Kolumne: Das Altpapier am 12. Juni 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels 4 min
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Ausgerechnet nach der Europawahl wurde eine bekannte Grüne zur "Aufsteigerin des Jahres" gekürt. Zu eher den unscheinbaren Wahl-Verlierern gehört die Piratenpartei.

Mi 12.06.2024 11:32Uhr 04:12 min

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Kolumne: Das Altpapier am 12. Juni 2024 Eine Aufsteigerin, allerhand Absteiger

12. Juni 2024, 10:39 Uhr

Ausgerechnet nach der Europawahl wurde eine bekannte Grüne zur "Aufsteigerin des Jahres" gekürt. Zu eher den unscheinbaren Wahl-Verlierern gehört die Piratenpartei. Steil bergab geht's marktanteilsmäßig mit Europas Medienkonzernen. Und was ist bei Digitalcourage e.V. los? Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Die Hauptstadt feiert

Preisverleihungen sind was Schönes. Gute Stimmung, echter Austausch beim ausgelassenen Feiern, bevor alle wieder in die Hände spucken ... Glückwunsch allen, die vom "medium magazin" als deutsche "Journalisten des Jahres" ausgezeichnet wurden. Darüber berichten der "Kölner Stadtanzeiger" und der "Tagesspiegel", unter deren Leuten sich mehrere aktuelle Preisträger befinden.

Und wenn dann noch prominente Veteranen, die einst auf gegnerischen Seiten standen wie etwa Edmund Stoiber und Franz Müntefering, gemeinsam feiern, wem würde da nicht warm ums Herz? Das ereignete sich bei einer anderen Preisverleihung, die am selben Abend ebenfalls in Berlin stattfand, allerdings auffällig wenig Medienaufmerksamkeit bekam. Viele Medien hüllten es offenbar in den Mantel des Schweigens (oder in eine dpa-Meldung), bloß Springers "Welt" ließ sich nicht entgehen, dass beim "Politik Award" die nicht zuletzt dank hoher Talkshow-Präsenz bekannte Grünen-Co-Vorsitzende Ricarda Lang in der Kategorie "Aufsteigerin des Jahres" ausgezeichnet wurde.

Das mag etwas seltsam anmuten, nach der Europawahl, bei der die Grünen viertstärkste Partei wurden.

Andererseits, ihren Award überreichte Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt. Der gilt als wichtigster Ratgeber des amtierenden Bundeskanzlers Scholz und konnte sich am Montag vielleicht freuen, dass seine SPD die Grünen knapp, aber immerhin hinter sich ließ. Außerdem berichtet das Branchenmedium "politik&kommunikation", bei dem es sich um einen der Ausrichter handelt:

"Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) wurde als 'Politiker des Jahres' ausgezeichnet. Seine unprätentiöse und zupackende Art habe ihn, so die Jurybegründung, zu einem der beliebtesten Politiker Deutschlands gemacht. Für seinen authentischen Politikstil sowie seine Bemühungen um die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands wurde er geehrt. Die Laudatio hielt sein französischer Amtskollegen Sébastien Lecornu – per Videobotschaft. Seine persönliche Teilnahme musste der französische Verteidigungsminister wegen der angekündigten Neuwahlen in Frankreich absagen."

Womit die Profis auch den Ernst der Lage, wie er zumindest im befreundeten EU-Ausland empfunden wird, luzide einfließen lassen. Übrigens richtet der Politikaward sich in erster Linie an Agenturen ("Die Bewerbung kostet 350 Euro (für NGOs: 250 Euro)"). Die Gewinner nennt der "p&k"-Artikel auch. Zumindest einer der vergebenen Preise war echt verdient und mit einer Spende an die Stiftung der Geehrten verbunden: der Ehrenpreis an die 102-jährige Holocaust-Überlebende Margot Friedländer.

Ansonsten eignet sich der Politikaward als Erinnerung, dass die hauptstädtische Medienblase Skepsis verdient – gegenwärtig noch viel mehr als zu Müntes und Edes großen Zeiten.

"Rechts", Volt, Piraten: EU-Wahl-Folgen

"Medien müssten versuchen, für sich die Begriffe klar zu bekommen", rät ... ähm: mit Recht der Mainzer Politikwissenschaftler Marcel Lewandowsky im Deutschlandfunk. Da geht es um die Begriffe "rechts", "rechtsextrem" und "rechtsradikal", die "ein wenig synonym zueinander" verwendet und dadurch an Trennschärfe verloren hätten. Dass sich das schön kurze, also prima in Überschriften-Zeilen passende Wort "Rechte" im deutschen Journalismus vermutlich viel tiefer als Synonym für "rechtsextrem" und "bäh!" eingebürgert hat als im allgemeinen Sprachgebrauch und Denken, ließe sich zumindest schnell analysieren. Womöglich trägt auch das zur allgemeinen Entfremdung bei.

Nicht zur Übersichtlichkeit bei tragen die besonders von jungen Wählern (Altpapier gestern) gewählten, oft selber junge Parteien, die es ins EU-Parlament schafften. Wolt zum Beispiel ... pardon, bei all den kampagnenstarken Markennamen kann man ja durcheinanderkommen: Volt liegt mit 2,7 Prozent der Stimmen auf Augenhöhe mit der traditionsreichen Linken.

