Das Altpapier am 4. September 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 4. September 2023 Der ÖRR vergrault seine Freunde

04. September 2023, 11:45 Uhr

Der politische Journalismus sollte sich nicht von den Streit-Spektakeln der Parteien blenden lassen. Das Korrespondentennetz der Öffentlich-Rechtlichen ist nicht zu klein, es müsste nur der veränderten Weltordnung angepasst werden. Als Subgenre des Schweinejournalismus hat sich mittlerweile der Currywurst-Journalismus etabliert. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Die Faszination der Hauptstadtjournalisten für das Spektakel des Streits

Zu den vielfältigen Schwächen des Politikjournalismus äußern wir uns im Altpapier oft, zwangsläufig aus der Außenperspektive. Insofern ist es erfreulich, dass am Wochenende Stephan Detjen, Hauptstadtstudio- Chefkorrespondent des Deutschlandradios, in der Sendung "Im Gespräch" bei Deutschlandfunk Kultur aus der Innenperspektive eine wichtige Kritik am Wirken seiner Zunft formuliert hat. In der Sendung unter dem Titel "Halbzeit der Ampelkoalition. Versuch einer Bilanz der Regierungspolitik", in der auch die Politikwissenschaftlerin Juliane Reuschenbach und mehrere Hörerinnen und Hörer zu Wort kamen, sagte Detjen (ab ca. 34:40):

"Als politischer Journalist, der seinen beruflichen Alltag in der Mitte Berlins im Hauptstadtstudio gegenüber vom Bundestag (…) verbringt, frage ich mich zunehmend, ob wir mit diesen Blickachsen, die wir da haben, nicht oft (…) zu sehr fixiert sind auf die politischen Prozesse, die uns eben doch faszinieren, aber auch blenden - (ob wir) uns verblenden lassen von den Spektakeln des Streits, von den parteipolitischen Auseinandersetzungen, die sich da vor unseren Augen aufführen (…) Ich nehme (…) das Beispiel Kindergrundsicherung. Ich hätte mir gewünscht, dass wir in unseren Programmen (…) mehr Zeit damit verbracht hätten, genau hinzuschauen, wo ist eigentlich Kinderarmut, genau hinzuhören, mit Experten zu sprechen, Reportagen von vor Ort zu machen. Wir haben das alles gemacht, aber wir hätten es wahrscheinlich mehr tun können, um dann die fachliche Grundlage zu haben, zu sagen, wo helfen da welche Interventionen, wo wirkt was wie - um dann auf dieser Grundlage eine bessere Meinungsbildung in der Öffentlichkeit zu ermöglichen."

Ich selbst interessiere mich überhaupt nicht für die "Spektakel des Streits", aber vielleicht war das vor fünf Jahren sogar mal etwas anders. Der Overkill an derartigem Journalismus - bei der Berichterstattende gern damit zu punkten versuchen, dass sie an zumindest einem Lager der Streitenden nahe dran sind -  hat mich ermüden lassen.

Dass der Streit zwischen Lisa Paus und Christian Lindner um die Kindergrundsicherung und die Art, wer wie agiert hat, die Berichterstattenden mehr interessiert hat als das Thema des Streits - von dieser Kritik, die Detjen an der Berichterstattung des eigenen Hauses übt, dürfen sich viele angesprochen fühlen. Ein krasses Beispiel für die Verblendung durch Streit lieferte in der vergangenen Woche stern.de in einem Bericht über die Bundespressekonferenz-Veranstaltung, bei der Paus, Lindner und Sozialminister Hubertus Heil den "Kompromiss" beim Thema Kindergrundsicherung präsentierten. Ein paar Auszüge aus dem Text: "Sieht man an ihren Auftritten Spuren der Schlacht?" -"Lindner vermeidet es, Paus anzusehen. Er schaut starr geradeaus oder in die entgegengesetzte Richtung" - Er "verzieht keine Miene" (als Paus etwas sagt) - "Lindner lächelt erst Hubertus Heil, dann Lisa Paus zu. Dann doch."

