Kolumne: Das Altpapier am 8. August 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann. 5 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G
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Falschinformationen und Hetze lassen Debatten entgleisen. Dann werden aus Worten Gewalt. Aber wer trägt die Verantwortung? Und wie lässt sich das stoppen?

Do 08.08.2024 12:17Uhr 04:32 min

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Kolumne: Das Altpapier am 8. August 2024 Aufmerksamkeitskarambolagen

08. August 2024, 12:03 Uhr

Falschinformationen und Hetze lassen Debatten entgleisen. Dann werden aus Worten Gewalt. Aber wer trägt die Verantwortung? Und wie lässt sich das stoppen? Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier Autoren Ralf Heimann
Bildrechte: MDR MEDIEN360G

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Künstliche moralische Empörung

Die österreichische Journalistin Ingrid Brodnig hat vor einem Monat ein Buch mit dem Titel "Wider die Verrohung" veröffentlicht. Darin beschäftigt sie sich damit, wie öffentliche Debatten gezielt zerstört werden, und sie gibt Tipps dazu, wie man damit umgehen kann. Im Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" hat Brigitte Baetz mit ihr über die Muster gesprochen, die man beobachten kann, zum Beispiel bei den Ausschreitungen von Southport.

Zur Erinnerung: In der britischen Stadt hatte Ende Juli ein 17-Jähriger bei einem Taylor-Swift-Themenevent in einer Tanzschule drei Mädchen erstochen und weitere Kinder verletzt. Obwohl die Polizei bestätigte, dass er in Großbritannien geboren wurde, verbreitete sich danach die Nachricht, er sei ein muslimischer Asylbewerber. Es kam zu einer Welle von antimuslimischen und fremdenfeindlichen Ausschreitungen, die sich auf andere Städte ausweiteten. Das alles mündete in einer Debatte über Rassismus und Falschinformationen in sozialen Medien.

Die britische Regierung lud Vertreter von Tiktok, Google, Facebook und X ein und betonte ihre Verantwortung. Ingrid Brodnig hält solche Appelle zwar für sinnvoll, sagt aber im Deutschlandfunk-Interview:

"Ich bin etwas skeptisch, ob reine Worte viel bewirken. Also gerade bei Elon Musk, der ziemlich unverbesserlich auftritt bisher, stelle ich mir die Frage, ob es nicht auch zum Beispiel Geldstrafen braucht, wirklich harte Maßnahmen."

Und sie sagt:

"Also ich würde sogar so weit gehen zu sagen, man muss die Frage stellen, inwieweit Elon Musk eine Mitverantwortung hat für die Gewalt, die wir auf den Straßen Großbritanniens sehen."

Das Muster ist oft sehr ähnlich. Irgendetwas passiert, danach baut sich eine Hasswelle auf. Ähnlich war es auch bei Olympia. Nach der Eröffnungsfeier gab es Kritik an einer Szene, die dem biblischen Abendmahl glich und die von einigen als Verunglimpfung des Christentums wahrgenommen wurde. Auch hier entgleiste die Debatte sehr schnell. Der künstlerische Direktor bekam Morddrohungen.

Ingrid Brodnig sagt, was man hier beobachten konnte, sei ein klassischer Teil der Eskalation von Debatten. Brodnig:

"Man nimmt einen harmlosen, eigentlich auch positiven Vorfall und legt da noch eine Schablone drüber, sagt, hier würde irgendwie jemand sich verächtlich machen oder es wird gegen Woke auf einmal irgendwas insinuiert. Und so werden solche Themen zu Schwarz-Weiß-Themen, so im Sinne von, man muss sofort Ja oder Nein sagen. Es wird zur Lagerbildung genutzt."

Wirkungsvoll sei das, weil moralische Empörung "ein Vehikel für Aufmerksamkeit" sei. Ärgerlich sei, dass

"auch reale, harmlose Vorfälle oft mit einer künstlichen moralischen Empörung zu etwas Neuem gemacht werden".

Es ist also klassischer Populismus, allerdings nicht unbedingt von klassischen Populisten, sondern auch von Politikern oder Akteuren, die nicht dem rechtsextremen Milieu zuzuordnen seien. Sie nutzen diese Art und Weise der Kommunikation einfach, weil sie besser funktioniert.

Die Schweizer Kommunikationswissenschaftlerin Sina Blassnig habe schon vor Jahren belegt, dass populistische Rhetorik ein besseres Feedback auslöst, sagt Brodnig. Die Gefahr sei, dass sich das auch für jene rentiere, die eigentlich aus einer ganz anderen Ecke kommen.

