Kolumne: Das Altpapier am 24. Mai 2024: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 5 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 24. Mai 2024 Die Umkehrung der Realität

24. Mai 2024, 12:42 Uhr

Die Hälfte der US-Amerikaner glaubt, dass die Arbeitslosigkeit in ihrem Land ein 50-Jahres-Hoch erreicht hat, obwohl sie so niedrig ist wie seit 50 Jahren nicht mehr. Was sagt das über die Qualität des Journalismus aus? Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
Bildrechte: MDR MEDIEN360G

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

The next Harald Ewert?

Kann jemand noch, ohne zu googeln, den Namen Harald Ewert einordnen? So hieß der Mann, der 1992 zu einer ikonischen Negativ-Berühmtheit wurde, nachdem zunächst im "Spiegel" und danach ungefähr überall ein Foto zu sehen war, das ihn zeigt, wie er mit eingenässter Jogginghose den Hitlergruß zeigt. Das Bild entstand am Rande des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen.

Eine Art Nachfolger des 2006 verstorbenen Ewert könnte nun ein vergleichsweise makellos gekleideter jüngerer Herr werden, der am Pfingstwochenende auf Sylt im Außenbereich "eines der ältesten Nachtclubs Deutschlands" den Hitlergruß zeigte. Er ist, wie ein Donnerstagabend viral gegangenes Video dokumentiert, inmitten einer Menge zu sehen, die zu Gigi D’Agostinos Song "L'amour toujours" "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" singt.

Zur Erläuterung heißt es bei t-online.de:

"Der Song (…) erreichte kürzlich unrühmliche Bekanntheit, weil Besucher eines Dorffests in der Gemeinde Bergholz in Mecklenburg-Vorpommern die rechtsextreme Parole 'Deutschland den Deutschen, Ausländer raus' auf die eingängige Techno-Hymne aus den 90ern sangen. In der rechten Szene erlangte der Song daraufhin Kultstatus."

Ausführlicheres zum Status des Songs in der Szene findet sich bei hessenschau.de und stern.de.

Ich habe nun das Gefühl, dass ich den Hitlergrüßer von Kampen seit Donnerstagabend schon so oft gesehen habe wie seinen verstobenen Geistesbruder Ewert seit 1992.

Eine Besonderheit des Kampen-Videos besteht darin, dass eines der Partybiester es selbst verbreitet hat, wie n-tv.de berichtet:

"Eine der an dem Gegröle beteiligten jungen Frauen mit Sonnenbrille im Haar und weißer Bluse hatte die Szene gefilmt."

Aus der Berichterstattung über das Video sticht die von tagesschau.de etwas heraus. Zumindest insofern, als sie nur beschreibend berichtet - ohne das Video (oder Ausschnitte daraus) oder auch nur einen Screenshot zu zeigen.

Wer wissen will, wie das betroffene Etablissement bei Instagram reagiert ("Vielen Dank an euch! Uns wurden nun die Namen von diesen Nazis zugespielt. Wir werden dieses widerliche Verhalten anzeigen und alle strafrechtlichen Möglichkeiten nutzen!!!"): U.v.a. "Die Welt" geht darauf ein.

2002 hat der "Tagesspiegel" übrigens Harald Ewert besucht. Ein Wortwechsel aus dem Text:

"Warum hat er eigentlich den Arm gehoben? 'Das ging ganz automatisch', sagt er, 'ich war blau.'"

Ähnliches werden wir demnächst vielleicht vom Hitlergrüßer aus Kampen hören. Angesichts dessen, dass wir wissen, dass der "harmlose Partyhit von Gigi D'Agostino eine rechtsextreme Chiffre geworden" ist (siehe dazu den bereits verlinkten "Hessenschau"-Beitrag), wäre das allerdings nicht die allerklügste Argumentation.

Keine Debatte über Wohlstandssicherung

Von Kampen zu anderen Schauplätzen der Gegenwartspolitik überzuleiten, ist extrem schwierig. Versuchen wir es mit Saarlouis.

"Mit Friedrich Merz spricht sich der nächste Spitzenpolitiker dafür aus, das Verbrennerverbot zu kippen. Daraus kann man nur schließen: Klimaschutz ist ihnen egal",

kritisiert Zeit Online. Dass Merz dies nur wenige Tage nach dem Hochwasser im Saarland (Altpapier von Dienstag) in genau jenem Bundesland fordert, spricht im Übrigen dafür, dass ihm auch die von der Katastrophe betroffenen Menschen egal sind.

