Kolumne: Das Altpapier am 7. September 2023 Die große Opfer-Offensive
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07. September 2023, 12:08 Uhr
Hubert Aiwanger hat seine Rolle gefunden. Er ist das Opfer einer großen Medienkampagne. Ziemlich durchsichtig. Aber funktioniert offenbar. Warum eigentlich? Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Ein Trick aus rechten Kulturkämpfen
Wenn Menschen so richtig Mist gebaut haben und das alles an die Öffentlichkeit gerät, dann kann man immer noch sagen: "Die Medien sind schuld" (Altpapier). Früher hat man die Überbringer von schlechten Nachrichten einfach getötet. Die emotional ambivalente Situation ließ sich so schnell auflösen, es gab sofort jemanden, den man verantwortlich machen konnte. Auf diese Weise bekam man, jedenfalls gefühlt, Macht und Kontrolle zurück.
Im Fall Hubert Aiwanger ist es etwas anders, etwas komplizierter. Hier hat zwar Aiwangers Bruder Helmut in einem Aushang nahegelegt, man möge Bölls "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" lesen; auch hier stirbt ein Reporter. Doch das Kalkül hinter der Opfer-Erzählung von einer Medienkampagne scheint eher zu sein, der öffentlichen Wahrnehmung einen genehmen Spin zu geben. In der rechtspopulistischen Sphäre gibt es dafür einige Vorlagen:
"Das Rumgeopfere ist ein Trick aus den rechten Kulturkämpfen seit mehr als 40 Jahren, den in Deutschland auch die AfD benutzt und in den USA Donald Trump",
sagt Ex-Altpapier-Autor Matthias Dell in seiner Kolumne für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres". So entstehe ein Widerspruch:
"Leute, die eigentlich als tatkräftig, geerdet und durchsetzungsfähig rüberkommen wollen, wie Aiwanger, Höcke oder Trump, jammern die ganze Zeit rum, wie böse angeblich alle anderen zu ihnen sind."
Dell vergleicht das Ganze mit einer Schwalbe auf dem Fußballplatz. Nur im Stadion werde man für so etwas eben "als Schauspieler ausgepfiffen". In der Politik nicht. Da funktioniert es immer wieder.
Doch was passiert da eigentlich? Auch das arbeitet Dell sehr gut heraus.
Aiwanger hatte in einer Vorbemerkung zu seinen Antworten auf Markus Söders 25 Fragen beklagt, dass Informationen aus dem "geschützten Raum Schule" weitergegeben worden seien. Schon das ist ein Manipulationsversuch.
Die Bezeichnung "geschützter Raum" oder im Englischen "safe space" ist ein Begriff aus der Soziologie. Gemeint ist damit ein sozialer Raum für Menschen, die tatsächlich von Diskriminierung betroffen sind.
Sich diesen Operstatus anzueignen, sei infam, schreibt Dell. Zudem sieht er eine "Täter-Opfer-Umkehr", die allerdings erst auf den zweiten Blick zu erkennen sei.
"Denn die Affäre dreht sich ja nicht um die Info, in welcher Erdkunde-Klassenarbeit Aiwanger eine Vier geschrieben hat, sondern um ein Flugblatt, also ein Medium, das selbst Öffentlichkeit sucht."
Dieses Flugblatt hätten möglichst viele Menschen lesen sollen. Das könne man eine Medienkampagne nennen. Und die habe hier ganz am Anfang gestanden.
Die Widersprüche der Strategie
Giovanni di Lorenzo thematisiert in einem Kommentar auf der Titelseite der "Zeit" die Widersprüche der Strategie. Aiwanger habe sich
"zum Opfer einer 'Schmutzkampagne' stilisiert, die angeblich zum Ziel hatte, andere politische Verhältnisse herbeizuschreiben. So mächtig ist aber kein Medium in Deutschland".
Die vermeintliche Übermacht der anderen Seite ist Teil jeder Opfer-Erzählung. Die Süddeutsche Zeitung hat durch die unglückliche Art und Weise der Enthüllung dazu beigetragen, dass der Eindruck entstehen konnte, sie verfolge ein eigenes Interesse.
