Kolumne: Das Altpapier am 23. Mai 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann. 3 min
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Oliver Pocher hat beim SWR-Sommerfestival das gemacht, was er immer macht. Damit hatte der Sender nicht gerechnet. Wie konnte das passieren?

MDR FERNSEHEN Do 23.05.2024 12:48Uhr 03:19 min

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Kolumne: Das Altpapier am 23. Mai 2024 Super Auftritt in Stuttgart

23. Mai 2024, 12:02 Uhr

Oliver Pocher hat beim SWR-Sommerfestival das gemacht, was er immer macht. Damit hatte der Sender nicht gerechnet. Wie konnte das passieren? Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier Autoren Ralf Heimann
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

"Der Versuch ist völlig misslungen"

Der SWR hat für sein Sommerfestival in Stuttgart Oliver Pocher engagiert, der dafür bekannt ist, dass er sein Publikum gerne vorführt, oder wie Bernhard Heckler in der "Süddeutschen Zeitung" schreibt,

"dessen Kunst darin besteht, auf seinem persönlichen Schulhof in den Mehrzweckhallen der Bundesrepublik jeweils einige Hundert Menschen zu versammeln, die ihn gut finden und von denen er sich dann die eine oder den anderen vornimmt, um diese Besucher fertig zu machen".

Zur großen Überraschung des Senders machte Pocher in Stuttgart genau das, wie die Stuttgarter Zeitung berichtete.

Die Kurzfassung des Abends: Auf der Bühne sprach Pocher über seine Trennung. Er fragte, ob noch wer im Publikum wie er Single sei. Als eine junge Frau sich meldete, stellte er ihr intime Fragen wie: "Aber gebumst hast du schon?", was sie mit einem Kopfschütteln beantwortete. Später in der Show kam er immer wieder auf sie zurück, nannte sie "Zuckerschnecke". Am Ende blieb die Frau weinend sitzen, als alle anderen gingen. Ein SWR-Mitarbeiter versicherte ihr – sie hatte Angst, ihr Arbeitgeber könnte von der Sache erfahren – dass die Show nicht ausgestrahlt werde. Pocher veröffentlichte den Ausschnitt schließlich auf seinem Instagram-Account mit 1,7 Millionen Followern und lobte sich selbst: "Super Auftritt in Stuttgart."

Der Sender druckste danach drei Tage lang herum. Die SWR-Kommunikationschefin sagte zunächst, wie unter anderem Anja Rützel im "Spiegel" zitiert:

"Wir als öffentlich-rechtlicher Sender bewerten künstlerische Programme nicht."

Schließlich veröffentlichte der SWR ein Statement, das als kleine Ergänzung ("In eigener Sache") unter einer Pressemitteilung mit dem Titel "Großer Erfolg für SWR Sommerfestival in Stuttgart mit ARD-Familientag" steht.

Es besteht aus drei Sätzen und lautet vollständig:

"Wir versuchen, durch bestimmte Protagonisten Milieus zu erreichen, die wir sonst nur unzureichend versorgen. Dieser Versuch ist in diesem Falle völlig misslungen, was wir sehr bedauern. Bloßstellungen wie am vergangenen Sonntag haben in einem öffentlich-rechtlichen Angebot nichts verloren."

Man hat nun Fragen. Eine ist: Wusste man beim SWR, als man Oliver Pocher engagierte, denn gar nicht, wer das ist? Oder wie Anja Rützel bei X schreibt:

"Komplett lächerlich, dass sich der SWR jetzt von Pocher distanziert, nachdem eine Zuschauerin wegen seiner so genannten Comedy weinen musste. Ihr habt ihn GEBUCHT, ihr Witzbolde! Wer nur eine Show von ihm gesehen hat, weiß exakt, was man von ihm bekommt."

Für ihren "Spiegel"-Kommentar hat Rützel ein paar Beispiele zusammengetragen. Sie schreibt:

"Schon eine Minutenrecherche ergibt, dass Publikumsschmähungen dieser Art fester Bestandteil von Pochers aktueller Tournee sind. Vor zwei Wochen hatte er etwa bei seinem Auftritt in Ludwigshafen zwei Teeniemädchen im Publikum gefragt, ob sie schon mal bei einem Rammstein-Konzert gewesen seien: 'Ich lad’ euch ein!'. Als eine andere Zuschauerin erklärte, sie arbeite bei einer Justizbehörde, legte er ihr Kichersätze über einen kriminellen Mann ohne deutschen Pass in den Mund, den man ja 'nicht ausweisen' könne. Und am Dienstag verkündete er in Graz auf der Bühne: 'Wer mich verfolgt, weiß, dass ich Zuschauer so lange mobbe, bis sie heulend aus dem Studio laufen. Heute knallt’s richtig, heute mach’ ich zwei richtig fertig. In Stuttgart eine, heute will ich zwei oder drei sehen.'"