Worüber statt zum Beispiel einer Verbrennerverbotsaufhebung geredet werden müsste, schreibt Deutschlandfunk-Redakteurin Ann-Kathrin Büüsker in ihrem Newsletter:

"Während in Brandenburg die ersten Waldbrände gelöscht werden, wurde in Saarbrücken die Stadtautobahn zur Flutrinne umfunktioniert, unfreiwillig, wegen Starkregen. Bundeskanzler Olaf Scholz mal wieder unterwegs im Hochwassergebiet - dieses Mal mit Gummistiefeln (…) Ideen zur Prävention? Öffentliche Debatte darüber? Fehlanzeige. Is halt Regen, wat willste machen."

Um hier mal kurz das klassisch medienkritische Terrain zu verlassen: Büüsker sagt, dass wir über Renaturierung reden müssen. Denn:

"Die Wassermassen, mit denen wir es schon jetzt und auch künftig zu tun haben werden, müssen irgendwo hin. Und wenn es nicht unsere Keller und Erdgeschosse sein sollen, müssen wir andernorts entsprechenden Platz schaffen. Wir (haben) Naturräume seit jeher unseren Bedürfnissen angepasst (…) Sie zu renaturieren könnte gleich mehrere gegenwärtige Bedürfnisse erfüllen (…) Bisher fehlt darüber eine öffentliche Debatte. Und nach Hochwasserereignissen wie dem diesjährigen Winterhochwasser oder der jetzigen Saarlandflut – hoppla, schon zwei große Hochwasserereignisse kurz nacheinander - wird lieber über eine Pflicht zur Elementarschadenversicherung diskutiert, also darüber, wie wir die Kosten auf die Allgemeinheit umlegen, als darüber, wie wir solche Ereignisse in ihrer Wucht abschwächen, die Kosten also mindern (…) Dauert vielleicht noch ein bis drölf Hochwasser, bis in die Köpfe einsickert, dass das kein Ökokram ist, sondern Wohlstandssicherung."

"Wir sehen keine hungernden Kinder in Gaza"

Die "Veröffentlichung eines verstörenden Videos", mit der "Geiselangehörige versuchen, den Druck auf die israelische Regierung zu erhöhen", wie zum Beispiel die FAZ schreibt, ist Anlass eines Textes, den die 2019 nach Tel Aviv ausgewanderte deutsche Jüdin Sarah Levy, Koordinatorin des Projekts stopantisemitismus.de, für Zeit Online geschrieben hat. Sie beschreibt, wie unterschiedlich ihre in Deutschland lebende Schwester und sie das Video wahrgenommen haben. Levy:

"Den ganzen Abend sehen wir das Video, wieder und wieder. Auf allen Fernsehkanälen sitzen Eltern der verschleppten Soldatinnen im Studio. Auf Kanal 11 sagt Liri Albags Vater: 'Sie saßen da drei Stunden lang und sahen zu, wie ihre Freunde ermordet wurden.' 'Wie geht es dir heute?', fragt meine Schwester (…) am Donnerstag (…) am Telefon (…) 'Ich meine wegen des Videos. Ich bin immer noch so geschockt. Und hier zeigen sie es nicht mal.’ Ich schäme mich, als ich sage: 'Ich habe das Gefühl, wir sind schon abgestumpft hier.'"

Denn:

"Wir sehen seit acht Monaten nichts anderes. Nur Berichte von Überlebenden der Massaker des 7. Oktobers, von Getöteten, von Ermordeten. Berichte von ihren Familien. Berichte über getötete Soldatinnen und Soldaten. Berichte von Geiseln, über sie, und von bereits befreiten. Berichte von Kindern, die aus der Geiselhaft freigelassen wurden, vier Jahre alt, fünf Jahre alt, die jeden Tag nach ihren noch verschleppten Vätern fragen. Andere, die noch immer Worte wie "Gaza", "Terroristen", nicht wagen auszusprechen und stattdessen Fantasieworte benutzen. Berichte über Beerdigungen, Berichte über Traumata, Verlust, Verstümmelungen, Folter in der Geiselhaft, sexuelle Gewalt."