Hier wird Politik zu einem Bühnenspektakel mit Soap-Elementen. Man kann sich natürlich fragen, ob die Politikerinnen und Politiker die "parteipolitischen Auseinandersetzungen, die sich da vor unseren Augen aufführen" (Detjen), bewusst genau so auf die Medienbühne bringen. Wenn man die schwächeren Argumente hat, lohnt es sich, auf die Spektakel-Karte zu setzen. Das hat den Vorteil, dass die besseren Argumente in der Öffentlichkeit kaum oder gar nicht durchdringen. Das Problem scheint mir nicht zu sein, dass die Medien Streitereien zwecks Reichweite hochjazzen, sondern dass die Parteien die Auseinandersetzungen gewissermaßen vorchoreografieren.

Dass Medien so fixiert waren auf die "Schlacht" (stern.de) zwischen Lindner und Paus, hatte nach meinem Dafürhalten auch einen problematischen Nebeneffekt: Die anderen Attacken auf die Schwachen und Hilfsbedürftigen, die der Haushaltsplan vorsieht (siehe hier und hier), spielten in der Berichterstattung nur eine geringe Rolle.

Warum hat das ZDF keinen Korrespondenten in Indien?

Neben den Einschätzungen Detjens gibt es noch ein weiteres aktuelles Beispiel für eine aus der Innenperspektive formulierte instruktive Kritik am politischen Journalismus. Ellen Nebel hat für "epd medien" ein ausführliches, von turi2.de republiziertes Interview mit der ZDF-Auslandsreporterin Katrin Eigendorf geführt, und es geht dabei unter anderem um die Frage, ob "der Zuschnitt des Korrespondentennetzes ein Beleg dafür ist, dass es bislang kein Bewusstsein dafür gibt, wie sehr die globalisierte Welt heute unser Leben bestimmt?" (Nebel). Eigendorf sagt dazu:

"Das Korrespondentennetz entspricht nicht der veränderten Weltordnung. Während wir in Europa zum Teil sehr gut besetzt sind, haben wir keinen Korrespondenten in Indien, obwohl es eines der wichtigsten Länder der Welt ist."

Wobei mit "wir" das ZDF gemeint ist. Dessen für Indien ("Hat nun eine größere Bevölkerung als China", "Überflügelt Großbritannien als fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt" zuständiger Korrespondent hat seinen Stammsitz in Singapur. Er - ab 1. Oktober ist das Johannes Hano - muss also erst einmal 4.140 Kilometer zurücklegen, wenn er aus der Hauptstadt Neu-Delhi berichten möchte. Die ARD dagegen hat dort ein Studio (dessen Leitung beim MDR liegt).

Eigendorf sagt weiter:

"In den USA haben wir Korrespondenten in Washington und New York, aber keinen in Kalifornien, mittlerweile die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Wir haben nicht zu wenige Korrespondenten. Wir investieren auch nicht zu wenig Geld. Aber wir sollten das Korrespondentennetz und die Prioritäten, die wir setzen, an die veränderte Welt anpassen."

Um auf die Formulierung "Europa zum Teil sehr gut besetzt" einzugehen und mal kurz konstruktiv zu werden: Es gibt eine geballte Korrespondenten-Präsenz auf (vergleichsweise!)  engem Raum, in Rom, Paris, Brüssel, Warschau. Orte, die untereinander schnell erreichbar sind, wenn es die Aktualität erfordert. Man könnte hier also Studios schließen, zu Gunsten neuer jenseits von Europa.

Ein anderes Thema im Interview: die Schimäre Neutralität. Eigendorf dazu:

"Ich halte die Herangehensweise zu sagen, dass sich ein guter Journalist nie mit einer Sache gemein machen sollte, nicht einmal mit einer guten, für sehr verkürzt. Auch ich habe in Afghanistan Frauen, über die ich berichtet habe, aus dem Land herausgeholfen, weil ich mich in der Verantwortung sehe. Das ist Aktivismus."