Eine andere kleine Partei verpasste den Wiedereinzug hingegen. "Deutsche Piraten fliegen aus dem Europaparlament", meldet netzpolitik.org. Die Nachfolgekandidatin des digitalpolitisch durchaus aktiven Europaparlamentariers Patrick Breyer "erhielt nur 0,5 Prozent der deutschen Stimmen", was auch ohne 5,0-Prozent-Hürde knapp nicht ausreichte.

Womöglich setzten die Piraten zu stark auf Mastodon, "ein alternatives soziales Netzwerk, das zwar seit Elon Musks Übernahme von Twitter kräftig gewachsen ist, aber in der breiten Öffentlichkeit weiterhin kaum eine Rolle spielt", und zu wenig auf Tiktok, wo viel mehr Wähler zu holen sind, kommentiert Torsten Kleinz auf spiegel.de (Abo). Jedenfalls sei schade, dass die Piraten, die ja aus Digitalpolitik heraus entstanden, nun fehlen:

"Eigentlich wäre die Netzpolitik ein Feld, mit dem man Politik für Millionen Menschen wieder begreifbar machen könnte. Derzeit wird etwa darum gerungen, ob man chinesische Billig-Apps wie Temu und Shein ausbremsen sollte, indem man die Mindestgrenze bei Zoll-Erhebung aufhebt. Dies könnte viele Wahlberechtigte interessieren, die Politik nur noch als etwas Schmutziges oder bestenfalls als trockene Bürokratie begreifen. Doch über die Zukunft der Billig-Apps müssen auch weiterhin staubige Fachausschüsse und die gewaltige Brüsseler Bürokratie entscheiden ..."

Es sei denn, dazwischen kommt eine eher schon sarkastische als ironische Pointe, die wiederum der eben verlinkte netzpolitik.org-Artikel für möglich hält. Ein einziger Pirat wird noch im neuen EU-Parlament sitzen, gewählt in Tschechien, und könnte

"schon bald in eine wesentlich mächtigere Position wechseln – und zwar in die EU-Kommission. Die tschechischen Piraten haben als Bedingung für ihre dortige Regierungsbeteiligung ausgehandelt, dass sie den nächsten tschechischen EU-Kommissar ernennen dürfen. Das wäre ein Novum: Einen Piratenkommissar hat es noch nie gegeben."

Und ein EU-Digital-Kommissar, der sich schon vorher mit Digitalpolitik auskannte, wäre auch was Neues. Hoffentlich hätte Ursula von der Leyen, also falls Präsident Macron sie erneut beruft, nichts dagegen.

Meta ist zweitgrößter Medienkonzern; Meta vs. EU

Jedenfalls wird Datenschutz immer wichtiger, zumal auf EU-Ebene, gerade weil Europa global gesehen immer unwichtiger wird.

"Mit dem Mediengeschäft der großen europäischen Konzerne geht es bergab. 2014 hatte Europa einen Anteil von 17,5 % (oder 80,7 Mrd. Euro) an den 50 größten Medienkonzernen (Umsatz gesamt: 473,32 Mrd. Euro). 2023 hat sich dieser Anteil halbiert: Jetzt waren es noch 138,45 Mrd. Euro von insgesamt 1,55 Billionen – oder 8,93 %. Auch ein Beispiel für die neue bipolare Weltordnung, die sich im 21. Jahrhundert abzeichnet, mit den nicht nur im Bereich der Medien führenden USA und China."

So kommentiert das Kölner Institut für Medienpolitik (IfM) seine frisch aktualisierte Liste der "100 größten Medien- und Wissenskonzerne", auf die alle, die bis hierhin lasen, ein Lesezeichen setzen sollten. Zum Aufstieg des chinesischen Anteils trug natürlich wesentlich der Tiktok-Eigentümer Bytedance bei. Neuer zweiter im Ranking, hinter dem allmächtigen Google-Konzern Alphabet, ist allerdings der Facebook-Konzern Meta. Dessen gut 124 Milliarden Euro Jahresumsatz machen zwar nicht mal die Hälfte des Alphabet-Umsatzes aus, doch mehr als das Sechsfache des größten deutschen Medienkonzerns Bertelsmann.

