Das Altpapier am 5. Januar 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann 3 min
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Kolumne: Das Altpapier am 5. Januar 2024 von Ralf Heimann Gummistiefel-Momente

Kolumne: Das Altpapier am 5. Januar 2024 – Gummistiefel-Momente

Olaf Scholz hat sich bei einem Besuch im Flutgebiet für die falschen Schuhe entschieden. Der Fauxpas passt gut zu seinen Umfragewerten. Und genau das ist das Problem.

Fr 05.01.2024 12:38Uhr 03:05 min

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Kolumne: Das Altpapier am 5. Januar 2024 Gummistiefel-Momente

05. Januar 2024, 10:58 Uhr

Olaf Scholz hat sich bei einem Besuch im Flutgebiet für die falschen Schuhe entschieden. Der Fauxpas passt gut zu seinen Umfragewerten. Und genau das ist das Problem. Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier Autoren Ralf Heimann
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Kleines Detail, große Wirkung

Die Reportage über den Besuch des Bundeskanzlers im Hochwassergebiet in Sachsen-Anhalt, die am Donnerstagabend beim "Spiegel" erschien, beginnt mit dem Satz: "Diesmal trägt er also Gummistiefel." Und um dieses kleine Detail, die Schuhe des Bundeskanzlers, geht es nun schon seit Tagen.

Es fing damit an, dass Olaf Scholz am Silvestertag das überschwemmte niedersächsische Verden besuchte, um sich ein Bild zu machen, wie es hieß, und sich dazu halbhohe Wanderschuhe angezogen hatte. Auf den Fotos, die bei seinem Besuch entstanden sind, fällt das nicht weiter auf, weil die Wanderschuhe durchaus zur Situation passen, und weil die Menschen im Umfeld von Scholz ganz ähnliche Schuhe tragen, auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil.

Die "Bild"-Zeitung titelte am Sonntagnachmittag: "Kanzler im Flutgebiet: Ist das Scholz’ Gummistiefel-Moment?"

Da war das allerdings noch anders gemeint, verbunden mit der Frage: Schafft Scholz hier im Umfragetief die Wende? Denn der Gummistiefel-Moment, der vielen in Erinnerung geblieben ist, das war der Moment, in dem Gerhard Schröder vor über 20 Jahren mit schwarzen Stiefeln ins Flutgebiet an der Elbe reiste und, so geht die Erzählung, dadurch seine Wiederwahl rettete.

In der deutschen Nachkriegsgeschichte gab es immer wieder Krisensituationen, in denen Politiker in Hochwasserlagen vermitteln mussten: Wir tun was. Die Nachrichtenagentur dpa stellte am Wochenende dann auch gleich eine Übersicht zusammen. Beim Redaktionsnetzwerk Deutschland wurde daraus: "Die wichtigsten Gummistiefel-Momente der deutschen Politik".

Nach dem Besuch von Scholz in Niedersachsen änderte sich zunächst der erste Eindruck, schließlich verfestigte sich der neue. Es passierte, was Tim Szent-Ivanyi in einem Kommentar für das Redaktionsnetzwerk schon am Samstag als möglichen Grund dafür angegeben hatte, dass es so lange gedauert hatte, bis Scholz ins Hochwassergebiet kam. Er schrieb:

"Vielleicht ist es auch schlicht die Angst davor, im Hochwassergebiet die falschen Fotos zu produzieren."

Die Rubin’sche Vase

In der "Spiegel"-Reportage heißt es, es sei kritisiert worden, Scholz "habe deshalb nicht beherzt das Gespräch mit Anwohnern gesucht, weil er sich auf dem Weg durchs – an dieser Stelle nicht allzu tiefe Wasser – nicht nasse Füße holen wollte".

Die Bilder lassen diese Interpretation durchaus zu. An einer Stelle steht Scholz mit seiner Entourage vor einer Pfütze, und es sieht aus, als kämen sie hier wegen des knöchelhohen Wassers nicht weiter.

Man kann in solchen Bildern vieles erkennen, wenn man möchte. Zum Beispiel einen Beleg dafür, dass Olaf Scholz die Situation falsch eingeschätzt hat, dass er sie unterschätzt hat und damit ja vielleicht auch die Flut generell. Und jemand, der die Situation falsch einschätzt, wirkt dieser Krisenlage nicht gewachsen.

Ergibt sich so ein Verdacht, wird daraus schnell so etwas wie mit der Rubin’schen Vase. In ihr sieht man auf den zweiten Blick ein ganz anderes Bild. Auf den Fotos mit Scholz war auf den ersten Blick der Bundeskanzler bei seinem Besuch im Hochwassergebiet zu sehen, auf den zweiten ein Mann ohne Gummistiefel, der Deutung nach also ohne Gespür für die Lage. Und darin wiederum kann man, wenn man möchte, auch Desinteresse erkennen, oder wie man bei Politikern sagt: fehlende Volksnähe. Wenn man möchte, das ist hier wichtig.