Das Recht des rhetorisch Stärkeren

Der Anwalt Joachim Steinhöfel kommt in jedem Fall aus einer Ecke, in der man weiß, wie man Kommunikation so einsetzt, dass sie eine Wirkung erzielt. Er nutzt Plattformen wie X, um seine eigene Meinung sehr laut zu äußern, man könnte auch sagen: brachial.

Steinhöfel hat in den vergangenen Jahren eine Art Fetisch entwickelt, wenn es darum geht, Verletzungen der Meinungsfreiheit zu identifizieren und dagegen vorzugehen. Das macht er meistens erfolgreich. Götz Hamann hat Steinhöfel für die aktuelle Ausgabe der "Zeit" porträtiert und sehr schön herausgearbeitet, dass hinter dem Meinungsfreiheits-Aktivismus ein ziemlich libertäres und eindimensionales Verständnis steht, das mit dem "Recht des rhetorisch Stärkeren" vielleicht besser beschrieben wäre.

Eindimensional auch, weil der Anwalt Steinhöfel sich ausschließlich für die juristische Dimension interessiert – und auch nur für den Teil, der bei der Möglichmachung von Äußerungen dient, die in Richtung der Grenzen zielen. Hamann:

"Auf den Gedanken, dass auch mit den aktuellen Regeln, die ihm zu weit gehen, das Diskussionsklima in sozialen Netzwerken oft übel ist, dass Menschen und Meinungen unter die Räder kommen, weil sie von anderen niedergemacht werden, auf diesen Gedanken mag sich Steinhöfel nicht wirklich einlassen. Das sei kein juristisches Problem, er sei da nicht der Richtige."

Man könnte sich natürlich auch juristisch mit den Folgen einer grenzenlosen Meinungsfreiheit beschäftigen. Möglich wäre das. Ein kurzer Schwenk zurück zu Ingrid Brodnig. Auf die Frage, was man machen kann, um auf Entgrenzungen und Entgleisungen zu reagieren, sagt sie:

"Eines auf jeden Fall, das heißt Klagen."

Man könne sich gegen üble Nachrede, Beleidigungen oder Hetze wehren. Es sei auch hilfreich, Betroffene zu unterstützen, ihnen Zuspruch zugeben, sich öffentlich solidarisch zu zeigen. Und wenn Menschen nach Hass-Kommentaren Erfahrungen mit der Justiz machten, dann zeige sich oft: Sie werden zurückhaltender. Zwar nicht, weil sie einsichtig seien, sondern weil sie sich ihr Leben nicht verbauen wollten. Aber das sei ja auch schon gut.

Das Dilemma der Sperrfrist

Der Nachrichtendienst Bloomberg hat als Erster über die Freilassung des "Wall Street Journal"-Journalisten Evan Gershkovich berichtet (zuletzt gestern im Altpapier). Chefredakteur John Micklethwait hat sich dafür nun entschuldigt; Jennifer Jacobs, eine der beiden Personen, deren Namen über dem Artikel stand, musste gehen, berichtet Nina Rehfeld auf der FAZ-Medienseite.

Der Grund für die Entschuldigung und die Entlassung ist, dass Bloomberg sich über ein "Medien-Embargo" hinweggesetzt hat. Aha, aber was war das noch mal?

Im Handel ist ein Embargo einfach ein Export-Verbot. Im Journalismus bedeutet es: Medien bekommen eine Information, damit sie die Veröffentlichung vorbereiten können, dürfen aber erst ab einem bestimmten Zeitpunkt berichten. Geläufiger ist der Begriff: Sperrfrist.

Im Fall von Gershkovich gab es so eine Sperrfrist, um die Vereinbarung mit Putin auf den letzten Metern nicht zu gefährden.

Bloomberg veröffentlichte die Meldung über die Freilassung von Gershkovich, eines weiteren Amerikaners und 14 weiterer Gefangener, als der Flieger noch in der Luft war. 20 Minuten später schickte man eine Korrektur hinterher. Weitere 20 Minuten später erschien die Meldung des "Wall Street Journals", das seinen Korrespondenten Yaroslav Trobmov laut Rehfeld mit einem Feldstecher am Flughafen postiert hatte, um sicher zu sein, dass Gershkovich auch in der Maschine sitzt.

Es war also Detektivarbeit. Jenseits des Medienbetriebs mag Menschen das ziemlich verrückt erscheinen. Man könnte ja auch einfach abwarten und schauen, ob Gershkovich aus dem Flugzeug steigt, wenn der Flieger gelandet ist. Das wäre ja auch noch rechtzeitig.

