Kolumne: Das Altpapier am 9. Juli 2024: Porträt der Altpapier-Autorin Jenni Zylka 3 min
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Kolumne: Das Altpapier am 9. Juli 2024 Spoil doch

Kolumne: Das Altpapier am 9. Juli 2024 – Spoil doch

Dass das Verraten von Plot Twists oder Rätseln in den Medien, das so genannte "Spoilern" als Problem aufgefasst wird, ist eventuell nicht zeitgemäß: Es kommt auf das Narrativ an.

Di 09.07.2024 12:05Uhr 02:43 min

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Kolumne: Das Altpapier am 9. Juli 2024 Spoil doch

09. Juli 2024, 10:08 Uhr

Dass das Verraten von Plot Twists oder Rätseln in den Medien, das so genannte "Spoilern" als Problem aufgefasst wird, ist eventuell nicht zeitgemäß: Es kommt auf das Narrativ an. Heute kommentiert Jenni Zylka die Medienberichterstattung.

Porträt der Altpapier-Autorin Jenni Zylka
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Morddrohungen für Spoiler

Früher waren Spoiler flügelartige Blechbauteile, die von vornherein anscheinend murksig konstruierte Sportwagen bei der Beschleunigung in die Bahn drücken sollten. Somit hatten sie ausschließlich für (aus Gründen) geltungssüchtige Sportwagenfahrer eine Bedeutung.

Aber spätestens seit Wolfgang Neuss den Deutschen 1962 den Spaß an ihrem ersten TV-Straßenfeger verdorben, und lauthals den Namen jenes Schauspielers heraustrompetet hatte, der den Mörder im mehrteiligen Durbridge-Krimi "Das Halstuch" spielte, werden mediale Spoiler mindestens todernst genommen: Neuss, der damals nur per Zeitungsanzeige gespoilert hatte, um überhaupt wieder mal jemanden vom Wirtschaftswundersofa ins Kino (in seinen Film!) zu motivieren, erhielt Morddrohungen und wurde von der "Bild" als "Vaterlandsverräter" diffamiert. (Obwohl er doch nur ein Schauspielernamenverräter war.) Die amüsante, im Aufbau stark an George Cukors Film "Die Frauen" erinnernde Backstory mit der angeblichen Pediküre, über die die geheime Information von der Gattin des Drehbuchautors zu Neuss' Mutter geflossen sein soll, erspare ich Ihnen jetzt mal. Spoilern befindet sich auf jeden Fall seitdem sowohl begrifflich als auch inhaltlich im aktiven Wortschatz des Landes, und wird kräftig für und gegen alles mögliche eingesetzt.

Eine Kolumnistin der FAS beschäftigt sich hier mit dem bekannten Phänomen, und holt das Spoilern in die Gegenwart:

"Auch online ist man sich einig: Spoilern ist ein Sakrileg. Wenn man schon den gesamten Inhalt einer Geschichte bespricht, stellt man gefälligst eine Spoiler-Warnung voran. Wer dann noch weiterliest, ist selbst schuld."

Das Narrativ zählt

Sie deutet zudem kurz die Unterschiede zwischen den Narrativen an – denn nicht alle Arten von Geschichten werden langweiliger, unspannender oder "schlechter", wenn man schon etwas über den Ausgang weiß:

"Und es gibt sie auch heute, die Geschichten, in denen die Handlung und ihre Überraschungen nicht im Zentrum stehen."

Als Beispiel nennt sie die dritte Staffel der großartigen US-Serie "The Bear", die man in Deutschland noch nicht offiziell sehen, zu der man sich aber natürlich mit social und anderer media-Hilfe hervorragend spoilern lassen könnte. Aber das wäre tatsächlich nicht schlimm. Erstens geht es darin eben gar nicht um die Identität eines Mörders, sondern um kreative Männer (und ein paar Frauen), die ernsthaft ihre diversen sozialen Dysfunktionen angehen. (Wer keine Angst vor Spoilern hat, beziehungsweise weiß, dass sich Reviews als Formate eh von jeher genuin mit der Frage "wieviel darf ich erzählen?" auseinandersetzen müssen: Hier eine The Bear-Kritik gegen $ in der New York Times, hier eine im Guardian. Tenor ist…. Ich sag's nicht.)