Zu diesem Themenkomplex hatte sich Eigendorf 2022 in einem Gespräch bei arte geäußert, siehe unseren Jahresrückblick zur Kriegs- und Krisenberichterstattung. Gegenüber "epd Medien" sagt sie nun:

"Journalismus ist der Wahrheit verpflichtet, aber nicht der Objektivität, denn die gibt es gar nicht. Für ganz fatal halte ich den 'He-said-she-said-Journalismus'.Ich kann bei einem Ereignis wie Butscha nicht sagen: Dort ist ein Massaker passiert, und die russische Regierung sagt, das ist eine Inszenierung der Ukrainer. In meinem Verständnis darf sich ein Journalist nicht zum Sprachrohr von Desinformationskampagnen machen."

Passende Ergänzungslektüre zum Thema "He-said-she-said-Journalismus" im Russland-Kontext möglicherweise: eine Passage aus einem Altpapier im April, in der es unter anderem um eine Headline geht, in der eine skurrile Aussage des Außenministers Sergei Lawrow uneingeordnet wiedergegeben wird.

"Mit viel Tamtam zur Schlachtbank geführt"

Einen Rant des Kulturrats-Geschäftsführers Olaf Zimmermann zu den Kulturprogramm-Planungen für den ARD-Hörfunk hat die "Neue Musikzeitung" in ihrer September-Ausgabe veröffentlicht.

"WDR-Intendant Tom Buhrow nahm in seiner berühmt-berüchtigten Rede beim Hamburger Überseeclub im November letzten Jahres am Kulturbereich Maß. Er philosophierte darüber, ob tatsächlich so viele Klangkörper erforderlich seien oder ob nicht ein Exzellenzorchester für alle ARD-Anstalten reichen würde. Gleichfalls brachte er die Fusion von Hörfunkwellen ins Spiel. Man konnte den Eindruck gewinnen, die Kultur sei im Auftrag an den Rand gedrängt und gerade nicht, wie geschehen, an die erste Stelle gerückt worden."

Letzteres bezieht sich darauf, dass im 3. Medienänderungsstaatsvertrag gerade erst die Kultur bei der Hauptaufgabenbeschreibung an erste Stelle gesetzt wurde ("Die öffentlich-rechtlichen Angebote haben der Kultur, Bildung, Information und Beratung zu dienen. Unterhaltung, die einem öffentlich-rechtlichen Profil entspricht, ist Teil des Auftrags").

Zimmermann weiter:

"SWR-Intendant und ARD-Vorsitzender Kai Gniffke (…) pries die Fusion von Klangkörpern beim SWR als Erfolgsgeschichte. Die Bildung von Zentralredaktionen beispielsweise für Hörspiele wurde ebenso ins Spiel gebracht wie die Schaffung von sogenannten Kompetenzzentren beispielsweise für Jazz. Besonders problematisch ist die Idee, abends die verschiedenen Kulturwellen zusammenzuschalten und ein gemeinsames Programm bundesweit auszustrahlen."

Von "einer kritischen Gesamtüberprüfung des Programmangebotes" könne im Übrigen keine Rede sein. Und:

"Manchmal beschleicht mich der Verdacht, wir werden von den Intendanten mit viel Tamtam zur Schlachtbank geführt, damit vor dem Todesstoß die Politik in Superheldmanier den Sendern doch die gewünschten finanziellen Mittel zur Verfügung stellt und damit auch die Kulturberichterstattung und die Kulturproduktion gesichert würde."

Zimmermanns "bitteres Fazit":

"Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat (…) in den letzten Jahren fast alle seine Freunde vergrault. Der Kulturbereich gehört noch zu den letzten guten Freunden, die bei aller deutlicher Kritik im Einzelfall immer für das System als solches eintreten."

Ich hatte es neulich an dieser Stelle etwas schärfer formuliert: Eines - wohlgemerkt: eines - der Probleme des ÖRR in Deutschland ist, dass einige seiner eigenen Manager gewissermaßen an der Abschaffung des Systems von innen heraus arbeiten. In dem Zusammenhang ging es um die geplante Streichung zahlreicher Signature-Programme bei Bayern 2. Das Thema kommt in Zimmermanns Text nicht explizit vor. Wer zu jenem Teilaspekt mehr wissen will, kann auch einen Blick werfen in einen am Freitag veröffentlichten Petitions-Text.