Levy analysiert:

"Wir israelischen Fernsehzuschauer sehen, was wir sehen sollen. Weil irgendjemand glaubt, dass es etwas bringen würde, Druck aufbauen könnte. Druck für ein Geiselabkommen. Einen Waffenstillstand. Eine bestimmte Position der öffentlichen Meinung in Israel. Aus denselben Gründen sehen wir auch ganz viel im Fernsehen nicht. Wir sehen keine hungernden Kinder in Gaza. Wir sehen keine aus Trümmern herausragenden Hände, keine leblosen Körper, die aus bombardierten und zusammengestürzten Häusern gezogen werden. Wir sehen keine weinenden Palästinenserinnen, die ihre Kinder im Leichensack umklammern. Wir sehen keine verletzten Palästinenser, keinen klagenden Palästinenser, keine toten Palästinenser. Wir sehen nur Terroristen."

Die Autorin schlägt dann noch einen größeren Bogen:

"Die Bilder, die wir sehen, bauen unsere Welt und unsere Gefühlswelt. Das ist nicht nur hier in Israel so: von Gaza bis Tel Aviv, von der Columbia University in New York bis an die Humboldt-Universität in Berlin – wir umgeben uns mit den Bildern der Seite, der wir Glauben schenken wollen. Und die wenigsten werfen einen Blick auf die andere Seite, die sie so in den israelischen Medien nicht zu sehen bekommen."

"Wenn die Realität die Überzeugungen eines Menschen widerlegt, ändert er seine Überzeugungen nicht"

Einen noch größeren Bogen in Richtung Verallgemeinerung lässt sich mit einer Passage aus einem Essay der US-amerikanischen Autorin Jessica Wildtier schlagen, den sie in ihrem genial betitelten Newsletter "OK Doomer" veröffentlicht hat:

"Die Menschen suchen nach Informationen, die ihre Überzeugungen bestätigen. Sie ignorieren alles, was diese Überzeugungen in Frage stellt (…) Es ist einfacher, sie einfach zu ignorieren. Und wenn man sie nicht ignorieren kann, dann kann man sie in Frage stellen und anzweifeln, bis sie keine Rolle mehr spielen. Dann gibt es noch die Glaubensentkräftung. Wenn die Realität die Überzeugungen eines Menschen widerlegt, ändert er seine Überzeugungen nicht. Sie klammern sich an sie. Sie tauchen tiefer. Sie suchen noch intensiver nach Gründen für ihren Glauben (…) Es geht nicht mehr um Logik. Es geht darum, Überzeugungen zu bewahren."

Über einen konkreten Fall von irritierender Realitätswahrnehmung setzt uns aktuell der "Guardian" in Kenntnis, der über eine von ihm in Auftrag gegebene Umfrage unter US-Bürgern schreibt:

"49 % glauben, dass der US-Aktienmarktindex S&P 500 in diesem Jahr im Minus liegt, obwohl der Index 2023 um 24% gestiegen ist und in diesem Jahr um mehr als 12% zugelegt hat. (Und ) 49 % glauben, dass die Arbeitslosigkeit ein 50-Jahres-Hoch erreicht hat, obwohl die Arbeitslosenquote unter 4 % liegt, was einem 50-Jahres-Tief entspricht."

Des Weiteren sind 58 Prozent der Befragten der Meinung, dass sich die wirtschaftliche Lage aufgrund des "Missmanagements" der aktuellen Administration in Washington verschlechtert habe - obwohl sie sich, wie gesagt, ganz und gar nicht verschlechtert hat.

Brian Klaas, Professor für Global Politics am University College London, schreibt dazu im Newsletter "The Garden of Forking Paths":

"Half the country thinks that unemployment is soaring out of control when it’s actually around the lowest it has been since The Jackson Five and Grand Funk Railroad were topping the music charts (…) These aren’t just slight misperceptions. This isn’t a few people in the population being sort of wrong about objective reality. No, this is something much worse.

Nämlich:

"Das ist die Umkehrung der Realität (…) Oben ist unten, schwarz ist weiß, der Aktienmarkt stürzt ab, außer - nein, warten Sie - er hat tatsächlich den höchsten Stand aller Zeiten erreicht ... schon wieder!"