Also wusste der Sender das? Oder hatte man einfach schnell was gebucht, was ein bisschen nach Jugend klingt? Relativ sicher ist, dass der SWR wohl nicht damit rechnete, sich später rechtfertigen zu müssen. Die meisten Auftritte von Pocher verlaufen geräuschlos. Über die Szenen, die Anja Rützel beschreibt, hatte sich in der Öffentlichkeit ja auch niemand aufgeregt. Man ging also wohl davon aus, dass diese Art von Mobbing auf der Bühne okay ist.

Die junge Zielgruppe – Außerirdische?

Ein immer wiederkehrendes Phänomen ist: Oft braucht es einen Eklat, bis Menschen Schuppen von den Augen rieseln – bis also Dinge in Frage gestellt werden, von denen man vorher nicht gedacht hätte, dass sie sich als Auslöser für einen Eklat eignen.

Ältere erinneren sich vielleicht an die WDR-Satire zur Melodie von "Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad" (Altpapier). Völlig anderer Fall, aber da war die erste Ausstrahlung auch vollkommen untergegangen. Und so war es wahrscheinlich auch mit den Pocher-Shows. Die miesen Gags führten nicht zu der allgemeinen Übereinkunft, dass so etwas vielleicht im Privatfernsehen gut aufgehoben sein mag, aber nicht im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Beim SWR führten sie zu offenbar sogar zu der Vermutung: Das ist so schlecht, das könnte doch was für die junge Zielgruppe sein.

Und hier ist die Frage, warum man, wenn in so einem Zusammenhang von der "jungen Zielgruppe" die Rede ist, unweigerlich an Außerirdische denken muss.

Bernhard Heckler schreibt in seinem SZ-Kommentar:

"Von welcher dunklen Masse an erstwählenden, humor- und anspruchslosen, menschenverachtenden Nachwuchsarschlöchern geht man beim Sender denn aus?"

Die Geschichte klingt wieder mal, als hätte Tante Ingrid aus Bad Dürkheim ihrer Großnichte Lina-Sophie zum 16. Geburtstag ein Tamagotchi in die Post gelegt, weil irgendwer aus der Nachbarschaft mal gesagt hatte, mit den Dingern spielen die jungen Leute.

Anderswo gelten Menschen, die auf die Fünfzig zugehen, längst als die Gruppe der Älteren. Hier läuft Pocher noch unter dem Label "junge Zielgruppe",  die "wir sonst nur unzureichend versorgen", wie der Sender in seinem Statement ganz freimütig zugibt. Und wenn man sich die Mittvierziger, die Pocher mit seinen Mobbing-Gags bedient, schon als junge Menschen vorstellt, dann fragt man sich nicht nur, welche Vorstellung man im Sender von wirklich jungen Menschen hat (Einblendung: Bild von Außerirdischen), es zeigt zuallererst, wie groß schon der Abstand zu den Menschen ist, die man im Publikum von Pocher vermutet.

Der SWR lag bei seiner Auswahl dann auch nicht nur geschmacklich daneben, wie Kira Kramer für die "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" schreibt. Auch das Interesse an Pocher war eher mau. 1.600 Tickets seien verkauft worden. Am Abend davor, bei der Verabschiedung des mit 73 Jahren mutmaßlich zur mittleren SWR-Altersgruppe gehörenden Senderstimme Matthias Holtmann, seien es 4.000 gewesen, und das trotz Regen, wie Bernhard Heckler bemerkt.

Holtmann sagte laut Kramer über den Pocher-Auftritt:

"Das war nicht auszuhalten, so herablassend geht man nicht mit seinem Publikum um."

Insofern spielt das Alter von Künstler und Publikum natürlich gar keine Rolle. Es wäre nicht besser, wenn noch ältere Menschen so etwas machen. Die Frage ist einfach: Ist das ein Programm, das der Rundfunkstaatsvertrag für einen öffentlich-rechtlichen Sender vorsieht? Und hier kann man sagen: Der Fehlgriff hat möglicherweise damit zu tun, dass ein Gefühl für das, was man sich als "junge Zielgruppe" vorstellt, fehlt.

War’s wirklich so schlimm?

Noch schlimmer als die Auswahl von Pocher als Stargast ist allerdings die Tatsache, dass es drei Tage dauerte, bis der Sender den Fehler einräumte. In der Zwischenzeit müssen ja Gespräche stattgefunden haben, in denen man vielleicht zu dem Schluss kam: Das wird sich schon legen. Oder in denen man befand: So schlimm war’s jetzt auch nicht.

Und das stimmt ja einerseits: So schlimm war’s nicht. Pocher hat nichts strafrechtlich Relevantes getan. Man kann ihm einen schlechten Charakter vorwerfen, auch einen schlechten Humor, der in Deutschland ja Tradition hat. Vor 20 Jahren zahlte Stefan Raab 70.000 Euro an die damals 19-jährige Lisa Loch, weil er sich über ihren Namen lustig gemacht und sie damit öffentlich verunglimpft hatte.

