Kolumne: Das Altpapier am 6. Juni 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann. 4 min
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Ist die Meinungsfreiheit bedroht? Wenn ja, von wo und von wem? Und was ganz anderes: Wer macht den öffentlich-rechtlichen Rundfunk denn jetzt schlanker?

Do 06.06.2024 11:08Uhr 04:16 min

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Kolumne: Das Altpapier am 6. Juni 2024 Das schlimme Leiden Wirklichkeit

06. Juni 2024, 10:47 Uhr

Ist die Meinungsfreiheit bedroht? Wenn ja, von wo und von wem? Und was ganz anderes: Wer macht den öffentlich-rechtlichen Rundfunk denn jetzt schlanker? Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier Autoren Ralf Heimann
Bildrechte: MDR MEDIEN360G

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Funktioniert die Meinungsfreiheit?

Auf der Titelseite der "Zeit" steht in dieser Woche der Satz: "Jeder hat das Recht, seine Meinung frei zu äußern" – das ist die etwas verkürzte Formulierung aus Artikel 5 des Grundgesetzes. Und wenn dieser Satz im Jahr 2024 auf der Titelseite einer Zeitung steht, dann steht irgendwo zwischen den Zeilen garantiert die Frage: "Stimmt das denn wirklich?" Die "Zeit" fragt in der Unterzeile: "(…) wo sind heute die Grenzen?"

Darüber haben Eva Ricarda Lautsch und Heinrich Wefing mit dem früheren Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio gesprochen. Und hier steht die Antwort gleich im Teaser:

"Nicht das Gesetz schränkt die Debatten ein – sondern die moralische Diskreditierung anderer."

Es geht also um Grenzen – rechtliche und solche, die von gesellschaftlichen Konventionen gezogen werden. Beide verlaufen nicht immer an der gleichen Stelle, wie zuletzt das Sylt-Video vorführte. Es vermittelte erst den Eindruck, junge Menschen mit mehr Geld als Verstand hätten sich selbst bei einer Straftat gefilmt; gleich danach vermittelte es das Gefühl, dann dürften diese Leute sich auch nicht beschweren, wenn andere ihre Namen ins Netz schreiben.

Später drehte sich das Bild – ein bisschen wie im Film "Das Lehrerzimmer", wo eine Person mit dem gleichen auffälligen Hemd wie die Schulsekretärin bei einem Diebstahl gefilmt wird, man den Fall im Kopf schon abgeschlossen hat, dann aber klar wird: Den Fehler hat die Lehrerin gemacht, die zu Ermittlungszwecken heimlich das Lehrerzimmer filmte. Beim Sylt-Video war es etwas anders. Die Namen im Netz zu veröffentlichen, war falsch. Und es kann sein, dass der erste Eindruck stimmte, dass im Video Straftaten zu sehen sind.

Ob es so ist, wissen wir noch nicht. Oder wie Udo Di Fabio sagt:

"Bei nahezu allen Äußerungen kommt es auf den Zusammenhang an. Auf welcher Veranstaltung ist ein Satz gefallen? Was wurde dort noch gesagt? Welches Grundverständnis herrschte vor?"

Und dann ist da eben noch die Frage: Warum überhaupt Meinungsfreiheit? Nach der Vorstellung des Grundgesetzes sei diese Freiheit so wichtig, weil sie einen Raum für den Austausch von Argumenten schaffe, so Lautsch und Wefing. Aber funktioniert dieser Austausch überhaupt noch? Udo Di Fabio sagt:

"Das ist die vielleicht wichtigste Frage in diesem Zusammenhang. Die klassische Vorstellung vom vernünftigen Diskurs leidet an der Wirklichkeit. In einer medialen Welt der 'TikTokisierung' kann von einem Informations- und Meinungsaustausch in vielen Fällen keine Rede mehr sein. Da geht es nur noch um eine sequenzielle Selbstbestätigung des Gefühlten oder um Stimmungsmache."