Man kann hier nämlich auch etwas ganz anderes sehen, wenn man möchte. Wäre Scholz als Kanzler beliebt und über alle Maßen erfolgreich, könnte man hier auch genau das Element erkennen, das den Unterschied ausmacht.

Dann wäre Scholz möglicherweise der sympathische Pragmatiker, der nicht viel auf Inszenierungen gibt, der auf den peinlichen Gummistiefel-Auftritt verzichtet, weil ja ohnehin jeder weiß, dass die Stiefel nur ein Symbol für Tatkraft sind, mit der tatsächlichen Tatkraft desjenigen, der sie trägt, aber nicht viel zu tun haben. In dem Fall könnte es ein Markenzeichen sein, in so einer Situation gerade keine Gummistiefel anzuziehen.

Es hätte sogar passieren können, dass die Gummistiefel Scholz zum Verhängnis werden – wenn außer ihm so gut wie niemand welche getragen hätte. So war es ja auf den Bildern in Niedersachen. In dem Fall wären die Stiefel direkt als Element einer Inszenierung aufgefallen. Und auch dann hätte man wieder sagen können: Er hat kein Gespür für die Situation.

"Man kann sich nicht nicht inszenieren"

Der Journalist und Kommunikationsberater Hendrik Wieduwilt sagt im Gespräch mit Sascha Wandhöfer für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres":

"Das ist immer ein ganz furchtbarer Balanceakt. Das gilt übrigens für alle Auftritte, aber besonders für Auftritte in der Flut. Macht man sich jetzt da sozusagen lächerlich, indem man sich überinszeniert, Stichwort Gummistiefel, Regenjacke, finsterer Blick, also ein bisschen den Helmut Schmidt oder auch Gerhard Schröder nachmachen, oder macht man jetzt einen auf super authentisch?"

Unglücklicherweise bleibt am Ende aber keine Wahl. Wieduwilt:

"Man kann sich nicht gar nicht inszenieren."

Versuche man das, dann werde man eben von anderen inszeniert. Bevor man jetzt in Kopfschütteln darüber verfällt, dass heutzutage ja gar nichts mehr echt, sondern im Grunde alles nur Inszenierung sei, muss man sich vielleicht noch einmal klarmachen, warum es denn überhaupt so geworden ist.

Eine Inszenierung ist per se nämlich nichts Schlechtes. Ein Theaterstück kann sehr viel Gutes und Nützliches vermitteln, man kann vieles aus ihm lernen, vor allem Dinge, die über die reine Information hinausgehen. Ein Theaterstück kann zum Beispiel Trost spenden. Es kann aber auch einfach Unterhaltung sein. Dann ist die Wahrscheinlichkeit am größten, dass sich ein großes Publikum findet.

In der Politik bieten Medien daher immer auch Unterhaltung, sie erzählen Geschichten. Sonst würden die Informationen, die für ein großes Publikum gedacht sind, womöglich bei den meisten Menschen gar nicht ankommen. Politikerinnen und Politiker stellen sich darauf ein. Wenn sie sich in diesen Wettbewerb um Aufmerksamkeit begeben möchten, müssen sie also auch eine Rolle spielen. Das Gute ist: Auf diese Weise kann man Menschen Politik vermitteln, die sich für Politik gar nicht interessieren. Das Schlechte: Gute Schauspieler können schlechte Politiker sein – und umgekehrt.

Oder wie Hendrik Wieduwilt sagt:

"Politik bemisst sich ganz oft gar nicht mehr daran, was tatsächlich entschieden wird und welche Wirkungen erzielt werden."

Daher können vermeintlich unwichtige Details so wichtig werden. Das wird deutlich, wenn man den Bewertungsmaßstab anpasst. Man muss eine Inszenierung nach den Maßstäben der Inszenierung bewerten, nicht nach denen der Politik. 

Hätte Leonardo di Caprio in "Titanic" ein Hawaiihemd getragen, hätte das die Geschichte als schlechte Inszenierung entlarvt; sie wäre unglaubwürdig geworden.

Die mögliche Diskrepanz zwischen Anschein und Wirklichkeit in der Politik führt je nach kultureller Prägung zu Misstrauen. In Deutschland ist dieses Misstrauen sehr ausgeprägt. Das habe zum einen mit den Erfahrungen im Nationalsozialismus zu tun, es habe aber auch tiefere kulturelle Gründe, sagt Wieduwilt.

