Das Altpapier am 6. September 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 6. September 2023 Medienkritik muss Machtmechanismen hinterfragen

06. September 2023, 12:46 Uhr

Im Journalismus fehlt es in der Breite weiterhin an Faktenwissen zur Klimakrise. Noch größer sind die Schwächen allerdings in der Berichterstattung über Inklusion. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Brauchen wir Klimakatastrophen-Newsblogs? 

Um den Zustand der "Medienklimakrise" ging es im Altpapier schon mehrmals. Gibt es sie weiterhin? "Es mangelt an Faktenwissen zur Klimakrise in der Breite der Redaktionen", schreibt Sara Schurmann in einem Artikel für die neue Ausgabe des Medienmagazins "journalist", der zahlreiche konstruktive Vorschläge enthält, wie sich die Kurve vielleicht doch noch kratzen ließe. Ausdruck des nicht ausreichenden Wissens, so Schurmann, sei unter anderem:

"Nur wenige können (…) heute den genauen Unterschied zwischen 1,2, 1,5 und 2 Grad Erhitzung erklären - oder wie CO2-Budget und Kipppunkte zusammenhängen und was dies für unsere Lebensgrundlagen bedeutet."

Ein grundsätzliches Problem beschreibt die Autorin so:

"Menschen orientieren sich an anderen Menschen, um Situationen einzuordnen (…) Dieser Mechanismus ist im Journalismus nicht nur beobachtbar, sondern institutionalisiert. Wenn wir uns zum Beispiel auf eine Redaktionskonferenz vorbereiten, dann tun wir dies, indem wir uns andere Medien anschauen. Wir hören am Morgen die Nachrichten im Radio, schauen in die Agenturmeldungen und gucken, welche Themen die Konkurrenz behandelt."

Und warum ist es beim Thema Klima fatal, dass wir uns an unseresgleichen orientieren?

"Wenn niemand die Studien zum möglichen Zusammenbruch der Atlantischen Umwälzströmung, dem Erreichen von klimatischen Kipppunkten oder die Messungen zur Meerestemperatur auf die Titelseite packt, wenn niemand die täglichen Klimakatastrophen in einem Newsticker abbildet, dann kann es ja gar nicht so schlimm sein."

So einen News-Ticker oder auch News-Blog vermisse ich auch, mir ist die Berichterstattung zu schlaglichtartig: Heute Überschwemmungen in Griechenland, vorgestern in Spanien, und die Waldbrände in Kanada drohen schon in Vergessenheit zu geraten. Da wäre ein ständig aktualisierter Überblick zu den weltweiten "täglichen Klimakatastrophen" (Schurmann) und ihren weiteren Entwicklungen tatsächlich hilfreich.

Wenn Politiker etwas abschaffen wollen, was es gar nicht gibt

An Reaktionen auf das "Sommerinterview" des MDR mit Björn Höcke (siehe unter anderem dieses Altpapier) hat es wahrlich nicht gemangelt. Andrea Schöne geht bei "Übermedien" nun darauf ein, welche Positionen in der Rezeption nicht vorkamen. Ihr geht es dabei um die ableistischen Äußerungen des Interviewten.

Eingangs erzählt sie erst einmal kurz ihre "eigene Bildungsgeschichte, die von so vielen Hürden geprägt ist":

"So geht es vielen behinderten Menschen. Inklusion an deutschen Schulen ist eine Illusion. Umso mehr verwunderten mich die öffentlichen Reaktionen – sei es von Politiker*innen oder Journalist*innen – auf die Forderungen von Björn Höcke. Im MDR-'Sommerinterview' sagte (er) (…), dass das deutsche Schulsystem vom 'Ideologie-Projekt inklusive Bildung' zu befreien sei. Zahlreiche Medien griffen das empört auf."

Schöne benennt zwei Kernfehler in der Berichterstattung zum Thema AfD und Inklusion:

"Erstens suggerierten viele Meldungen, dass Inklusion in deutschen Schulen längst Alltag sei – und die AfD wolle das ändern. Zweitens war das, was Höcke da sagte, gar nicht neu. Seit Jahren ist bekannt, dass das Parteiprogramm der AfD zutiefst ableistisch ist."

Zugespitzt gesagt: Der eigentliche Skandal besteht darin, dass Höcke mit der derzeitigen Situation gut leben kann. Erwähnenswert ist vielleicht noch, dass die erwähnten Forderungen Höckes ja typisch sind für rechte Rhetorik, auch jenseits der AfD: Man will etwas bekämpfen, was gar nicht existiert. Das bekannteste Beispiel: der Kampf gegen ein vermeintliches Fleischverbot (Alice Weidel: "Sie wollen uns die Schweinshaxe, die Bratwurst … das Schnitzel verbieten! Und ich kann euch sagen, ich lasse mir nicht mein Schnitzel wegnehmen").