Zweitens könnte man sich noch eine Studie dazu durchlesen, die vor ein paar Jahren an der University of California erstellt wurde (hier wird sie auf der Uni-Homepage beschrieben), und die wissenschaftlich unterlegt, was die FAZ-Kolumne ebenfalls vermutet. Zwar wirkt die Art und Weise, in der ein Psychologieprofessor namens Nicholas Christenfeld aus San Diego den Sachverhalt angeht, zunächst etwas unterkomplex:

"We asked lots of people, 'Do spoilers ruin experiences for you?'” said Christenfeld. "The vast majority of people say 'yes.' Intuitively, killing the surprise seems like it should make a narrative less enjoyable.”

No shit, Sherlock. Klingt ja auch erst einmal logisch, auf die Frage, ob Erlebnisse / Überraschungen verdorben werden können, mit "ja" zu antworten – schließlich ist "verderben" ein negativ konnotierter Begriff, und eine Überraschung besteht darin, nun ja, überrascht zu werden. Jedoch, Überraschung (aber kein Spoiler):

"Yet research has found that having extra information about artworks can make them more satisfying, as can the predictability of an experience.”

Mehr Kleiderbügel als Heckspoiler

Hier ist übrigens auch ein Link zu der Studie selbst, die mit dem Titel "Story Spoilers don't spoil stories" eifrig versucht, bereits in der Überschrift die wichtige Distinktion der Narrative hervorzuheben. Es geht neben anderem natürlich um verschieden aufgebaute Geschichten (etwa "Romeo und Julia", wo das Ende hinreichend bekannt ist, versus "Die üblichen Verdächtigen"), die Unterschiede zwischen "plot driven" und "character driven", und im weitesten Sinne (und ohne ihn so zu nennen) um den Publikumsvertrag, den man als Rezipientin oder Rezipient einer Geschichte nicht nur mit den Handelnden und ihren "dramaturgischen Bögen", sondern auch mit Regisseur:innen haben kann: Gerade das Verstehen und Durchschauen von Regie-Motiven und Ideen kann einen Zuschauer noch mehr erfreuen. Im oben zitierten Übersichtsartikel hat der Studienleiter ein paar griffige Beispielbilder parat, inklusive allseits beliebter Otter:

"Spoilers clear away the need to think about the plot and allow you to enjoy the rest of the story more. (…) If you're driving up Highway 1 through Big Sur, and you know the road really well, you can now peek around and admire the view, the otters frolicking in the surf,” said Christenfeld. But if it's your first time on the road, you have to focus on the twists and turns. "The plot is in some ways like a coat hanger, displaying a garment,” said Christenfeld. "If it's just a crumpled heap of fabric on the floor, you couldn't admire the garment. A plot is just the structure that lets you do the interesting narrative components – maybe even knowing the ending is useful because it allows you to focus on these other parts, or to understand how it's unfolding.”

Das stimmt natürlich auch nicht ganz – ein Plot ist durchaus mehr als die Struktur, die narrative Komponenten zusammenhält: Narrative Komponenten sind die Bestandteile des Plots, des Dilemmas. In welcher Welt das Ganze angesiedelt wird, ist egal. Aber was der Mann sagen will, ist dass das Zusammenspiel von Geschichte und emotionaler Verwicklung und Struktur wichtiger ist, als die Frage, wann man versteht, wer den Mann umgebracht hat, und wer Keyser Söze ist.

Leichte Verarbeitung

Wen die Fakten interessieren: Für die Studie wurden über 800 Versuchspersonen mit Geschichten von u.a. John Updike, Agatha Christie, Roald Dahl oder Anton Chekhov erfreut, und ja, es geht um Lesen, nicht Serien oder Filme gucken. Aber das sind nur methodische Unterschiede, keine rezeptiven, die Art des Mediums ändert vermutlich nichts am Ergebnis. In der Zusammenfassung der Originalstudie findet sich folgende Beobachtung:

"Reading a story with foreknowledge of its outcome may be analogous to perceptual fluency, in which perceived objects are processed with ease, an experience that is associated with aesthetic pleasure (Reber, Schwarz, & Winkielman, 2004), positive affect (Winkielman & Cacioppo, 2001), and story engagement (Vaughn, Childs, Maschinski, Niño, & Ellsworth, 2010). Schema discrepancy theory suggests that increased predictability can result in increased positivity of affective response, although this effect is dependent on initial level of uncertainty (MacDowell & Mandler, 1989). Thus, despite intuitive beliefs about the effects of spoilers, there are plausible theoretical reasons to think they may not ruin the pleasure of reading a story. Their actual effect remains unknown.”

