wo er damals das Grimme-Institut leitete, mit Abich. Eine Schriftfassung dieses Rechercheinterviews stellte er Birkner zur Verfügung, und nun erschien sie auf sieben Seiten der aktuellen "epd medien"-Ausgabe (nicht aber online). Zum Beispiel steht da die Hachmeister-Frage zur Nazizeit: "Wie würden Sie Ihre eigene politische Einstellung von damals kennzeichnen?". Und Abichs Antwort: 

"Das kann ich Ihnen in ganz wenigen Sätzen schildern. Da muss man ja immer vorsichtig sein, dass keine rückwärtigen Einstellungen hineinspielen ... Rückwärtige Reflexionen. Erster Punkt: Ich habe später immer Jahrgangsfreunde gehört, die gesagt haben: 'Wir mussten ja ins Jungvolk.' - 'Ja', sage ich, 'ja, der Unterschied: Ihr musstet.' Mein Problem war das nicht. Mein Problem war, ob ich durfte. Ich hatte die Kinderlähmung mit elf und wusste: Die lassen mich nicht mitmachen. Die ließen mich aber mitmachen. Meine Mutter hat mich dann manchmal gefragt, weil ich immer begeistert davon berichtete, Geländespiele und Nachtübungen und so weiter, also, dass ich mitmachen konnte. Meine Spezialität wurden Gepäckmärsche, leider verboten für mich gewesen, aber gut. Meine Mutter hat mich manchmal gefragt: 'Junge, fühlst du dich da nicht unfrei?' Ich habe mich da sehr wohl gefühlt, habe auch einen wunderbaren Jungmannführer kennengelernt, der, als mein Vater ins KZ kam, den mir wieder rausgeholt hat. Also habe ich in der Jugendstufe nur gute Erlebnisse gehabt."

Schwierige Gemengelagen, verdammt schwer einzuschätzen im Abstand von Jahrzehnten. Wobei ja auch niemand gezwungen ist, immer alles einzuschätzen. Ob der Abich-Preis, den jenseits des Preisträger-Kandidatenfelds ohnehin wenige kennen, anders heißen sollte oder gerade Abichs Name als Anstoß für fundierte Diskussionen taugt – mir schiene gerade beides plausibel. Wobei man ja auch nicht immerzu zu allem eine Meinung äußern muss. Falls deutliche Worte aktuell überhaupt noch größeren Eindruck machen, dann am ehesten dann, wenn man nicht zu oft welche formuliert.


Altpapierkorb ("Barbara", Deutsche Welle-Ärger, Mindestlohn, Wächterpreis, MDR-Rundfunkrat)

+++ Die "SZ"-Medienseite schaut schon wieder in eine Zeitschrift, und zwar in die vorvorletzte "Barbara" – also das Ex-Gruner+Jahr-, nun RTL-Heft rund um den Allzweck-Medienmenschen Barbara Schöneberger, das sein Erscheinen bald einstellen muss. Es zeige, "wie man mit Humor eine traurige Sache zu Ende bringt", lobt Harald Hordych. +++

+++ U. a. im "Tagesspiegel" geht es um fortgesetzten Ärger bei der Deutschen Welle (Altpapier): "Die freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter protestieren in einem Offenen Brief gegen 'Kündigungen, die Abschaffung von Deutsch und die Auslagerung von Journalismus in Billiglohnländer'". +++

+++ Spätestens die nächste Erhöhung des Mindestlohns, an der die Bundesregierung arbeitet, "würden ... viele Zeitungsverlage nicht stemmen können. Sie müssten daher bei vielen ihrer lokalen Zeitungsmarken radikal auf rein digitale Angebote umschwenken", schreibt Gregory Lipinski bei meedia.de. +++

+++ Der Wächterpreis der Tagespresse geht 2023 an den, der ihn bereits 2014 und 2017 gewann: Joachim Frank vom "Kölner Stadt-Anzeiger", wegen seiner Recherchen über den Missbrauchsskandal der katholischen Kirche. +++

+++ Und noch'n Prozess verdient hier Erwähnung: Vorige Woche wies das Verwaltungsgericht Leipzig eine Klage gegen den MDR-Rundfunkrat ab, bei der es um Streit um einen Platz in diesem Rundfunkrat ging (flurfunk-dresden.de). +++

Das nächste Altpapier kommt am Freitag nach Himmelfahrt von René Martens.

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