Schöne schreibt weiter, die Gefahr, die von der AfD für behinderte Menschen ausgehe, nähmen zwar die Betroffenen wahr - aber die Leitmedien, "die das gesellschaftliche und politische Geschehen in Deutschland ausschließlich durch nichtbehinderte Journalist*innen einordnen lassen", höchstens dann, "wenn Höcke seine ableistische Position im MDR-'Sommerinterview' vom Stapel lässt".

Was hat es für Folgen, dass "das gesellschaftliche und politische Geschehen in Deutschland ausschließlich durch nichtbehinderte Journalist*innen" eingeordnet wird?

"Seit meiner Tätigkeit als Lehrbeauftragte für Medienpädagogik zu Behinderung beobachte ich, wie wenig Lehramtsstudierende über die Lebenswelten behinderter Menschen wissen (…) Das liegt aus meiner Sicht auch daran, dass sie in Medien so gut wie nichts über behinderte Menschen und Behindertenpolitik erfahren."

Überlegungen zur Medienkritik

In den USA hat ein Ende August erschienener Text von Paul Bunch im "Philadelphia Inquirer" eine Debatte über das Wesen der Medienkritik ausgelöst. Bunch hatte geschrieben, die Medien dürften die Wahl 2024 "nicht als eine traditionelle Wahl" sehen, "sondern als einen Versuch, eine Massenbewegung zu mobilisieren, die die Demokratie aushebeln" würde. Wenn die kommende Wahl in den nächsten 15 Monaten "the worst-covered election in U.S. history" bliebe, "könnte es auch die letzte sein".

Allsop fasst fürs "Columbia Journalism Review" die Debatte nun zusammen und steuert eigene Überlegungen bei. In den vergangenen rund fünf Jahren habe er viel über die Funktion von Medienkritik nachgedacht, "auch im Vergleich zu anderen Formen der Kritik" - worauf er eingeht, weil Paul Farhi (WaPo), ein Kritiker Bunchs, diese aktuell ins Spiel gebracht hatte. Allsop:

"Obwohl sich die Medienkritik auf den ersten Blick stark von diesen anderen Unternehmungen unterscheidet, bin ich zunehmend zu der Überzeugung gelangt, dass ein Vergleich zwischen ihnen sinnvoll ist. Bei allen geht es um den Rahmen (oder eine Variation dieses Konzepts); bei allen geht es um die Bedeutung und darum, wie wir die Welt um uns herum sehen und reflektieren. Bücher und Filme erzählen (normalerweise) Geschichten. Das Gleiche gilt in einem abstrakteren Sinne für ein schönes Gebäude oder einen Teller mit Essen. Und doch hat die Medienkritik ihre eigenen Besonderheiten: Unsere Aufgabe besteht letztlich darin, die grundlegende Art und Weise zu hinterfragen, in der die Menschen von Dingen erfahren, die ihr Leben beeinflussen - und die Mechanismen der Macht, ja, der echten Macht, die diese Dynamik bestimmen. Damit soll nicht gesagt werden, dass Formen der Kultur- oder Kunstkritik nicht vergleichbare Ziele haben können."

Nach Allsops Ansicht "ist vor allem der hochrangige politische Journalismus eindeutig von spielerischer Trivialität überschwemmt". Wenn man dafür ein aktuelles Beispiel aus Deutschland nennen wollte, wäre das wohl das alberne Gewese um die Augenklappe des Bundeskanzlers. "Echte Probleme, einschließlich des Zustands der Demokratie", so der CJR-Autor weiter, würden dagegen "beiseite geschoben werden".

Arroganz gegenüber jungen Hörern

Von einer insgesamt unbefriedigenden Podiumsdiskussion in Berlin unter dem Titel "Kulturfreie Zone? Zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks", bei der der ARD-Vorsitzende Kai Gniffke sich in der Rolle des Prügelknaben wiederfand, berichtet Anna Vollmer für die FAZ.

Unzufrieden auch Harry Nutt, der in der "Frankfurter Rundschau" schreibt, die Diskussion habe ihr Thema verfehlt:

"Gut eine halbe Stunde lang wehrte sich Gniffke vehement gegen die Unterstellung von Kultur- und Programmkürzungen, die ihn schließlich zur rhetorischen Notwehr nötigten: 'Ich bin nicht schuld, wenn sich die Wirklichkeit nicht an ihre Vorurteile hält.' Gniffke sprach lieber von Umverteilung aus den linearen in digitale Programme."

