Das Altpapier am 24. Mai 2023: Porträt der Altpapier-Autorin Johanna Bernklau
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 24. Mai 2023 Vergesslichkeit fördert Ungleichheit

24. Mai 2023, 10:56 Uhr

Das Thema Diversität im Journalismus bleibt ein Dauerbrenner, weil es das muss. Noch immer versäumen es Journalisten, bei der Debatte um die fehlende Berichterstattung von sozialer Ungleichheit auch einen Blick in das eigene System zu werfen, das Akademikerkinder fördert und Arbeiterkinder vergisst. Heute kommentiert Johanna Bernklau die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Rückschau: Debatte um IGLU-Berichterstattung

Erst vorgestern hat mein Altpapier-Kollege René Martens hier über die kaum vorhandene Berichterstattung zur Bildungsungleichheit in Deutschland geschrieben. Dabei zitierte er Beiträge aus der "taz" und von "Übermedien". Beide weisen zwar auf das Problem hin, dass sozial Benachteiligte den meisten deutschen Medien offenbar ziemlich egal sind – aber sie vergessen es irgendwie, ihre eigene Kritik noch einen Schritt weiter zu denken.

Deswegen hier nochmal alles der Reihe nach – alle, die René Martens Artikel gelesen haben, können gleich zur nächsten Zwischenüberschrift springen.

Die aktuelle Debatte beginnt mit der internationalen Vergleichsstudie IGLU, die die Lesekompetenz von Grundschülern vorstellt. Ergebnis: Ziemlich ernüchternd. Dass ein Viertel der Viertklässler nicht so lesen kann, wie man in der 4. Klasse lesen können sollte, wird umfassend berichtet.

Was Caspar Shaller in der "taz" kritisiert: Die Meldung schaffte es nur an die dritte Stelle der 20-Uhr-Tagesschau. Und: Die Erklärung für die schlechte Lesekompetenz suggeriere, sie sei vor allem ein Problem der Ausländer.

Was Andrej Reisin auf "Übermedien" kritisiert: Über die eigentliche "Ursprungsnachricht", die den schlechten Lese-Stand der Viertklässler erklärt, werde kaum berichtet. Nämlich, dass es keine Verbesserung der Bildungsungleichheit in Deutschland gebe.

Es fehlt der Blick in die eigenen Reihen

Bis hier hin kann ich lesend mitnicken und freue mich, als ich die Zwischenüberschrift "Ein hausgemachtes Problem" lese. Jetzt muss er kommen, denke ich mir, der nächste Schritt, der noch tiefer in den Journalismus schaut. Doch er kommt nicht.

Stattdessen kommt ein anderer: Reisin dröselt das Problem des dreigliedrigen Schulsystems auf und bietet eine gute Übersicht darüber, welches Medium inwieweit über die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland berichtet hat.

Doch was fehlt, ist der Blick in die eigenen Reihen. Denn wen kritisieren Shaller und Reisin da eigentlich? Akademiker und Akademikerkinder.

Zugegeben, die Debatte um Vielfalt im Journalismus wird in letzter Zeit immer häufiger geführt – und das muss auch so sein. Ich lasse es aber nicht gelten, wenn Sie davon schon langsam nichts mehr lesen wollen. Denn Journalisten sind selbst Teil des Systems, dass Akademikerkinder fördert und Arbeiterkinder vergisst.

Soziale Ungleichheit war lange kein Thema

Obwohl es schon seit 2006 eine Charta für mehr Vielfalt in der Arbeitswelt gibt, in der sich auch Medienunternehmen wie das ZDF, die ARD-Anstalten, "die Zeit" und der Axel-Springer-Verlag zu mehr Vielfalt in den eigenen Redaktionen verpflichten, hinkte zumindest der soziale Hintergrund einige Jahre hinterher: Die Charta liefert

"gleich sechs Kategorien mit, in denen Vielfalt nun Unternehmensziel sein sollte: Alter, ethnische Herkunft und Nationalität, Geschlecht und geschlechtliche Identität, körperliche und geistige Fähigkeiten, Religion und Weltanschauung, sexuelle Orientierung. Dass auf dieser doch recht üppigen Liste ein nicht ganz unwesentlicher Punkt fehlte, schien fünfzehn Jahre lang nicht unangenehm aufzufallen."