Für Aiwanger war das ein Glücksfall, denn die Objektivität von Medien in Frage zu stellen, also das Vertrauen in sie zu untergraben, das gehört zum Standard-Repertoire rechtspopulistischer Desinformations-Bemühungen.
So kam es zu der Frage: Warum veröffentlicht die Zeitung die Geschichte ausgerechnet jetzt?
Giovanni di Lorenzo schreibt,
"Man kann der Süddeutschen Zeitung (SZ), die den Fall publik machte, nicht den Zeitpunkt der Veröffentlichung vorwerfen. Man stelle sich das Gegenteil vor: Die Redaktion hätte das Material gehabt, aber es mit Rücksicht auf die Bayern-Wahl zurückgehalten. Wofür wäre das dann ein Zeichen gewesen?"
Auch in diesem Fall hätte es möglicherweise Gründe geben können, die nichts mit der angeblichen Parteilichkeit der Zeitung zu tun gehabt hätten. In der von Aiwanger adressierten Öffentlichkeit wäre das aber egal. Wichtig ist hier alleine die emotionale Botschaft. Durch Argumente lässt sie sich nicht einfach entkräften.
Deswegen verbreitet sich zwar die Erzählung, die Zeitung habe die politische Absicht gehabt, Aiwanger abzusägen. Nicht so präsent ist dagegen die Frage, warum Aiwanger die von SZ-Chefredakteur Wolfgang Krach dokumentierten Anfragen der Zeitung nicht dazu genutzt hat, schon vor der Veröffentlichung Klarheit zu schaffen.
Wahltaktisch klug, gesellschaftlich fatal
Der Mechanismus klingt so simpel, dass man sich fragt: Wieso funktioniert diese Art und Weise der manipulativen Umdeutung überhaupt so zuverlässig? Die Antwort ist vermutlich: Sie funktioniert, weil sie etwas macht, das ganz typisch für populistische Kommunikation ist, sie löst unangenehme Widersprüche und Ambivalenzen auf, indem sie eine einfache Erklärung liefert.
Die Zuspitzung auf eine Opfer-Erzählung hat dabei auch ganz nette Nebeneffekte, denn sie vereinfacht nicht nur, sie verstärkt auf diese Weise gemeinsame Feindbilder, den Zusammenhalt, möglicherweise mobilisiert sie Menschen, vielleicht im Oktober dann bei der Wahl.
Im Moment sieht es jedenfalls nicht danach aus, als würde Aiwanger die Sache enorm schaden. Und das, obwohl Markus Söder Aiwanger nicht als Wirtschaftsminister entlassen hat, aller Wahrscheinlichkeit auch, um ihm nicht die Möglichkeit zu geben, noch mehr herumzuopfern und so weitere Stimmen zu sammeln.
Ariane Lemme schrieb am Dienstag in einem Kommentar für die taz, das sei vielleicht wahltaktisch klug, gesellschaftlich aber sei es fatal, denn es missachte die Würde vieler Bürger. Lemme:
"Die Taktik, den Rechten ja keinen Grund zu liefern, sich als Opfer zu fühlen, verhöhnt also nicht nur die realen Opfer des Holocaust, es hat die Rechten, guckt man auf die AfD-Umfragewerte, bislang nur gestärkt."
Hinzu kommt: Die Opfer-Erzählung läuft ja auch ohne Entlassung ganz flüssig. In der aktuellen Ausgabe der "Zeit" streitet der Publizist und Historiker Michael Wolffsohn mit der CDU-Politikerin Karin Prien darüber, ob die Sache mit der Kampagne denn nun stimmt. Wolffsohn findet, schon. Prien hält dagegen.
In der Debatte gerät einiges durcheinander. Wolffsohn sagt:
"Ich bin nicht sein Verteidiger. Aber wenn kurz vor einer Landtagswahl plötzlich 35 Jahre alte Vorgänge aufgetischt werden, ist das ganz klar eine Kampagne. Noch dazu, wenn die Vorwürfe aus anonymen Quellen stammen. Das ist ein Denunziantentum, das wir aus dem 'Dritten Reich' oder der DDR kennen."
Ein bisschen erinnert das ganze natürlich auch an die Hölle, denn in den vergangenen Tagen war es ja sehr heiß. Nein, im Ernst: Was Wolffsohn hier sagt, ist – man muss das so nennen – völliger Unsinn. Das Ganze erinnert nur dann an das "Dritte Reich" oder die DDR, wenn man die Süddeutsche Zeitung für einen Unrechtsstaat hält.
