Das Altpapier am 11. Oktober 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens.
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 11. Oktober 2023 Schwache Freiheitsverteidiger

11. Oktober 2023, 13:14 Uhr

Kennen die heutigen Programmverantwortlichen den Sinn und und Zweck des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems? Sind die Sender bereit, ihre Wahlberichterstattung zu verändern? Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Wahlabende ähneln royalen Hochzeiten

Das Wesen von Medienkritik und Kritik im Allgemeinen besteht unter anderem darin, immer wieder aufs Neue auf bekannte Missstände hinzuweisen. Der Literaturwissenschaftler Moritz Post tut es in der "Frankfurter Rundschau" in Sachen Landtags-Wahlabend-Berichterstattung:

"Anstatt einer vor Schadenfreude und Verachtung für die Demokratie geifernden Alice Weidel im Hessischen Landtag das Mikrofon unter die Nase zu halten, sollten die Sender schleunigst neue Formen des Wahljournalismus finden. So wie die Sendungen bisher funktionieren, erwecken sie jedenfalls den falschen Eindruck, als sei das Erstarken der neofaschistischen Alternative für Deutschland normale demokratische Praxis."

Post kritisiert unter anderem "Dienst nach Vorschrift":

"Da wird im Studio ein Politikwissenschaftler neben die Moderatorin gestellt, der aufs Stichwort viel zu kurz ausgeführte Erklärungen parat hat, um die Zeit zwischen der Live-Schalte von der einen zur anderen Wahlsiegparty einer Partei zu überbrücken. Dort steht dann wiederum ein anderer Journalist, der eine entweder feiernde oder trauernde Person interviewt. Schalte wieder zurück ins Studio. Und das Ganze mehrere Stunden lang. Wenn man darüber nachdenkt, ähnelt das sehr stark den Grundzügen von Berichterstattung über Hochzeiten (wahlweise auch Beerdigungen oder Krönungen) der Royals." 

Den "Dienst nach Vorschrift"-Journalismus, allerdings ohne direkten Bezug auf die Wahlberichterstattung, kritisiert auch Nadia Zaboura, Host des Medienpodcasts "Quoted" von SZ und Civis. Die Kommunikationswissenschaftlerin hat in einem Thread bei Mastodon (und auf anderen Plattformen) mehrere grundsätzliche Fragen formuliert. Unter anderem folgende:

- "Was muss geschehen, damit eine nüchterne Bestandsaufnahme gemacht wird, welche Formate und Strategien im eigenen Repertoire der Demokratie und damit auch einer freien Presse Schaden zufügen?"

- "Gibt es überhaupt einen Auslöser, der zu einer Änderung des medialen Status Quo führen kann?"

- "Gilt weiter das Mantra, der Zuschauer könne doch selbst über die Richtigkeit von Inhalten entscheiden - in einer Zeit, in der professionelle Desinformations-Akteure die öffentliche Debatte formen?"

- "Welchen Wert haben Polit-Talks, haben Wahlkampf-Runden, in denen (…) manipulativen Desinformationen unwidersprochen Raum zur massenhaften Verbreitung gegeben wird?"

An dieser Stelle bietet es sich an, darauf hinzuweisen, dass Zaboura die Entscheiderinnen und Entscheider auffordert, "das eigene Handeln nicht nur explizit in punkto AfD-Berichterstattung" zu "hinterfragen". Denn: "Professionelle Desinformations-Akteure" gibt es ja auch in anderen Parteien.

Noch einmal Moritz Post in der FR:

"Sinn und Zweck des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems ist es doch gerade zu verhindern, dass nicht noch einmal eine faschistische Partei in Deutschland die Macht erringt. Auch das kann man beziehungsweise muss man unter dem bürgerlichen Mantra der ‚wehrhaften Demokratie‘ verstehen. Doch die Bürgis in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten scheinen das noch immer nicht zu verstehen."

Ich teile die Positionen von Post und Zaboura in weiten Teilen, und ich finde es - siehe oben - auch richtig, sie immer wieder vorzubringen. Aber da Kritik dieser Art vorgebracht wird, seit die AfD in Parlamenten vertreten ist, muss man leider auch sagen: ARD und ZDF wollen überhaupt keine "neue Formen des Wahljournalismus finden".

Wenn zum Beispiel die "Heute"-Redaktion des ZDF am Wahlabend einen Text veröffentlicht, der die Überschrift "Die AfD kann jetzt auch Westen: Die Gründe" trägt und im Stil einer Reportage von einer Fanmeile beginnt ("Jubel, Schulterklopfen und eine strahlende Alice Weidel") - dann muss man inzwischen davon ausgehen, dass sie das genauso für richtig halten. Wobei man eben immer auch betonen muss: Diese Art der Wahlberichterstattung wäre auch dann eine Katastrophe, wenn es um eine andere Partei ginge.