Diese Worte stammen von Julia Friedrichs, Journalistin und Autorin des Artikels "Eine Klasse für sich? Wieso Akademiker:innen die Redaktionen beherrschen", der im kürzlich veröffentlichten Sammelband der gewerkschaftsnahen Otto Brenner Stiftung erschienen ist.

Erst Anfang 2021 schrieb man die soziale Herkunft als siebte Dimension mit in die Charta der Vielfalt. Es ist ernüchternd, dass die quasi unsichtbare Dimension der Klassenzugehörigkeit selbst bei journalistischen Diskussionen über das Thema Klassenzugehörigkeit immer noch vergessen wird.

Wer kommt in den Journalismus: Arbeiterkind vs. Akademikerkind

Die (wissenschaftliche) Faktenlage zum sozialen Hintergrund von Journalisten ist ziemlich dünn. Wie viele Journalisten studiert oder studierte Eltern haben, weiß man leider nicht so genau. Das ist natürlich sehr hilfreich, denn was man nicht belegen kann, kann man oft nur schwer kritisieren. Hier aber trotzdem ein Versuch: 2020 hat der "journalist" ein Datenprojekt zur Diversität des ARD-Nachwuchses veröffentlicht. Heraus kam, dass 95 Prozent der Volos studiert haben – "mehr als fünfmal so viele wie in der Gesamtbevölkerung".

Im aktuellen Hochschulreport kann man außerdem nachlesen, dass von 100 Kindern aus nichtakademischen Familien 27 ein Studium beginnen, bei Akademikerkindern sind es 79. Weil es leider keine umfassenden wissenschaftlichen Ergebnisse zu den sozialen Hintergründen aller Volos der großen deutschen Medienhäuser gibt, kann man sich die Akademisierung des Journalistenberufes wohl (nicht) selbst ausrechnen.

Um allerdings überhaupt auf die Idee zu kommen, als Arbeiterkind in den Journalismus zu gehen, braucht es oft Mentoren, Glück, viel Durchhaltevermögen. Das klingt immer wieder bei den Erfahrungen von Journalisten durch, die es auch ohne studierte Eltern in den Journalismus geschafft haben. Dass es ihnen das System Journalismus dabei oft nicht leicht macht, sieht man zum Beispiel im Finanziellen.  

Für die meisten journalistischen Studiengänge und Ausbildungen braucht man laut Julia Friedrichs schon vor Beginn Praxiserfahrungen im Journalismus. Praktika also. Oder freie Mitarbeit. Beides wird, gelinde gesagt, meist schlecht oder gar nicht bezahlt.

Die Debatte über Praktikumsvergütung soll unnötig werden

Übermedien hat im vergangenen Dezember 17 deutsche Medienhäuser (und sich selbst) angefragt, wie viel sie ihren Praktikanten bezahlen. Das Ergebnis ist durchmischt. Die meisten zahlen 300 bis 400 Euro im Monat, rbb und SR zahlen gar nichts, Spitzenreiter ist der BR mit 874 Euro.

Julia Friedrichs findet:

"Wer Praktika nicht oder kaum bezahlt, setzt voraus, dass die Praktikantinnen nicht für ihr Tagwerk honoriert werden müssen, weil sie für Miete, Essen und Transport über andere Geldquellen verfügen – unausgesprochen werden die meisten Redaktionen dieses Geld bei Eltern oder Großeltern vermuten."

Es ist ein Dauerthema im Journalismus, die unbezahlten Praktika, die fehlenden Perspektiven in den Redaktionen. Aber so ganz angekommen zu sein scheint es dennoch nicht.

Was ich mir wünsche, von der Wissenschaft: Mehr Forschung zum unsozialen Einstieg in den Journalismus, sodass Kritik daran nicht mehr emotional an Einzelgeschichten erzählt werden muss, sondern auch nüchtern anhand von Zahlen.

Von den Medienhäusern: Kein Vergessen mehr von Kindern aus Arbeiterfamilien. Nicht bei der Praktikumsvergütung, nicht bei der Einstellung für Volontariate und nicht bei der Berichterstattung.

Für angehende Journalisten: Dass es den extra Nebenjob, das Extrageld nicht mehr braucht, um Journalist zu werden.


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Das Altpapier am Donnerstag schreibt Ralf Heimann.

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