Das Altpapier am 26. Juli 2023: Porträt der Altpapier-Autorin Annika Schneider.
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 26. Juli 2023 Gruselmärchen vom Beckenrand

26. Juli 2023, 10:47 Uhr

Die Zustände in deutschen Freibädern werden jedes Jahr schlimmer – könnte man meinen. Oder wird nur die Berichterstattung jeden Sommer dramatischer? Die Medienthemen des Tages kommentiert Annika Schneider.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Heute Gepöbel, früher Messerstechereien

Nach Tagen der Pöbeleien und Regelverstöße eskaliert die Gewalt: Am Beckenrand bricht eine Massenschlägerei aus – Faustschläge, Tritte, zerrissene Kleider, Anarchie. Die Polizei muss in Mannschaftsstärke anrücken, um die Streithennen zu trennen, eine wird in Handschellen abgeführt.

Was dramatisch klingt, ist lustig anzuschauen: In ihrem Film "Freibad" hat Doris Dörrie im vergangenen Jahr ein Frauen-Schwimmbad "zu einem Bild für das größere Ganze des Zusammenlebens in Deutschland" gemacht, wie es damals Bert Rebhandl in der FAZ ausdrückte. Im Freibad prallen Gegensätze aufeinander: Erwartungen, Generationen, Gepflogenheiten. Als "Trainingslager für Demokratie" bezeichnete die Filmemacherin Freibäder in einem "Spiegel"-Interview.

Dass wir in diesem Sommer so viel über Freibäder diskutiert haben, ist also nichts Neues, sondern ein alter Hut. "Bandenkrieg auf der Liegewiese: Gewalttätige Jugendliche machen Freibäder unsicher": So berichtete die taz schon 1993 über das Berliner Columbiabad. 2010 sagte der Berliner Bädersprecher, er könne keine neue Qualität der Gewalt feststellen – im Gegenteil, es gebe keine Messerstechereien wie in den 1980ern mehr.

Nachzulesen ist das auf der heutigen Medienseite der "Süddeutschen Zeitung", wo Aurelie von Blazekovic die Freibad-Berichterstattung einer kritischen Analyse unterzieht. Ihrer Recherche nach sind die Zahlen von Gewaltdelikten und Hausverboten in Berliner Bädern zuletzt zurück gegangen – und doch vermittelt die Berichterstattung (mal wieder) den Eindruck, es herrschten nie dagewesene, dramatische Zustände in deutschen Freibädern.

Erst der Aufschrei, dann die Experten

Erst am Wochenende hat die SZ dem Thema eine Seite 2 gewidmet und zitiert in dem Text von Jan Heidtmann und Simon Sales Prado den Berliner Kazım Erdoğan, der seit Jahrzehnten als Lehrer, Psychologe und in Vereinen mit Jugendlichen in Berlin arbeitet.

"Mindestens genauso lang verfolge er die Debatten, die immer wieder ähnlich abliefen, erzählt Erdoğan. Egal, ob es um die Ausschreitungen an Silvester oder alljährliche Diskussionen um Freibäder im Sommer geht. Zunächst gebe es einen Aufschrei, die Medien berichteten, die Politik treffe schnelle Entscheidungen, Experten wie er ordneten ein. 'Das wiederholt sich, seit ich mich in Deutschland aufhalte.'"

Zu den Fakten: Ein ZDF-Beitrag von Max Schwarz berichtet unter anderem aus Baden-Württemberg, dass Delikte in Freibädern zurückgegangen seien. Gleichzeitig hätten Raub, Nötigung und Körperverletzung zugenommen – zurückzuführen auf einen generellen Anstieg von Jugendgewalt, der sich eben auch im Freibad zeige, wie der Gewaltforscher Dirk Baier in dem Beitrag sagt. Es handle es sich aber nicht um "migrantische Gewalt", sondern insbesondere um Gewalt junger Männer.

Befeuert hat die Freibad-Debatte dieses Jahr ein Brief vom Personal des Columbiabads, und genau hier findet sich dem SZ-Text zufolge eine mögliche Erklärung für die Aufregung: Der Personalnotstand zeigt sich auch im Freibad. Aurelie von Blazekovic schreibt:

"Die Freibadschlägerei taugt zum Stimmenfang und zur Schlagzeile, weil sie als Problem sehr leicht zu verstehen, um nicht zu sagen: handfest ist. Handfester als das Themenfeld Migration zum Beispiel, um das es im Subtext doch eigentlich ständig geht. So ordnete Friedrich Merz ein, die 'enthemmten Jugendlichen' in Berlin hätten nicht nur Migrationshintergrund, "aber auch Migrationshintergrund" – so als sei Freibadgewalt nur dann kein Problem, wenn wirklich niemand mit Migrationshintergrund an ihr beteiligt wäre."