Hier kommen gleich mehrere unglückliche Dinge zusammen: vor allem die technische Möglichkeit, Gefühle und Emotionen transportieren zu können, und dazu die Absicht, das zur Diskurs-Sabotage zu nutzen. Und warum das Ganze? Di Fabio:

"Der italienische Marxist Antonio Gramsci hat in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die Vorstellung entwickelt, wer die Revolution wolle, müsse zuerst den öffentlichen Diskurs bestimmen, die öffentliche Meinung also gezielt in Richtung Revolution lenken."

Das lässt sich auf Tiktok live beobachten. Das Ganze sei "eine Reflexion darüber (…), wie öffentliche Meinungsbildung funktioniert und wie sie gelenkt werden kann", sagt Di Fabio. Und wenn es dann noch gelinge, bestimmte Positionen moralisch aufzuladen, dann verschaffe man sich einen großen Vorteil im Spiel um Macht – um Meinungsmacht.

Gefahr von beiden Seiten?

Tina Hildebrandt erklärt in einem "Zeit"-Essay, warum auch die Sorge, nicht mehr sagen zu können, was man denkt, ihrem Eindruck nach viel mit Macht zu tun hat.

"Wer klagt, man dürfe nicht mehr sagen, was man denke, stört sich oft vor allem daran, dass er oder sie nicht mehr derjenige ist, der festlegt, was gesagt werden kann",

schreibt sie. Vor allem die politische Rechte kultiviere daher das Motiv der "schweigenden Mehrheit", die von der "Meinungspolizei" unterdrückt werde. Auch Hildebrandt beschreibt den Eindruck, dass der Austausch von Meinungen in der gegenwärtigen Ordnung nicht so richtig gut funktioniert. Sie schreibt:

"(…) geführt wird die Debatte oft von den Lauten und denen an den Rändern. Da beklagt dann zum Beispiel eine Gruppe eine Cancel-Kultur, während das Gegenlager bestreitet, dass es so etwas überhaupt gebe. Wer sich keiner der Gruppen zurechnet, steht verunsichert in der Mitte und stellt vor allem eins fest: Man kann hier offenbar verdammt viel falsch machen."

Und ja, der letzte Satz stimmt, die davor allerdings nur so halb. Stichwort Hufeisen.

Man kann es sich in dieser Debatte einfach machen, indem man sich selbst außerhalb des Schlachtfelds sieht. Nicht bei den Verrückten, die laut schreien, sondern bei den Vernünftigen, die sich das alles kopfschüttelnd ansehen. Aber so entsteht der Eindruck von einem falschen Gleichgewicht. Dieses Zurücktreten und vermeintlich so nüchterne Betrachten mit dem Gestus von "eh alle gleich" unterschlägt, dass speziell auf der scharf rechten Seite die Absicht steht, den Staat zu kapern und die Demokratie auszuhöhlen.

Hildebrandt beschreibt auch die Gefahr, die sie linker Hand sieht:

"Im Meinungskampf wird auch deshalb oft aneinander vorbeigeredet, weil es um unterschiedliche Ebenen geht: Mal geht es um Alltagssprache und die Überstrafung vermeintlicher No-Gos, mal geht es um ein programmatisches Sprechen, das Grenzen politisch gezielt verschieben will. Die Debatte kann dabei kaum anders als persönlich sein, denn was ist persönlicher als das Sprechen? Man kann darauf verzichten, in eine Kneipe zu gehen, die man uncool oder zu cool findet, aber niemand kann aufs Sprechen verzichten."

Am Ende ist wahrscheinlich alles sogar noch schlimmer, denn auch um diese Probleme zu lösen, muss man wahrscheinlich auf irgendeine Weise miteinander sprechen.

Wer macht den Rundfunk schlanker?

Nachdem in dieser Woche über 30 Mitglieder von Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Sender die Ministerpräsidenten der Länder in einem Brief gebeten haben, sich doch bitte schnell darum zu kümmern, dass der Rundfunkbeitrag zum neuen Jahr um 58 Cent steigt (Altpapier), erklären die grüne Medienpolitikerin Tabea Rößner und der Kölner Medienrechts-Professor Karl-Eberhard Hain heute auf der FAZ-Medienseite, warum genau das geboten wäre ("Die Länder sind in der Pflicht").