Für "die Feinde der Verfassung" darf es keinen Proporz geben

Zum "Sinn und Zweck des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems", von dem Moritz Post in seinem FR-Beitrag spricht, hat sich auch gerade Georg Restle, der Redaktionsleiter von "Monitor", geäußert, und zwar in der aktuellen Ausgabe von "Studio M", dem Online-Talk-Format seines Magazins. "Wie umgehen mit einer Partei, die im Kern rechtsextremistisch ist?", lautet die von Restle gestellte Ausgangsfrage der Sendung, die vor den Wahlen in Bayern und Hessen aufgezeichnet und nach den Wahlen veröffentlicht wurde. Restles Gesprächspartner: Melanie Amann ("Spiegel"), Jan Fleischhauer ("Focus") und der freie Autor Michael Kraske, der für den "journalist" kürzlich einen Artikel unter der Überschrift "Medien und AfD: Extrem normal" schrieb (Altpapier von vergangenem Donnerstag). Die Headline gefiel den "Monitor"-Leuten so sehr, dass sie sie für ihre Sendung fast wortgleich übernommen haben ("AfD und Medien: Extrem normal?").

Restle sagt ab ungefähr Time Code 29:00 zur Kritik an der Präsenz von AfD-Politikern insbesondere in öffentlich-rechtlichen Talkshows:

"Man muss sehen, dass die Rundfunkordnung und die Rundfunkfreiheit Ausdruck der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus sind. Karlsruhe hat das in seinen Rundfunkurteilen immer wieder sehr deutlich unterstrichen. Mit anderen Worten: Für die Feinde dieser Verfassung, für Rechtsextremisten ist kein Proporzgedanke übrig. Es gibt keine Vielfalt, die auch Rechtsextremisten einschließt. Das steht auch ausdrücklich in den Landesmediengesetzen so drin."

Unter Bezug auf Paragraph 5, Satz 4 des WDR-Gesetzes ergänzt Restle, sein Sender habe die Aufgabe "die Grundwerte dieser Verfassung gegenüber ihren Feinden zu verteidigen". Wörtlich heißt an der Stelle:

"Der WDR soll (…) die demokratischen Freiheiten verteidigen und der Wahrheit verpflichtet sein."

Ähnliche Formulierungen finden sich unter "Programmgrundsätze" auch in anderen Landesmediengesetzen. Als Co-Autor eines Artikels für den "Verfassungsblog" hat sich Restle bereits 2021 ausführlich mit dem Thema beschäftigt (siehe dazu ein Altpapier von Ralf Heimann aus diesem August).

Was Restle sagt, wirft ja unter anderem folgende Frage auf: Wie lässt es sich erklären, dass öffentlich-rechtliche Sender bzw. deren Programmverantwortliche nicht bereit sind, "demokratische Freiheiten" ausreichend zu "verteidigen"? Und insofern bereit, gegen das zu verstoßen, was in den Landesmediengesetzen steht? Die These, dass diese Senderhierarchen mit einem Leben in Unfreiheit kein Problem hätten, liegt leider nicht fern.

Ein Großteil der AfD-Berichterstattung ist inkonsequent

Der AfD-Berichterstattungsbeobachter Kraske weist in der Diskussion ab ca. 14:00 darauf hin, dass "interessanterweise" die Medien "in ihrer Breite keine Konsequenzen aus ihrer eigenen Berichterstattung ziehen". Inwiefern?

"Schon unter Bernd Lucke galt die AfD als rechtspopulistisch. Und nach jedem Parteitag, nach jeder neuen Mobilisierung, nach jedem verbalen Ausfall wird gesagt, die AfD radikalisiere sich weiter. Wenn das so ist, dann muss sich der Journalismus tatsächlich auch das Urteil zutrauen und muss die Kategorien überdenken - und ich erkenne im Gegenteil, dass es im Moment eine große Vorsicht gibt, wo man versucht, so ein bisschen das AfD-Klientel zu beschwichtigen, ihnen entgegen zu kommen, bloß nicht AfD-Wähler-Bashing zu betreiben."

Mit anderen Worten: Klare Aussagen wie "Wenn die prägende Figur einer Partei Nazi ist, dann ist das eine Nazipartei" (Nordrhein-Westfalens christdemokratischer Ministerpräsident Hendrik Wüst am Dienstag, siehe zum Beispiel "Spiegel") sind im Journalismus eher die Ausnahme.

