Das Altpapier am 19. Dezember 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 19. Dezember 2023 Beruf mit Zukunft: Medienwächter

19. Dezember 2023, 09:49 Uhr

Die EU beginnt, ihr Digitale-Dienste-Gesetz anzuwenden, als erstes gegen Elon Musk. Die Ampel-Regierung für den DSA 78 Millionen Euro ein und schafft so circa 580 Jobs. Das Medienfreiheitsgesetz EMFA wird kontrovers beurteilt. Springer lässt sich für KI-Trainingsdaten bezahlen. Und was wird aus dem Grimme Online Award? Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Jetzt wird's ernster mit dem DSA

Ist die Europäische Union (EU) ein Gigant der Geopolitik, der auf Augenhöhe mit dem Verbündeten USA immer mehr Mitglieder der Weltgemeinschaft von den Vorzügen rechtsstaatlicher Demokratie überzeugt und kürzlich mit dem Beschluss, Beitrittsgepräche mit der Ukraine aufzunehmen, wieder ein starkes Zeichen setzte? Oder ein Papiertiger, den weder verbündete Autokraten wie der türkische Sultan noch die eigenen Mitglieder ernst zu nehmen brauchen? (Und der Juso-Tricks aus Kanzler Scholz' jungen Jahren bemühen muss, um überhaupt größere Beschlüsse zu fassen?) Nächtelang leidenschaftlich diskutieren könnte man darüber.

Um diese Frage unter Medien-, also: Medien-Gesetzes-Aspekten zu beleuchten, kommen gerade allerhand Gelegenheiten. Aktuell durch die Nachrichten geht, dass die EU-Kommission ein "Verfahren gegen X", also das ehemalige Twitter einleitet, und zwar auf Basis des Digitale-Dienste-Gesetzes (DSA). Heise.de zitiert Sätze von EU-Kommissaren wie Thierry Breton und Margrethe Vestager und verlinkt diese nüchterne Kommissions-Webseite. Die "SZ" zitiert "einen mit der Angelegenheit vertrauten EU-Beamten", als sei noch vieles geheim, freut sich aber, "dass der Verfahrenshammer der EU nun auf das Haupt von X-Chef Elon Musk niedergeht". Wer genau da wie, hoffentlich transparent, entscheiden wird, und ob dieses erste größere Verfahren im Rahmen des DSA ein paar Maßstäbe setzen kann – das wird spannend. Also im Blick auf die Papiertiger-Frage.

Der DSA spielt bekanntlich auch in Deutschland. Dazu meldet netzpolitik.org:

"Nach langwierigen Verhandlungen sollen alle Ministerien dem Entwurf aus dem Haus des Digitalministers Volker Wissing (FDP) ihren Segen gegeben haben. Die Verabschiedung durch das Kabinett ist noch im Dezember vorgesehen, womöglich Mitte dieser Woche."

Ausführlich schildert Tomas Rudl dann die vorgesehene Konstellation, in der die Koordinierungsstelle der Bundesnetzagentur mit dem Bundeskriminalamt, dem Bundesamt für Justiz, den vierzehn Landesmedienanstalten, der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz, dem Bundeskartellamt sowie, falls sie Lust haben, Bundesministerien ("... können innerhalb ihrer Zuständigkeitsbereiche Verbindungsschnittstellen zur Koordinierungsstelle einrichten") kooperieren soll. Ein achtköpfiger Beirat soll "die Koordinierungsstelle beraten und unterstützen". Soviel Koordinationsbedarf erfordert natürlich auch hauptamtliches Personal: "Rund 150 Stellen sind derzeit für die Aufsicht eingeplant, kosten soll dies insgesamt knapp 13 Millionen Euro jährlich". Im Gegenzug entfielen zwar knapp 20 Stellen beim Bundesamt für Justiz. Doch benötige das größer eingeschaltete BKA mittelfristig überdies

"gut 450 Stellen, um mit den erwarteten 720.000 Meldungen umzugehen ... Das würde auf jährliche Kosten von rund 44 Millionen Euro hinauslaufen, auch wenn es sich um eine grobe Schätzung handle. Besser beurteilen lässt sich wohl, was die neue IT-Umgebung zur Bearbeitung der eingehenden Meldungen einmalig kosten wird. Diese soll mit rund 21 Millionen Euro zu Buche schlagen."