Ihr Beitrag ist eine Replik auf einen Artikel von Sachsen-Anhalts Medienstaatsminister Rainer Robra (CDU), der Mitte Mai an gleicher Stelle geschrieben hatte, wenn man sage, die Länder kämen ihrer Pflicht nicht nach, weil sie der KEF-Empfehlung nicht umgehend folgten, dann sei das ein Irrtum.

Es sei nämlich so: Dass die Länderparlamente den KEF-Vorschlag am Ende einfach durchwinken müssten, wie es gegenwärtig der Fall ist, habe sich als "dysfunktional" erwiesen. Viele Abgeordnete ließen sich ungern auf die Rolle des "Notars der KEF" reduzieren. Daher schlägt Robra vor: Die ganze Sache muss zum Bundesverfassungsgericht, damit die Richter sich dort ein anderes Verfahren überlegen.

Das könnte nach Robras Vorstellungen so aussehen, dass die Parlamente die KEF-Empfehlung nicht mehr durchwinken, sondern dass man sie nur noch bekannt macht – und die Parlamente lediglich in Ausnahmefällen eingreifen, wenn sie die Möglichkeit sehen, von dem Beschluss abzuweichen.

Rößner und Hain nennen das einen "Offenbarungseid", denn das Verfahren liege laut Gesetz in den Händen der Länder, insbesondere bei den Parlamenten, und nicht beim Bundesverfassungsgericht. "Robras Hilferuf" deute auf ein tiefer liegendes Problem hin. Und das kennen wir schon. Claudia Tieschky hat es Ende April in der "Süddeutschen Zeitung" sehr eindrucksvoll erklärt (Altpapier).

Es lautet: Die ganze Zeit wird über Geld diskutiert, aber das ist schon der zweite Schritt. Davor käme der erste. Man müsste über den Auftrag reden. Und der liegt in den Händen der Länder.

Claudia Tieschky schrieb:

"Die Länder könnten (…) als Gesetzgeber jederzeit die Zahl der Sender in Deutschland halbieren – das würde den Beitrag senken. Das tun sie nicht. Medienpolitik braucht Einstimmigkeit, und irgendwer hat immer Standortinteressen."

In anderen Worten: Wenn die Länder weniger Geld ausgeben wollen, können sie sagen, wir bestellen einfach weniger. Aber dann müssten sie einstimmig beschließen, dass eines der Länder Arbeitsplätze verliert. Und da wäre mindestens ein Land dagegen.

Also sagt man den Sendern: Man hätte gern die gleiche Bestellung zu einem günstigeren Preis. Und das funktioniert in der Medienpolitik genauso gut wie im Restaurant. Den Preis bestimmt hier die KEF. Beim Schach würde man das ein Patt nennen.

Rößner und Hain schreiben, Robras Idee, den KEF-Vorschlag einfach zu veröffentlichen und nicht zu beschließen, entspreche nicht "dem notwendigen Niveau demokratischer Legitimation". Dass die Parlamente an den Vorschlag gebunden seien, sei eine Konsequenz der Rundfunkfreiheit. So ergibt sich die seltsame Ambivalenz: Es braucht die Legitimation des Parlaments, aber entscheiden soll es nicht.

Robras Vorschlag, den Rundfunk erst mal durch Eigenmittel über Wasser zu halten, während die Sache beim Bundesverfassungsgericht liegt und der Beitrag daher nicht zum Jahresbeginn steigt, berge langfristige Risiken und gefährde die Planungssicherheit. Aber was dann?

"Es ist zuvörderst die Aufgabe der Länder, über den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in digitalen Zeiten – am besten nach einer breit geführten gesellschaftlichen Debatte – zu entscheiden",

schreiben Rößner und Hain. Gelinge das, könnten die Länder "die Demokratie und den Föderalismus stärken – durch den Beweis ihrer Handlungsfähigkeit". Das klingt gut. Nur, als Anreiz, sich einstimmig auf etwas zu einigen, das für einzelne Länder mit großen Nachteilen verbunden ist, wird das vermutlich nicht ausreichen. Man wird den Ländern, die Sender, Anstalten oder einfach Arbeitsplätze abgeben sollen, etwas bieten müssen, um die Einstimmigkeit herzustellen. Vermutlich irgendwas mit Arbeitsplätzen oder mit Geld.