"Journalisten sind Zivilisten"

"Some journalists are making the ultimate sacrifice while covering the war between Israel and Hamas", lautet der Einstieg eines Beitrags im CNN-Medien-Newsletter "Reliable Sources", der die traurige Information enthält, dass bisher "mindestens sieben Journalisten" getötet wurden, seitdem die Hamas am Samstag ihren Angriff auf Israel begonnen hat.

Autor Oliver Darcy schreibt weiter:

"Diese Zahl könnte in den kommenden Tagen noch weiter ansteigen, da Israel Vergeltungsschläge gegen die Hamas durchführt, während die Terrorgruppe ihre Offensive gegen den jüdischen Staat fortsetzt. Das Blutvergießen unterstreicht das sehr reale Risiko, das Journalisten eingehen, wenn sie aus Konfliktgebieten berichten und unter außerordentlich schwierigen Umständen Informationen sammeln."

Und:

"Die überwiegende Mehrheit der Journalisten, die über den tobenden Krieg berichten, befindet sich innerhalb Israels (…) In den letzten Tagen wurden entlang der Grenze erschütternde Videos aufgenommen, die zeigen, wie Fernsehkorrespondenten in Deckung gehen, während Raketen auf ihre Standorte abgefeuert werden und in der nahen Ferne Schüsse fallen. In der Zwischenzeit sind Journalisten im Gazastreifen, der von israelischen Luftangriffen heimgesucht wird, einem noch größeren Risiko ausgesetzt."

Darcy beruft sich in seinem Text unter anderem auf das Committee to Protect Journalists (CPJ). Dieses wiederum führt eine ständig aktualisierte Liste mit den Namen von Journalistinnen und Journalisten, die in diesem neuen Krieg vermisst werden, verhaftet, verletzt oder getötet wurden.

In diesem Zusammenhang betont das CPJ:

"Journalisten sind Zivilisten, die in Krisenzeiten wichtige Arbeit leisten, und nicht zur Zielscheibe von Kriegsparteien werden dürfen."


Altpapierkorb (Brief eines EU-Kommissars an Musk, verfassungswidriges ORF-Gesetz, zweite Staffel von "Charité intensiv")

+++ "Israel-Hamas Conflict Was a Test for Musk’s X, and It Failed", konstatiert bloomberg.com. Etwas ausführlicher formuliert es der "Spiegel": "Fast genau ein Jahr nach der Übernahme von Twitter durch Elon Musk ist es immer noch möglich, von dem enttäuscht zu sein, was aus dem sozialen Netzwerk geworden ist. So jedenfalls ist es Nachrichtenprofis, Desinformationsexperten und Faktenprüfern in den vergangenen Tagen ergangen. Ihr Tenor: Seit dem vergangenen Wochenende ertrinkt die in X umbenannte Plattform geradezu in gezielt verbreiteten Falschinformationen und Propaganda. X versagt als Twitter." Das hat nun den EU-Kommissar Thierry Breton auf den Plan gerufen: "Nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel verfügen wir über Hinweise, wonach Ihre Plattform zur Verbreitung illegaler Inhalte und von Falschinformationen in der EU verwendet wird", schrieb Breton an Elon Musk. Siehe dazu u.a. tagesschau.de ("EU fordert von Online-Dienst X härteres Durchgreifen") und AFP/"Rheinische Post"). Teil des Briefs: ein "24-Stunden-Ultimatum" (Euronews).

+++ "Das ORF-Gesetz, das die Belange des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Österreich regelt und das erst im Juli in seiner jetzigen Form vom Nationalrat beschlossen worden war, ist in Teilen verfassungswidrig." Das stellt die SZ (€) fest - und bezieht sich dabei auf eine Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs. Dieser "sieht einen übermäßigen Einfluss der Bundesregierung auf den ORF-Stiftungsrat und des Bundeskanzlers auf den ORF-Publikumsrat, der zudem zu großen Spielraum bei der Auswahl habe. Die Höchstrichter vermissen Regelungen für verfassungsrechtlich gebotenen Pluralismus" ("Der Standard").

+++ Um das Thema Organspenden geht es in der Fortsetzung der preisgekrönten Dokuserie "Charité intensiv" von Carl Gierstorfer und Mareike Müller. Der "Tagesspiegel" lobt "Charité intensiv: Gegen die Zeit" u.a. mit folgenden Worten: "Die Serie in vier Teilen mit jeweils 30 Minuten Länge erreicht ihre emotionale Tiefe, ohne sie spektakulär oder spekulativ zu suchen."

Das Altpapier am Donnerstag schreibt Ralf Heimann.

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