Muss man einem Historiker das jetzt wirklich erklären? Na ja, es sieht danach aus: In der Demokratie hat die Öffentlichkeit ein berechtigtes Interesse daran, zu erfahren, wer da eigentlich auf dem Wahlzettel steht, vor allem dann, wenn es Hinweise darauf gibt, dass diese Person extremistische Ansichten hat.
Im "Dritten Reich" und der DDR wurde Menschen nach einer Denunziation auch nicht mehrfach die Möglichkeit zu einer Stellungnahme gegeben. Aiwanger landete auch nicht im Gefängnis oder wurde ermordet, er bekam, im Gegenteil, im Nachhinein die Möglichkeit, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Das führte immerhin dazu, dass er im Amt bleibt und die Menschen in Bayern im Oktober entscheiden können, ob sie ihn wählen möchten. Auch dieser Verlauf wäre im "Dritten Reich" oder der DDR nach einer Denunziation, sagen wir, eher unwahrscheinlich gewesen.
Wolffsohn verbreitet hier ein rechtes Narrativ. Doch auch hier ist es wieder nicht so einfach, wie viele es offenbar gern hätten.
Natürlich sind unter den Journalisten, die über den Fall Aiwanger berichtet haben, Menschen, denen das alles politisch gut in den Kram passt, wahrscheinlich so einige. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das auch die Berichterstattung beeinflusst hat.
Und ja, es gibt Mechanismen, die Tendenzen in der Berichterstattung verstärken. Das kann daran liegen, dass Journalisten und Journalistinnen sich selbst in Medien informieren, dass sie sich nicht gut auskennen und andere Sichtweisen übernehmen, dass sie sich gegenseitig hinterherlaufen.
Eine Kampagne ist eine organisierte Bemühung mit einem Ziel. Schon das ist eine manipulative Darstellung, denn sie unterstellt, dass Medien hier zusammen, möglicherweise in Absprache, an einem Ziel arbeiten. Das geht in Richtung einer Verschwörungserzählung.
Wenn viele Medien unabhängig voneinander zu einer ähnlichen Einschätzung kommen, dann kann das aber auch einen anderen Grund haben: Es kann sein, dass dieser Eindruck gar nicht so falsch ist.
Vielleicht wird irgendwann eine Untersuchung zu dem Ergebnis kommen, dass Medien im Fall Aiwanger keine glückliche Figur abgegeben haben. Das kann natürlich auch sein. Aber anders als im "Dritten Reich" oder der DDR, kann man sich darauf verlassen, dass es nicht so leicht sein wird, so eine Untersuchung zu verhindern.
Altpapierkorb (Fußball-Doku, Katapult Schlichtungstermin, Facebook News, Bundesverfassungsgericht)
+++ Ab morgen ist die Doku "All or Nothing" (Spoiler: nothing) über den missglückten Auftritt der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft Katar bei Amazon Prime zu sehen. Matthias Alexander schreibt auf der FAZ-Medienseite über seinen Eindruck. Und der ist: Es gibt nicht so viele Gründe, sich das alles anzusehen. Alexander: "Da das Ende bekannt ist, dürfte sich das Interesse an "All or Nothing" in Grenzen halten. Falls der Nachwuchs daheim dennoch den Wunsch äußert, sich die Dokumentation anzuschauen, sollten die Eltern einfach sagen: Geht lieber raus und spielt. Anschließen könnte man den Kleinen die 'Rückkehr des Pokals' zeigen, den Film zum Triumph der Frankfurter Eintracht 2018. Das ist Stoff, aus dem Träume gemacht werden."