(Aus dem Wissenschaftsenglisch ins Wissenschaftsdeutsch:)

"Das Lesen einer Geschichte mit Vorwissen über ihren Ausgang kann einer fließenden Wahrnehmung ähneln, bei der wahrgenommene Objekte mit Leichtigkeit verarbeitet werden, eine Erfahrung, die mit ästhetischem Vergnügen (Reber, Schwarz & Winkielman, 2004), positivem Affekt (Winkielman & Cacioppo, 2001) und Story-Engagement (Vaughn, Childs, Maschinski, Niño & Ellsworth, 2010) verbunden ist. Die Theorie der Schemadiskrepanz legt nahe, dass eine erhöhte Vorhersagbarkeit zu einer erhöhten Positivität der affektiven Reaktion führen kann, obwohl dieser Effekt vom anfänglichen Grad der Unsicherheit abhängt (MacDowell & Mandler, 1989). Trotz intuitiver Überzeugungen über die Auswirkungen von Spoilern gibt es plausible theoretische Gründe für die Annahme, dass sie das Vergnügen am Lesen einer Geschichte nicht beeinträchtigen. Ihre tatsächliche Wirkung bleibt unbekannt."

Das muss ja nicht so bleiben - da sollte man doch nochmal aktuell hinterherforschen, und gern ein paar Dramaturg:innen, Drehbuchautor:innen und Regisseur:innen ins Team holen. Das ist jedenfalls die Conclusio der Herren und Damen rund um Professor Christenfeld:

"Für alle drei Experimente ergaben Varianzanalysen einen signifikanten Einfluss der Kondition. (Um die Variabilität zwischen Geschichten zu kontrollieren, analysierten wir die Daten, indem wir verschiedene Versionen derselben Geschichte verglichen.) Die Probanden bevorzugten deutlich gespoilerte Geschichten gegenüber ungespoilerten Geschichten, sowohl im Fall der ironisch-verdrehten Geschichten (…) als auch bei den Mysterien (…). Die stimmungsvollen Geschichten wurden insgesamt weniger geschätzt, wahrscheinlich aufgrund ihrer ausdrücklicheren literarischen Absichten, aber die Teilnehmer bevorzugten erneut deutlich die gespoilerten Versionen gegenüber den ungespoilerten Versionen (…)." Mit anderen Worten: Spoilern rettet Leben, beziehungsweise hält Zuschauer:innen bei der Stange. Nimm das, you spoiled brat.


Altpapierkorb (Rundfunkbeitrag, Old Biden und Taylor Swift)

+++ Der Tagesspiegel fasst hier (€) die Ideen bezüglich eines neuen Verfahrens für den Rundfunkbeitrag zusammen: "Die Lösung könnte darin bestehen, den Beitrag zum 1. Januar 2025 per Verordnung zu erhöhen. Laut Heike Raab, als Medienstaatssekretärin von Rheinland-Pfalz eine der zentralen Protagonistinnen in Sachen Öffentlich-Rechtliche, gibt es in den Bundesländern entsprechende Überlegungen. Anders als bei der bisherigen Ratifizierung eines Staatsvertrages durch die Bundesländer würde das Einstimmigkeitsprinzip entfallen. "Damit wäre eine moderate Beitragserhöhung entsprechend der Empfehlung der KEF möglich", sagte sie vor wenigen Tagen."
Probleme werden wie folgt benannt: "Doch die Überlegung birgt zugleich große Risiken. Anders als vor vier Jahren sind es bereits sechs Bundesländer, die sich explizit gegen eine Erhöhung des Beitrags ausgesprochen haben – darunter auch Berlin und Brandenburg. Da stellt sich die Frage, welche Auswirkungen es auf die ohnehin schwindende Akzeptanz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat, wenn der Beitrag gegen den ausdrücklichen Willen von mehr als einem Drittel der Bundesländer erhöht wird."

+++ Nachtrag zum Altpapier von gestern bezüglich des medialen Bashings von Bidens vermutet geriatrischer Zitterpartie: Der Spiegel zitiert hier Michael Moore damit, dass die US-Demokraten eine Art "Missbrauch älterer Menschen" betrieben, allein schon wegen des spätabendlichen Debattentermins. "Normalerweise würde man sich doch nicht mal trauen, Oma und Opa um kurz vor elf mal zu Hause anzurufen." Soviel zum Thema Ageismus.

+++ Ein neuer, angeblich zu unkritischer Podcast über Taylor Swift kommt bislang eher so lala an: "The True Story of Taylor Swift" ist einer dieser Filme, die sich an Fans richten, Kritik steht hier nicht in der ersten Reihe" motzt rnd, und hier die SZ (€).

Das Altpapier am Mittwoch schreibt Christian Bartels.

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