Altpapierkorb (Currywurst-Journalismus, Hörbuchfernsehen, Rundfunkrat-Prosa)

+++ Als Subgenre des Schweinejournalismus hat sich hier zu Lande mittlerweile der Currywurst-Journalismus etabliert. "VW-Kantine: Das Currywurst-Comeback bewegt Deutschland", lautete eine Art Ober-Ober-Überschrift in der FAZ in der vergangenen Woche, auf die Boris Rosenkranz im "Übermedien"-Newsletter eingeht. Er rekapituliert hier, wie irrwitzig vor zwei Jahren darüber berichtet wurde, dass "eine von 30 VW-Kantinen" sich entschied, kein Fleisch mehr anzubieten, und blickt auf die ähnlich durchgeknallte Nachfolgebericherstattung, die sich nun Bahn bricht, nachdem diese eine Kantine wieder Fleisch anbietet. Ein Fazit: in punkto wirklichkeitsfremden Wortmeldungen zu den Themen Fleisch und (vermeintlichem) Fleischverbot können manche Journalisten prima mithalten mit den Kulturkämpfern Markus Söder und Hubert Aiwanger.

+++ Ebenfalls bei "Übermedien": Die Schauspielerin Gisa Flake spricht im Interview mit Kathrin Hollmer über zahlreiche grundsätzliche Schwächen des fiktionalen Fernsehens in Deutschland. Zum Beispiel: "(Ein) Problem ist, dass das deutsche Fernsehen daran krankt, dass die Nebenfiguren keine eigenständigen Wesen mit Entwicklung und eigenen Konflikten sind. Sie sind nur dazu da, die Haupthandlung zu stützen, die tauchen in Folge 18 auf und sind zwei Folgen später wieder weg. In amerikanischen Produktionen oder auch in Dänemark, Holland oder England sind die Körperformen diverser, aber auch die Figuren. Du verliebst dich in eine Serie nicht nur wegen der Haupthandlung, sondern auch wegen der interessanten, skurrilen Nebenfiguren, von denen du dir eigentlich jeweils ein Spin-off wünschst, und in denen du dich wiederfindest. Meine Lieblingsserien sind alles Serien mit starken Nebencharakteren. Wenn ich das hier bei einer Produktion anspreche, kommt das Argument: Können wir nicht machen, da verlieren wir uns in zu vielen unterschiedlichen Erzählsträngen (…) In Deutschland gibt’s viel Bügelfernsehen, wo man als Zuschauer:in rausgehen und sich einen neuen Berg Wäsche holen kann und trotzdem in der Handlung mitkommt. Hörbuchfernsehen, sage ich auch gern, weil die Darsteller:innen nochmal aussprechen, was man eh sieht."

+++ Zur Sitzung des WDR-Rundfunkrats am vergangenen Mittwoch gab es zwar Vorberichterstattung an relativ prominenter Stelle (SZ-Medienseite). Aber über die Ergebnisse der Sitzung wurde meiner Wahrnehmung nach nicht all zu viel berichtet. Gehen wir an dieser Stelle also kurz darf darauf ein, was das Gremium selbst in seinem Newsletter veröffentlicht hat: "Der WDR-Rundfunkrat hat eine Stellungnahme zum Entwurf der ARD-Selbstverpflichtung verabschiedet. Das Gremium kritisiert die Mehrfachverwendung von nicht quantifizierbaren Zielen und Indikatoren sowie die Unklarheit der Verknüpfung von Zielen und Erfolgsindikatoren in den einzelnen Projekten." Es ist ja erfreulich, dass ein Aufsichtsgremium mit Kritik an der ARD - in diesem Fall an dieser Selbstverpflichtung- an die Öffentlichkeit geht. Aber wem nützt es, wenn die Kontrolleure ihre Kritik in einem derart verquasten, Nominalstil-lastigen Jargon formulieren? "Mehrfachverwendung von nicht quantifizierbaren Zielen"? - nee, Kinners, das geht auch anders.

Das Altpapier am Dienstag kommt ebenfalls vom Autor der heutigen Kolumne.

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