Welchen Anteil haben die Medien an dieser Fehlwahrnehmung? Klaas kritisiert in dem Kontext unzählige Artikel zu vergleichbaren Umfrageergebnissen:

"Das Problem, das die Presse in diesen Artikeln erklären muss, ist (…) folgendes: Warum glauben die meisten Wähler fälschlicherweise, dass die Wirtschaft in einer schrecklichen Verfassung ist, selbst wenn ihre Erfahrungen damit im Allgemeinen positiv sind? Selten wird in diesen Artikeln (…) die naheliegendste Antwort gegeben: Die Presse trägt einen Teil der Schuld."

Beziehungsweise:

"America’s information pipelines are broken, giving millions of voters a dangerously inverted sense of reality."

Ein anderer Aspekt:

"Als der Aktienmarkt unter Trump ein Rekordhoch erreichte, dominierte dies die Berichterstattung - und wurde oft als eine Geschichte über Trumps wirtschaftliche Erfolge dargestellt. Wenn der Aktienmarkt unter Biden Rekordhöhen erreicht, wird darüber oft in gedämpfterer Form berichtet, und die Verbindung zu Biden ist viel impliziter. Es gibt sicherlich berechtigte Kritik an Biden, aber es ist eindeutig wahr, dass Biden so gut wie keine politischen Lorbeeren erntet, obwohl seine Präsidentschaft eine der folgenreichsten Perioden der Innenpolitik in der modernen Geschichte war."


Altpapierkorb (strange bedfellow Open AI, Entwicklung der US-Late-Night-Shows, bizarre Entwicklungen im Verfahren gegen Radio-Dreyeckland-Mitarbeiter, die längste Winterpause der Welt)

+++ Dass es "clever" ist, wenn sich "Pressehäuser" mit Open AI ins Bett legen, bezweifelt Michael Hanfeld stark. Anlass für seinen Text im FAZ-Feuilleton: Dass "ChatGPT von der Firma Open AI nun auch auf die Inhalte der News Corporation von Rupert Murdoch zurückgreifen" kann.

+++ Unzufrieden mit der journalistischen Entwicklung der US-Late-Night-Shows zeigt sich Susan Vahabzadeh in der SZ.

+++ Über bizarre bis Besorgnis erregende Entwicklungen im Prozess gegen den Radio-Dreyeckland-Mitarbeiter Fabian Kienert (Altpapier) berichtet Minh Schredle für die Wochenzeitung "Kontext". Es geht um den siebten Verhandlungstag und das Agieren des Staatsanwalts Manuel Graulich. Schredle: "Die zwei Zeugen, die angehört werden, wurden beide schon einmal angehört. Die erneute Befragung ist nötig geworden, weil Graulich ihre Aussagen in einem Beweisantrag so eigenwillig ausgelegt hatte, dass sich sogar der Vorsitzende Richter Axel Heim wundert, ob alle Verfahrensbeteiligten wirklich dem gleichen Prozess beigewohnt haben." Was der Autor unter anderem kritisiert: Graulichs "von jeglichen Fakten befreite Unterstellung, dass ein womöglich krimineller Verein sympathisierende Berichterstattung 'bestellt' und sich ein Redakteur bereitwillig als Sprachrohr einspannen lässt". Das sei "bereits ein Frontalangriff auf journalistische Integrität – erst recht, wenn nicht ein einziges ernstzunehmendes Indiz vorliegt, dass es überhaupt eine Kommunikation gegeben hat. Es ist aber noch lange nicht das Dreisteste, was sich Graulich hat einfallen lassen".

+++ Ist immer noch Winter in Hamburg-Lokstedt? Marvin Schade ("Medieninsider") wundert sich jedenfalls darüber, dass das vom NDR produzierte funk-Format "Strg_F" sich weiterhin in der "Winterpause" befindet, die sich die Macherinnen und Macher selbst verordneten, nachdem sie sich fundamentaler Kritik an ihrer Arbeitsweise ausgesetzt gesehen hatten (Altpapier). Außerdem kritikwürdig, so Schade: Die Kommunikationsstrategie des NDR in dieser Sache.

Das Altpapier am Montag schreibt Klaus Raab. Schönes Wochenende!

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