Hm. Immer noch weitere neue Bürokratieebenen aufzumachen, in denen viele gutbezahlte Posten entstehen, zählt zwar zu den bisherigen Erfolgsrezepten der EU (die jede neue Bundesregierung ja auch anwendet, die aktuelle Ampel-Regierung bislang bloß ohne Erfolg). Aber ob zum Beispiel die Landwirte zum Beispiel, die gestern protestierend durch Berlin fuhren, für solche Maßnahmen Verständnis haben?

... und mit dem EMFA

Dann ist da noch der EMFA (European Media Freedom Act). Das "sogenannte Medienfreiheitsgesetz", wie Michael Hanfeld in der "FAZ" nicht unpolemisch schrieb, "zielt erkennbar auf Ungarn oder Polen, treffen aber wird es alle". Tatsächlich betonten EU-Vertreter in deutschen Diskussionen immer, der EMFA ziele auf Missstände wie in Ungarn, müsse gerade daher aber von Brüssel aus durchgesetzt werden. Also von noch einer neuen Behörde. Dieser EMFA hat auf dem komplexen Weg, Gesetz zu werden, Fortschritte gemacht. Doch die sind schwierig zu bewerten. Hanfeld schreibt mit Recht:

"Zu den Eigentümlichkeiten europäischer Gesetzgebung gehört nämlich, dass sie nach dem Motto 'Habemus Lex' jubelnd ausgerufen und von Politikern als bahnbrechend bezeichnet wird, man aber das Kleingedruckte, auf das es ankommt, noch gar nicht kennt."

Auch der EMFA greift weit in viele Bereiche aus: auf die Plattformen (denen gegenüber "anerkannte' Medien", wie eine kuriose Gesetzestext-Formel lautet, immerhin einige Rechte haben sollen), auf die Rechte von Verlegern, in die Rechte von Journalisten. Einige EU-Mitgliedsstaaten, nicht nur Ungarn, pflegen Journalisten durch Staatstrojaner zu hacken, und wollten sich dieses Recht nicht nehmen lassen. Von den komplexen Verhandlungen im Trilog, der "zwischenzeitlich auf der Kippe stand", berichtete ebenfalls netzpolitik.org. Dann haben sich die Verhandlungspartner doch geeinigt. "Bahnbrechender Machtzuwachs für EU", lautet die "Telepolis"-Einschätzung. Von "nie dagewesenem grenzüberschreitenden Schutzniveau im Netz" jubilieren die deutschen Medienwächter, zweifeln dann aber doch angesichts des Kleingedruckten. (Und wer kein Medienwächter ist, könnte natürlich zweifeln, ob so ein EU-behördliches Schutzniveau wirklich Anlass zum Jubeln bietet).

Unterdessen hat Viktor Orbans Regierung in Ungarn ein EU- und deutsches Rezept übernommen – und auch eine neue Bürokratie-Ebene aufgezogen. Von der neuen Behörde zur Umsetzung des Gesetzes "zum Schutz der nationalen Souveränität", das "insbesondere auch kritische Journalisten und NGOs" betreffen soll, berichtet die "taz".