+++ Das Magazin "Katapult" steht vor der Insolvenz – oder ist es vielleicht schon? So ganz klar ist das nicht. Boris Rosenkranz schreibt in einer Analyse für Übermedien: "Denkt man alles zusammen: die finanziellen Probleme des Verlags, jene des Magazins, die fehlende Finanzierung der Journalismus-Schule, die Probleme, Mitarbeiter:innen zu bezahlen, dann erscheint es so, als wäre 'Katapult' bereits zahlungsunfähig, insolvent – wie es die Überschrift, wie es Sharepics auf Instagram und Twitter in großen Lettern behaupten." Auf dem Sharepic steht ganau dieser Satz: "Katapult ist insolvent." In den Kommentaren hat der Satz allerdings die Einschränkung: "wenn wir die kommenden 14 Tage nicht explodieren". Wie es zu der Situation kommen konnte, in der es die Lage verbessern würde, wenn "Katapult" explodiert, erklärt Gründer, Ex-Chefredakteur und Herausgeber Benjamin Fredrich in einem manisch anmutenden Blogbeitrag. Tenor: Wir haben Fehler gemacht und reagieren mit totaler Transparenz. Genau an diesem Transparenz-Versprechen gab es allerdings in der Vergangenheit Zweifel. Auch der neue Beitrag von Rosenkranz wirft Zweifel daran auf, ob das wirklich alles so stimmt, was Fredrich so sagt. Laut Rosenkranz hatte Fredrich für die nun auf Eis gelegte Journalistenschule eine Kooperation mit der Uni Greifswald in Aussicht gestellt. Doch dort wisse man nichts von einer Zusammenarbeit. "Katapult" hat gestern bei X aka Twitter 15 Fragen beantwortet. Zwei der Antworten: Finanzierungs- sowie Übernahmeangebote gebe es. Und die August-Gehälter seien inzwischen bezahlt.
+++ Keine Ahnung, ob das ein gutes Omen ist, aber das erste Schlichtungsgespräch zwischen dem Bundesverband der Zeitungsverleger und Digitalpublisher, der sich an der App "Newszone" stört, und dem SWR steht am 11. September im Kalender, berichtet "epd Medien". Die Zeitungsverleger halten die App für presseähnlich und damit rechtswidrig. Das Schlichtungsverfahren findet allerdings nicht ganz freiwillig statt. Das Oberlandesgericht Stuttgart hatte im Juni ein Urteil dazu aufgehoben. Begründung: Es gab noch kein Schlichtungsverfahren. Die App bleibt während des Verfahrens weiter offline.
+++ Mark Zuckerbergs Lädchen Meta aka Facebook stellt seinen Nebenerwerb News in Deutschland, Großbritannien und Frankreich ein, meldet das Unternehmen in einem Blogbeitrag. Und das liegt vor allem daran, dass sich auf der Plattform so gut wie niemand für Nachrichten interessiert. Laut dem Beitrag machen sie weniger als drei Prozent dessen aus, was die Leute bei Facebook in ihrer Timeline sehen. In Zukunft fehlt ein Menüpunkt, sonst ändert sich laut Meta nichts. In Deutschland gab es "Facebook News" seit 2021. Zuletzt hatte die Nachrichtengentur dpa die Inhalte kuratiert. Andrian Kreye schreibt auf der SZ-Medienseite über das Bemühen von Twitter/X und Facebook, Medieninhalte einzuschränken, das Ende von "Facebook News" sei "eine weitere Eskalation in der Konfrontation der sogenannten neuen mit den alten Medien".
+++ In Norwegen hat ein Gericht bestätigt, dass Meta keine personalisierte Werbung schalten darf, ohne die Leute zu fragen, berichtet die Nachrichtenagentur AFP, hier zu lesen bei der taz.
+++ Das Bundesverfassungsgericht beendet seine abenteuerliche Praxis, ausgewählten Journalistinnen und Journalisten vorab Pressemeldungen über kommende Entscheidungen auf Papier an der Pforte auszuhändigen, schreibt Jochen Zenthöfer auf der FAZ-Medienseite. So richtig transparent wird das Verfahren aber anscheinend auch in Zukunft nicht sein. Zenthöfer: "Auf unsere Anfrage, ob Richter einzelne Medien über anstehende Verfahren oder Entscheidungen vorab (auch inoffiziell) informieren dürfen, heißt es: 'Ausdrückliche Regelungen existieren nicht. Im Übrigen handelt es sich um eine Rechtsfrage, zu der das Bundesverfassungsgericht keine Stellungnahme abgibt.' So schnell endet die neue Transparenz dann auch wieder.'"
Das Altpapier am Freitag schreibt Klaus Raab.