Altpapierkorb (Fabio De Masi, Radio Dreyeckland, WDR-Rassismus-Doku, Promis und Fake-Zitate)

+++ Der WDR muss Fabio De Masi, den Spitzenkandidaten des Bündnisses Sahra Wagenknecht, in seine Sendung "Wahlarena 2024 Europa" einladen, berichtet unter anderem Rainer Burger auf der FAZ-Medienseite (Altpapier). Das Oberverwaltungsgericht korrigiert damit einen Beschluss des Kölner Verwaltungsgerichts. Es argumentierte, bei der Bewertung der Relevanz einer Partei müsse nicht nur berücksichtigt werden, ob sie bereits in Parlamenten vertreten ist, auch ihre Umfragewerte und ihr Organisationsgrad spielten eine Rolle.

+++ Am Landgericht Karlsruhe fällt heute das Urteil im Fall des Journalisten Fabian Kienert, der angeklagt ist, weil er einen Link auf die verbotene Seite "Linksunten.indymedia.org" gesetzt hat (zuletzt hier im Altpapier). Martin Schwarzbeck schreibt bei "Netzpolitik.org": "Ob Kienert verurteilt wird oder freigesprochen, ist nicht nur für ihn wichtig. Es wird auch ein Indikator, wie es um die Pressefreiheit in Deutschland steht." Die Staatsanwaltschaft fordert eine Geldstrafe, die Verteidigung plädiert auf Freispruch. David Werdermann, Jurist bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte, die Kienert unterstützt, sagt: "Es deutet sich sehr stark an, dass es einen Freispruch geben wird. In der Verhandlung hat sich gezeigt, diese verbotene Vereinigung existiert eigentlich nicht mehr oder man kann zumindest nicht beweisen, dass sie noch existiert." Wird Kienert verurteilt, würde das bedeuten: Journalisten, die mithilfe von Links transparent machen, worüber sie kritisch berichten, müssen damit rechnen, dass das als Unterstützung des Gegenstands oder Gruppe interpretiert wird, über die sie berichten. Klingt komisch, ist aber so.

+++ Gestern Abend lief die Doku "Einigkeit und Recht und Vielfalt" im linearen Fernsehen, die wegen einer Umfrage zum Rassismus im Fußball in den vergangenen Tagen hier mehrfach Thema war (zuletzt gestern). Unter anderem ging es darum, dass ein Posting mit dem Ergebnis der Umfrage verbreitet und ohne Kontext nicht richtig verstanden worden war. Lisa Kräher schreibt für "Übermedien": "Der Fehler liegt aber auch nicht bei der empörten Instagram-Community, die nicht auf Anhieb verstanden hat, wie die Umfrage gemeint war und warum sie durchgeführt wurde. Diesen Kontext herzustellen – und damit diese aufgeheizte Debatte zu verhindern – wäre Aufgabe des WDR und der zuständigen Social-Media-Abteilung gewesen. Und wenn ein Post den nötigen Kontext nicht leisten kann, dann muss man ihn entweder von vornherein besser machen oder lieber lassen."

+++ Deutsche Prominente wie Til Schweiger, Jannis Niewöhner und Till Lindemann sind Falschzitate untergejubelt worden; die russische Desinformationskampagne "Doppelgänger" hat die Zitate verbreitet, berichtet Saladin Salem auf der SZ-Medienseite. Alle Aussagen sind kritische Äußerungen zum Ukraine-Krieg und zur Rolle der USA. Die Praktik ist nicht neu, sie wird verwendet, um Stimmung zu machen und gesellschaftliche Debatten zu manipulieren. Sehr schön ist das Ende: "'Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen', hat Goethe gesagt. Zumindest laut einem Zitat, das auf diversen Bildern von Sonnenuntergängen mit Meerblick in den sozialen Medien verbreitet wird. Die Goethe-Gesellschaft dementiert."

Das Altpapier am Freitag schreibt René Martens.

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