KI, Springer & erneut die EU

Axel Springer ist längst ein kleinerer Fisch unter den großen Medienkonzernen. 2023 hat er Bild TV eingestellt und wollte dann doch nicht mit Fußballscheichs um den "Daily Telegraph" mitbieten. Aber eine "Partnerschaft" mit OpenAI, also dem Anbieter des Werkzeugs ChatGPT, kündigte er gerade an. "Axel Springer ist jetzt ein Cyborg", kommentiert Tina Groll von der Journalistengewerkschaft DJU/ Verdi auf mmm.verdi.de, und sieht auch Positives darin. Und zwar im PM-Satz "Außerdem vergütet die Partnerschaft die Rolle Axel Springers bei der Mitwirkung an den Produkten von OpenAI". Dazu schreibt sie:

"Die Pläne sehen tatsächlich auch die Nutzung von Inhalten der Medienmarken von Axel Springer vor, um das Training von OpenAIs Sprachmodellen voranzutreiben. Und das offensichtlich nicht kostenfrei oder gegen Klicks, sondern auch gegen Zahlung von Geld. Seit vielen Monaten verhandeln Verleger mit KI-Unternehmen darüber, zu welchen Konditionen eine solche Nutzung erfolgen darf. Dass nun ein Deal steht, ist bemerkenswert. Erst recht, wenn man die vergangenen Kämpfe um das sogenannte Leistungsschutzrecht betrachtet ..."

Dieses Leistungsschutzrecht ist fast schon vergessen. Solche Gesetze hatte nicht die EU gemacht, sondern jedes Land für sich, sofern Verlage-Verbände es nachdrücklich genug gefordert hatten. In Australien erzielten die Verlage größere Einnahmen, in Frankreich immerhin noch mehr als in Deutschland, wo sich viele Verlage jeweils einzeln von Spenden des Google-Konzerns ködern ließen. Ein deutsches Leistungsschutzrecht-Gesetz gab es dann zwar, aber das war so schlecht, dass niemand es bemühen mochte. Aktuell befürchten viele im weiteren Sinne Kreative (von Verlagen bis zu Hollywood-Schauspielern), dass Künstliche Intelligenz die von ihnen (mit) produzierten Inhalte noch umstandsloser vereinnahmt als Suchmaschinen es taten und tun. Da nun "hat die EU mit dem AI-Act kostenlosem Data-Mininig gerade einen Riegel vorgeschoben", schreibt Groll. Genau genommen versucht die EU das. Ob es gelingt, wird sich herausstellen müssen. Dass aber KI-Firmen für die Trainingsdaten, die sie brauchen,

"... bereit sind, ... Geld zu zahlen, ist im Grunde eine gute Nachricht. Allerdings kommt es nun darauf an, dass alle Rechteinhaber beteiligt werden – also auch die Autorinnen und Autoren."

Den AI Act der EU, den ebenfalls unterschiedliche Seiten aus unterschiedlichen Gründen kritisierten, gar nicht so schlecht findet auch das "FAZ"-Wirtschaftsressort:

"... Gäbe es in Europa zahlreiche Informationstechnik-Unternehmen, die führend darin wären, KI zu entwickeln und in Massenanwendungen zu Geld zu machen, würde Wettbewerb aus sich heraus für Qualität, Innovation und Produktsicherheit sorgen – denn all das verlangen Kunden ohnehin und zahlen dafür gut, wenn die Leistung stimmt. Doch Europa führt nicht. Die Maßstäbe in der KI-Kommerzialisierung setzen die bekannten Internet-Konzerne aus Amerika und China. ... ... Der Geist des 'AI Acts' ist infolgedessen einer der Verteidigung und des Selbstschutzes. Die EU möchte Bürger und Unternehmen schützen – vor unerwünschter Abhängigkeit."

Genau das müsste inzwischen der Ausgangspunkt für EU-Politik sein: halbwegs sinnvoll damit umzugehen, dass sehr viele wichtige Bereiche, ganz besonders bei digitalen Medien, weitestgehend von nicht-europäischen Unternehmen dominiert werden. Die einzige deutsche VLOP (Very Large Online Platform) im DSA-Sinne heißt übrigens Zalando.