Es könnte daran liegen, dass Werte wie Zurückhaltung oder Sachlichkeit in der deutschen Kultur wichtig sind. Auch die Struktur der Medienlandschaft hat möglicherweise eine Bedeutung. In Deutschland sind öffentlich-rechtliche Sender sehr stark, in den USA dominieren kommerzielle Medien, die auf Unterhaltung und Sensationalismus ausgerichtet sind.

Das könnte erklären, warum die politische Berichterstattung sich in der Tendenz der amerikanischen im Zeitverlauf angenähert hat, warum es mittlerweile auch hier Wahlkampfduelle gibt, warum eher Personen im Mittelpunkt stehen als Sachthemen und warum Medien in einer schweren Krise die Schuhe des Bundeskanzlers überhaupt für erwähnenswert halten.

Kommunizieren gehört dazu

Für Olaf Scholz, der als nüchtern, sachlich und nicht unbedingt als Freund effektvoller Showelemente gilt, ergibt sich so ein Dilemma. Ihm wäre es mutmaßlich am liebsten, wenn sich seine Politik einfach von selbst verkaufen würde, wenn er also nur in seinem Büro sitzen und vor sich hin verwalten könnte. Hendrik Wieduwilt sagt allerdings:

"(…) gute Politik alleine verkauft sich nicht. Und wenn ich jetzt also nur in meinem Büro sitze und vor mich hin verwalte, dann wird dieses Verwalten, vielleicht so sinnvoll das auch sein mag, überhaupt nicht erzählt. Das heißt, das gehört einfach dazu, dass man kommuniziert."

Das Ergebnis war beim nächsten Besuch des Bundeskanzlers in Sachsen-Anhalt zu sehen. Jetzt trug nicht nur Scholz Gummistiefel, auch alle anderen um ihn herum schienen gelernt zu haben. So könnte man das sehen. Die "Bild"-Zeitung schrieb: "Scholz macht die Gummistiefel-Wende". An der Situation in den Hochwasser-Gebieten ändert das alles erst mal nichts. Ob es sich für Scholz gelohnt hat, wird man in den nächsten Tagen sehen. Heute Morgen meldete das Nachrichtenportal "T-Online" noch: "Bewertung von Scholz fällt auf Rekordtief."


Altpapierkorb (Darts-WM, Medienpolitik 2024, X-Exodus)

+++ Auf der SZ-Medienseite erklärt Cornelius Pollmer, warum die Darts-WM "ein spektakuläres Medienprodukt" ist. Ein entscheidender Faktor dabei war diesmal wohl die Geschichte des außergwöhnlich talentierten und gerade 16-jährigen Luke Littler, der es gegen alle Wahrscheinlichkeit bis ins Finale schaffte, und über den der Weltranglistenerste Luke Humphries, der am Ende gewann, laut Pollmer sagte, er habe sich beeilen wollen, den Titel zu holen, bevor Littler den Sport sicher auf Jahre dominieren werde. "Es hat (…) das Potenzial, in England etwas auszulösen, was in Deutschland unter der Chiffre 'Der 17-jährige Leimener' bis heute in Erinnerung geblieben ist", schreibt Pollmer.

+++ Dass die Darts-Weltmeisterschaft eine gute Geschichte hatte, belegen auch die Quoten: Der Sender "Sport1", der das Finale am Mittwoch übertrug, war mit einem Marktanteil von 20 Prozent in der Gruppe der 14- bis 49-Jährigen an diesem Abend die Nummer eins, berichtet Alexander Krei für DWDL.

+++ Helmut Hartung hat mit dem bayerischen Medienstaatsminister Florian Herrmann (CSU) für seinen Blog Medienpolitik.net darüber gesprochen, worum es in der Medienpolitik in diesem Jahr gehen wird. Laut Herrmann unter anderem um die Stärkung privater Medien, die Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die Reform des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags, die Zukunft des Lokalfernsehens und die Entwicklung des Filmstandorts Deutschland.

+++ In einem Kommentar auf der FAZ-Medienseite beschäftigt sich Axel Weidemann mit der Entscheidung des Deutschlandfunks sich von der Plattform X oder "TwiX", wie Weidemann schreibt, zurückzuziehen und generell mit dem Exodus dort. Weidemann: "War die Teilnahme an einer bestimmten Social-Media-Plattform immer auch eine Art Bekenntnis, ein Credo, grünt das Gras mittlerweile zumindest in der Medienbranche stets grüner auf der Plattform, auf der man gerade nicht (mehr) vertreten ist."

Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!

Das Altpapier am Montag schreibt Christian Bartels.

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