Schon dass eigene Kriminalstatistiken extra für den Tatort Freibad erfasst würden, sei ein Erfolg des Agenda-Settings der AfD:

"Medien werden regelmäßig mit den Zahlen zu Straftaten an einem eigentlich doch recht willkürlichen Ort versorgt. Welcher Herkunft die Straftäter auf dem Oktoberfest sind (2019: 959 Straftaten, 279 Körperverletzungen, 47 Sexualdelikte), interessiert zum Beispiel kaum jemanden."

Haben Sie etwa noch keine Angst im Freibad?

Spätestens hier ist klar, dass es keineswegs banal ist, wenn Medien ihre Sommerlöcher mit unbelegten Thesen ("Krawalle nehmen zu!") zu abgehangenen Themen stopfen. Mariam Lau schrieb vor einer Woche in der "Zeit",

"die Schwimmbad-Debatte [sei] keine Folklore, auch wenn sie nur einige wenige Brennpunkte betrifft und die Zahl der Fälle überschaubar ist. In einer Umfrage für die ZEIT geben 58 Prozent der Befragten an, sie hätten aufgrund der aktuellen Meldungen über Schlägereien Sorge, ein Freibad zu besuchen. Das ist nicht in Ordnung."

Dabei verbirgt sich in diesem Satz eine interessante Wahrheit: Angst haben die Menschen nicht wegen eigener Erlebnisse in ihrem Freibad vor Ort, sondern wegen der Medienberichterstattung. Selbst im berüchtigten Columbiabad gibt es Stammgäste, die die Situation ganz anders wahrnehmen als die aufgepeitschte Darstellung in der Berichterstattung – keine gute Ausgangssituation, um das Medienvertrauen dieser Menschen zu stärken. Wie skeptisch die Menschen vor Ort auf die Berichterstattung schauen, lässt sich unter anderem in einer taz-Reportage von Sabina Zollner und Plutonia Plarre nachlesen.

Heftiges Ereignis um 15.03h

"In diesem Jahr scheint die Stimmung in vielen Freibädern Deutschlands auffällig aggressiv zu sein",

beobachtete die "Bild" 2019 (!) in ihrem "Freibad-Report". Schon damals hetzte sie mit der Titelzeile:

"Das ist nicht mehr unser Freibad!"

Dass sich diese These damals weder mit Zahlen noch mit Eindrücken belegen ließ, schilderte Moritz Tschermak amüsant im "Bild-Blog", wo er die "Bild"-Reportage Satz für Satz auseinandernahm:

"Das heftigste Ereignis um 15:03 Uhr: […] 37 Grad. Die Security hält einen Mann aus Bulgarien fest. Er soll über den Zaun geklettert sein, ohne zu zahlen."

Die aktuelle Debatte wird von rechter Seite aber nicht nur medial ausgeschlachtet (siehe Altpapier), sondern auch für handfeste Aktionen genutzt: Von einer Aktion mit "fremdenfeindlichen Plakaten" und Rauchtöpfen vor einem Freibad in Stuttgart, berichtet die FAZ.

Abgesehen vom Personalmangel (Tagesschau) bieten Freibäder als Ort der Berichterstattung noch viele weitere hochrelevante Themen: dass immer weniger Kinder schwimmen lernen, zum Beispiel, oder viele Becken inzwischen marode sind. Ein guter Text mit vielen, vielen Daten fand sich kürzlich zum Beispiel im "Handelsblatt". Auch dazu, welche Rolle Freibäder bei der Klimaanpassung spielen und wie sie emissionsarm betrieben werden können, habe ich noch wenig gelesen. Es geht also noch was bei der Freibad-Berichterstattung – gerne auch mit Reportage vom Beckenrand.


Altpapierkorb (Redaktionsstreik in Frankreich, dualer Rundfunk, Rammstein-Berichterstattung)

+++ Seit fünf Wochen schon streikt die Redaktion der französischen Wochenzeitschrift "Journal du dimanche", um die Einsetzung eines rechtsradikalen Redaktionsleiters zu verhindern. Wie sich der Streik in größere Umbrüche im französischen Mediensystem einfügt, beschreibt Niklas Bender auf der Medienseite der FAZ.

+++ Dass der von den Bundesländern einberufene "Zukunftsrat" sich auch mit der Lage privater Medien im dualen Rundfunk beschäftigt, fordert der Beirat von Pro Sieben Sat.1 – nachzulesen ebenfalls auf der FAZ-Medienseite in einem Text von Helmut Hartung.

+++ "Spiegel online" hat den Gerichtsbeschluss zur eigenen Rammstein-Berichterstattung veröffentlicht und kommentiert, weil es "leider auch sehr einseitige" Berichterstattung darüber gegeben habe. Die Redaktion kündigt an, notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht zu gehen. Außerdem gehe man rechtlich gegen die Pressemitteilung vor, die Rammsteins Anwaltskanzlei zu der Gerichtsentscheidung veröffentlicht habe.

Das nächste Altpapier schreibt morgen Ralf Heimann.

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