Neues, nichts Gutes vom Grimme-Institut

Dass Grimme-Instituts-Direktorin Frauke Gerlach sich nicht um eine Verlängerung ihres 2024 auslaufenden Vertrags bemühen wird, stand gestern im Altpapierkorb. Dass die Gesellschafter des Instituts, diese, außerdem "die Abwicklung der Bereiche Grimme-Forschung und Grimme-Medienbildung" beschlossen haben, machte dann ein "Statement der Belegschaft des Grimme-Instituts" deutlich, das gestern Nachmittag herumgeschickt wurde. Außerdem steht darin etwa:

"Die Sparmaßnahmen für das kommende Jahr beinhalten auch, dass sowohl der Wettbewerb als auch die Preisverleihung des Grimme Online Award im 24. Preisjahr nicht wie gewohnt stattfinden können. Dies ist im Hinblick auf die Relevanz dieses Preises in der deutschen Medien- und Onlinewelt eine fatale Entwicklung."

Gerade für den GOA [an dem ich zuletzt als Jurymitglied bis 2023 beteiligt war], der die schnellen Entwicklungen des Internets zu spiegeln versucht und deutlich schlechter ausgestattet war als der Grimme-Fernsehpreis, wäre es hochgradig fatal, wenn er abrupt auf zweijährlichen Rhythmus umgestellt würde. Ansonsten klingt es aus redaktionellen Meldungen ("SZ"/ €, dwdl.de), dass 2024 "betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen" und "die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ... erst einmal aufatmen" können. Mitdenken sollte man dabei aber, dass solche schön klingenden Formeln die nicht fest angestellten Mitarbeiter häufig nicht mitmeinen.


Altpapierkorb (Twitter-Leak, Politiker-Interviews, RBB-"Knalltrauma", Lochthofen & "Smart Raudio", Kurzfilmnacht)

+++ Passend zum EU-Verfahren gegen X/Twitter leakte die "Business Post" aus Irland (wo Twitter wie viele andere Plattformen seinen EU-Sitz nahm), dass auf der Plattform Posts, "in denen der Holocaust geleugnet, Schwarze, Weiße und homosexuelle Menschen beleidigt oder in denen anderen die Menschlichkeit abgesprochen werden, ... nicht mehr entfernt, sondern lediglich weniger sichtbar gemacht werden" sollen. Darüber berichtet heise.de. +++

+++ "Dass Antworten nicht immer zu den Fragen und umgekehrt passen, stört keine der beiden Seiten. Egal, die Journalistinnen haben ja ihre Rollen ebenso erfüllt wie die Politiker", umreißt Joachim Huber im "Tagesspiegel" die "Routine" in Politiker-Interviews des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Wenn nun ein vieldiskutiertes "Berlin direkt"-Interview von Diana Zimmermann mit Markus Söder die mal "durchbrach", sei das doch schön. +++

+++ Michael Hanfeld bleibt on fire und hat den RBB weiter im Blick. Kaum dass er der Anstalt (wegen der scharfen Kritik ihrer Intendantin am nun beschlossenen neuen Staatsvertrag) ein "Knalltrauma" bescheinigte, befasst er sich mit der gegangenen Chefin der kommerziellen Werbetochter RBB Media.

+++ Zum Jahresende verlässt der Direktor des Landesfunkhauses Thüringen, Boris Lochthofen, den MDR und geht zurück zum privaten digitalen Radio (bzw., wie es nun heißt: "Smart Raudio"). Er "verkörpert schönstes Bildungsbürgertum, kann bei allem Intelligenzlersprech aber auch gnadenlos Gebrauchtwagen verkaufen und Björn Höcke Paroli bieten", beschreibt Steffen Grimberg ihn in der "taz". Allerhand damit zu tun, dass das Altpapier seit 2017 beim MDR erscheint, hat Boris Lochthofen außerdem. +++

+++ Ebenfalls vom Thüringer MDR kommt die einzige regelmäßige Kurzfilm-Sendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Am morgigen Tag des Kurzfilms bzw. in der längsten Nacht des Jahres gibt es "Unicato" außer nonlinear in der Mediathek auch live in Halle. +++

Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch René Martens.

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