Altpapierkorb (Wirtschaftsberichterstattung, BR-Bauprojekte, Nachrichtenüberforderung, Schertz, Namibia-Doku, Buhrow-Nachfolge, trauriges Internet)

+++ Die am Dienstag hier schon erwähnte Studie des Dortmunder Journalistik-Professors Henrik Müller und des "Spiegel"-Dokumentar Gerret von Nordheim zur Wirtschaftsberichterstattung von ARD und ZDF ist erschienen und steht in einer Kurz- und einer Langform auf der Website der Stiftung

+++ BR-Intendantin Katja Wildermuth verteidigt die millionenschweren Bauprojekte des Bayerischen Rundfunks (BR) im Interview mit Claudia Tieschky auf der SZ-Medienseite gegen Kritik – vor allem den Neubau im Stadtteil Freimann und den Plan, Teile des Innenstadtareals weiter zu nutzen (Altpapier). Die Kommission, die den Finanzbedarf der Rundfunkanstalten ermittelt, kurz KEF, bezweifelt, dass das wirtschaftlich ist. Dazu sagt Wildermuth: "Die KEF schaut alle zwei Jahre auf unseren Finanzbedarf, der Bayerische Oberste Rechnungshof und externe Wirtschaftsprüfer prüfen den BR regelmäßig. Was die KEF erbeten hat und was wir für den nächsten Bericht auch liefern werden, ist eine gesamtstrategische Darstellung für alle drei Standorte: Freimann, Innenstadt und Unterföhring. So eine Gesamtbetrachtung können wir erst jetzt vorlegen, nachdem wir unsere Planungen an sich gewandelte Rahmenbedingungen wirtschaftlich angepasst haben."

+++ Eine Umfrage des Branchenverbands Bitkom kommt zu dem Ergebnis, dass 90 Prozent der Menschen, die das Internet nutzen, Nachrichten online konsumieren, aber 50 Prozent sich überfordert fühlen, berichtet "Medienpolitik.net".

+++ Christian Bartels schreibt über die hier schon erwähnte Doku über den Medienanwalt Christian Schertz bei "epd Medien" (nicht online): "Dieser durchgehende Hauch von Ambiguität sorgt für eine gewisse Grundspannung. Das muss man dem Film lassen. Die Schwächen wett macht er nicht. Wenn etwa Stuckrad-Barre, kaum dass er seinen Anwalt umarmt hat, performativ zu schwärmen beginnt, wird es geradezu langweilig. Weniger prominenzfixierte Filme hätten so etwas gekürzt, um Raum für Interessanteres zu gewinnen."

+++ Die Dokumentation "Deutsche Schuld – ausgewogen" über den Völkermord an den Herero und Nama in der ehemaligen deutschen Kolonie Namibia verstößt nach Ansicht des NDR-Rundfunkrats gegen den Rundfunkstaatsvertrag (Altpapier). Sebastian Wellendorf hat für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" mit Dietmar Knecht, dem Vorsitzenden des Rats, über die Frage gesprochen, was genau gegen den Vertrag verstößt. Kurzfassung: fehlende Recherche, fehlende Information, falsche Darstellungen, ungünstiges Format. Der NDR hatte die Doku Anfang Dezember nach wochenlanger Kritik aus der Mediathek gelöscht. Lesetipp: Die Medienwissenschaftlerin Kaya de Wolff hat den Film und die Debatte Anfang des Jahres für "Übermedien" seziert.

+++ Für die Nachfolge von WDR-Intendant Tom Buhrow haben sich mehreren Berichten zufolge, Programmdirektor Jörg Schönenborn, Verwaltungsdirektorin Katrin Vernau und, wie der "Kölner Stadtanzeiger" zuerst meldete, "Monitor"-Chef Georg Restle beworben. Daneben gibt es externe Kandidaten wie Helge Fuhst von der ARD, Elmar Theveßen vom ZDF und Christian Vogg von der Schweizer SRG SSR, berichtet unter anderem "epd Medien".

+++ Das Internet ist in einem traurigen Zustand, stellt Konrad Lischka in seinem Newsletter fest. Die großen Plattformen bevorzugten Inhalte, die Affekte provozieren. Das gehe auf Kosten der tiefgründigen, abwägenden Inhalte, schreibt Lischka. Das Status quo, in dem der Staat sich raushält, habe sich als ineffektiv erwiesen. Man müsse also umdenken. Lischka: "Unterm Strich mein Zwischenfazit aus fast 30 Jahren digitaler Gesellschaft, in denen das Netz zum Massenmedium geworden ist: zu viel Energie in zu vielen Abwehrkämpfen, zu wenig Förderung und kluge Regulierung, zu wenig positive Praxis in den Mainstream gebracht. Das kann alles noch werden! Aber dafür muss man vielleicht erst einmal Bilanz ziehen und sich eingestehen, was gescheitert ist und positiv definieren, was der eigene Anspruch an ein nachhaltiges Netz ist."

Das Altpapier am Freitag schreibt René Martens.

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