Wobei "Unterstellung" hier nun kaum der richtige Begriff ist - siehe dazu die umfangreiche Berichterstattung zu den Kulturprogrammreform-Planungen im Altpapier, etwa diesem. Allerdings ist Gniffke vielleicht nicht der optimale Hauptadressat der Kritik, die Bösewichte sitzen ja in verschiedenen Landesrundfunkanstalten.

FAZ-Autorin Vollmer meint:

"Eine seltsame Leerstelle entstand (auch) dadurch, dass sich hier sechs Menschen über fünfzig unter anderem darüber unterhielten, was denn 'die Jungen' so hörten und wollten. Bis sich Kathrin Röggla, sichtlich wütender werdende Schriftstellerin, Vizepräsidentin der Akademie der Künste und Mitglied des Rundfunkrats des Bayerischen Rundfunks, zu Wort meldete, um zu sagen, pauschal von 'den' Jungen und 'ihren' Hörgewohnheiten zu reden, halte sie für 'eine wahnsinnige Arroganz'. Unterstrichen wurde ihre Aussage von einer jungen Frau aus dem Publikum, 26 Jahre alt und nach eigener Aussage Hörerin von Deutschlandfunk Kultur, die fragte, was sich denn der Rundfunk genau unter 'niedrigschwelligen' Hörangeboten vorstelle. Sollte das Wort die Bedeutung haben, die sie vermute, werde man sie als Hörerin höchstwahrscheinlich verlieren."

Die von Röggla kritisierte "Arroganz" spürt man in der Debatte ja auch sonst oft: ARD-Funktionäre begründen ihre Maßnahmen, die auf eine Verflachung des kulturellen Programmangebots im Audiobereich hinauslaufen, mindestens implizit damit, dass "die Jungen" dies so wollten. Dass Sendermanager so tun, als wäre das jüngere Publikum nicht interessiert an Länge, Tiefe und Komplexität, ist durchaus skandalös. Hoffen wir nach der Wortmeldung der 26-Jährigen bei der Podiumsdiskussion mal darauf, dass sich weitere Twentysomethings dazu äußern.


Altpapierkorb (Kritik an Gniffkes Medienkritik, Grimme in finanziellen Schwierigkeiten, Debatte um Verantwortung des RBB-Chefredakteurs)

+++ Mit der Medienkritik-Kritik des gerade erwähnten Kai Gniffke beschäftigt sich Marvin Schade im "Medieninsider"-Newsletter:  "Für Gniffke ginge es in Interviews zu oft, sagt er, um lineare Ansichten anstatt um digitale Visionen. Zu viel um die Gegenwart, zu wenig zum die Zukunft. Zu wenig um die ganz großen Fragen also. Der Blick in die Glaskugel ist unter Führungspersönlichkeiten ein beliebter Griff in die Trickkiste. Denn heute lässt sich wunderbar über die Herausforderungen von morgen philosophieren, ohne über Fehler oder Versäumnisse zu sprechen. Denn die kennt schließlich noch keiner." Schade bezieht sich unter anderem auf einen aktuellen Linkedin-Post des ARD-Vorsitzenden. Was Gniffke dort sonst poste, sei auch eher dürftig, meint Schade.

+++ Das Grimme-Institut (für das ich regelmäßig frei arbeite) stecke in finanziellen Schwierigkeiten, meldet die dpa (via FAZ). Im laufenden Jahr habe es "eine 'Unterdeckung' von rund 323.000 Euro bei gut drei Millionen Euro Etat", gegeben, berichtet die Agentur unter Bezug auf Äußerungen der Institutsdirektorin Frauke Gerlach.

+++ Auch mehr als ein Jahr, nachdem die Aufdeckung begonnen hat, gibt der RBB-Skandal medienjournalistisch noch viel her. Aktuell steht die vor allem durch Recherchen des "Business Insider" aufgebrachte Frage im Raum, ob die "Verantwortung" des Chefredakteurs David Biesinger "im Nachhinein kleingemacht werden" solle, wie Aurelie von Blazekovic heute in der SZ schreibt. Konkret: War Biesinger Mitglied der Geschäftsführung? Von Blazekovic schreibt dazu: "Der RBB besteht darauf: Biesinger ist seit 2021 als Chefredakteur ein Hauptabteilungsleiter des Senders, mehr nicht. 'Daran ändern auch fehlerhaft erstellte bzw. versandte Protokolle, Notizen, Webseiten oder Mails nichts', so ein Sprecher."

Das Altpapier am Donnerstag schreibt Ralf Heimann.

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