Und in Kürze werden sich Meta/Facebook und die EU wieder battlen:

"In den letzten Tagen hat Meta Millionen von Europäern darüber informiert, dass sich seine Datenschutzbestimmungen wieder einmal ändern. Erst bei näherer Betrachtung der Links in der Meldung wurde klar, dass das Unternehmen plant, auch Jahre alte persönliche Posts, private Bilder oder Online-Tracking-Daten für eine nicht näher definierte 'KI-Technologie' zu verwenden, die persönliche Daten aus jeder beliebigen Quelle aufnehmen und beliebige Informationen mit nicht näher definierten 'Dritten' teilen kann",

teilte (deepl.com-übersetzt) NOYB mit. Daher haben die Datenschützer Beschwerden in gleich elf europäischen Ländern eingelegt. Ob das von den Datenkraken reklamierte Unternehmensinteresse das europäische Grundrecht auf Datenschutz überwiegt, "wird ausgestritten werden", sagte NOYB-Gründer Max Schrems im Deutschlandfunk. Allerdings herrscht Zeitdruck, weil die Meta-Datenkraken den 26. Juni als Termin setzten und die europäischen Datenschutzbehörden "sehr politisch besetzt und bestellt" sind, wie Schrems sagt. Für Meta und die meisten Datenkraken ist der irische Data Protection Commissioner zuständig. Ob in der EU entsprechende Entscheidungen getroffen werden können, bevor die neuen Kommissions-Posten besetzt sind, ob auf den höheren EU-Ebenen überhaupt Interesse an so was besteht (oder nicht Entscheidungsbefugte mit steuerfinanzierten Wahlkampfausgaben außer zu ihrer Wiederwahl auch zu weiterem Umsatzwachstum des Meta-Konzerns beitrugen ...), ist fraglich. 

Und in Bielefeld rumort es

NOYB steht für "None Of Your Business", also etwa: Geht Dich nichts an. Die umtriebige Datenschutz-Organisation ist ostentativ international-englischsprachig, sitzt allerdings in Wien und ist für deutschsprachige Medien gut interviewbar. Gibt es etwas Vergleichbares in Deutschland?

Na ja, den traditionsreichen Bielefelder Verein Digitalcourage e.V., der früher, weniger selbsterklärend, aber nicht uneinprägsam FoeBuD gehießen hatte und etwa mit dem Verleihen seiner Big-Brother-Awards für Aufmerksamkeit sorgt. Allerdings stehe "die Zukunft von Deutschlands ältestem Datenschutz-Verein ... auf dem Spiel", schrieb golem.de in einer ausführlichen Recherche vor der Mitgliederversammlung am vorigen Wochenende.

Und nach der Versammlung "rumort es weiter", schreibt heise.de. Neu im Vorstand ist der als Landes-Datenschützer über die Grenzen Schleswig-Holsteins hinaus bekannt gewordene Thilo Weichert. Nicht mehr bzw. noch als "künstlerischer Leiter" dabei ist der Mitgründer Padeluun. Ausgetreten sei Christian Pietsch, "unter anderem Administrator der Digitalcourage-eigenen Mastodon-Instanz". Ob sich auf der Domain datenfreu.de eine Konkurrenz-Organisation firmiert, wird sich zeigen.

Wie auch immer, es wäre verdammt schade, wenn der selten sehr breitenwirksame, aber umso längere Atem der FoeBud-Digitalcourage-Tradition versiegen würde  ...


Altpapierkorb (Berlin-Umzug, Druckereischließungs-Folgen, Prozesse-Breitenwirkung, Ruhegeld-Prozess, Palantir)

+++ Der Springer-Konzern, in den neuen IfM-Liste auf Platz 54, holt weitere Redaktionen, nämlich "Auto Bild" und "Computer Bild" vom einstigen Hauptsitz Hamburg ab nach Berlin. Das berichtete als erster medieninsider.com (Abo). +++

+++ Die – rein formatmäßig – großen Funke-Zeitungen "Hamburger Abendblatt" und "Berliner Morgenpost" werden kleiner, wiederum formatmäßig. Das aber weniger wegen Handlichkeits-Überlegungen als weil immer mehr Druckereien dicht machen. Diejenige in Ahrensburg bei Hamburg, die derzeit geschlossen wird (Altpapier), sei die letzte gewesen, die das traditionelle Großformat noch drucken konnte, berichtet die "FAZ" (Abo).

+++ Vor deutschen Gerichten können seit 2002 auch Prozesse wegen anderswo nicht von Deutschen begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geführt werden. Um die internationale "Breitenwirkung" solcher deutscher völkerstrafrechtlicher Verfahren zu verstärken, wurde nun der Zugang internationaler Medien zu solchen Prozessen verbessert, berichtet Christian Rath in der "taz". +++

+++ Um monatlich 8.900 Euro "Ruhegeld" bis zum eigentlichen Rentenbeginn 2030 streiten der RBB (der erstinstanzlich vor dem Arbeitsgericht verloren hatte) und sein Ex-Betriebsdirektor Christoph Augenstein nun vorm Landesarbeitsgericht weiter, meldet "epd medien". +++

+++ "Wer kennt schon Palantir? Aber alle sollten es kennen. Denn dieses Unternehmen ist zwar einer breiten Öffentlichkeit unbekannt und in der medialen Diskussion kommt es bislang kaum vor. Und doch ist Palantir so alternativlos wie Facebook, Google, Apple und Amazon und verdient schon deswegen auch ähnliche Debatten", empfiehlt Rüdiger Suchsland ("Telepolis") Klaus Sterns neuen Kino-Dokumentarfilm "Watching You" über die Firma des in Frankfurt promovierten US-Amerikaner Alexander Karp.

Das nächste Altpapier schreibt am Donnerstag Ralf Heimann.

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