Aber dahinter steht das Geschäftsmodell von Nachrichtenagenturen, die im Wettbewerb zueinander stehen und sich von Exklusivmeldungen eine höhere Reichweite erhoffen, und dass der Eindruck zurückbleibt: Die waren wieder am schnellsten.

So richtig erschließt sich das erst, wenn man sich vorstellt, dass es einer Agentur regelmäßig gelingt, zu den Schnellsten zu gehören. Das ist ein gutes Argument, auf sie nicht zu verzichten.

Der Nachteil dieser Praxis ist allerdings: Journalisten neigen dazu, sich so sehr in diese Logik hineinzusteigern, dass sie selbst den Eindruck bekommen, sie hätten dadurch, dass sie fünf Minuten schneller waren als alle anderen, nicht nur ihrem Arbeitgeber einen Gefallen getan, sondern gewissermaßen auch der Menschheit.

Deutlich wird das in einem später wieder gelöschten Tweet eines Bloomberg-Journalisten, der schrieb, wie Nina Rehfeld zitiert:

"Es ist eine der wichtigsten Ehren meiner Karriere, dabei behilflich gewesen zu sein, diese Nachricht zuerst zu veröffentlichen. Ich liebe meinen Beruf und meine Kollegen."

Was man in jedem Fall sagen kann: Der Wettlauf und der enorme Druck begünstigen Fehler. Im Fall der Meldung über Gershkovic ist nur nicht ganz klar, warum der Fehler passiert ist. Also war jemand falsch informiert und dachte: Die Meldung kann jetzt wohl raus? Oder hat sich jemand bewusst über die Sperrfrist hinweggesetzt?

Bloomberg hat die Antwort auf diese Frage auf eine für eine Agentur untypische Weise gegeben, nämlich ohne Worte, indem man eine der beteiligten Personen vor die Tür setzte. Damit bleibt der Eindruck: Die hat’s wohl verbockt.

Gegen diesen Eindruck wehrt sich die gekündigte Journalistin Jennifer Jacobs allerdings nun. Sie schrieb bei X, dass "Reporter nicht das letzte Wort darüber haben, wann oder unter welcher Überschrift eine Geschichte veröffentlicht wird". Sie habe "Hand in Hand mit meinen Redakteuren gearbeitet, um redaktionelle Vorschriften einzuhalten" und "zu keiner Zeit etwas getan, das bewusst das Regierungsembargo verletzen oder irgendjemanden in Gefahr bringen würde".

Und das führt nun wieder zu dem Eindruck: So richtig wollen sie bei Bloomberg nicht sagen, was genau schief gelaufen ist. Sie schieben es einfach auf einen Sündenbock.

Die Organisation "Coalition For Women In Journalism" hat das nun kritisiert, berichtet Saladin Salem auf der SZ-Medienseite. Denn von so einem Schritt geht auch ein Signal aus. Es führe zu "einer Kultur der Angst und Selbstzensur, wenn Journalisten fürchten müssten, für redaktionelle Entscheidungen außerhalb der eigenen Kontrolle verantwortlich gemacht zu werden", schreibt Salem. Und was sagt die Agentur? Bloomberg äußere sich auf Nachfrage nicht zu dem Fall, schreibt Salem. Hier dürfen also ausnahmsweise mal die anderen Erster sein.


Altpapierkorb (Compact-Verbot, Lindemann, UN-Konvention zu Cyberkriminalität, Google, Musikmagazin Groove)

+++ Das Bundesinnenministerium hat vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Klage des Magazins "Compact" Stellung genommen (zuletzt gestern im Altpapier), berichtet Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite, hat vom Ministerium aber nicht erfahren, was in der Einlassung steht. Zum Taschenspielertrick des Verlags Sodenkamp & Lenz, die Inhalte unter dem Titel "Näncy" weiter zu veröffentlichen, äußere sich das Ministerium nicht. Das sei Sache der Strafverfolgungsbehörden. Das Ministerium könnte gegen den Verlag laut Hanfeld aber in ähnlicher Weise vorgehen wie gegen "Compact", mit einem Vereinsverbot.

+++ Till Lindemanns Anwälte aus der Kanzlei Schertz Bergmann haben eine weitere einstweilige Verfügung gegen den NDR-Podcast "Rammstein – Row Zero" beim Landgericht Hamburg erwirkt, diesmal gegen Folge 1, meldet die Kanzlei in einer Pressemitteilung. Das Gericht habe dem NDR untersagt, den Verdacht zu erwecken oder erwecken zu lassen, Till Lindemann habe sexuelle Handlungen an einer Frau, die im Podcast mit "Cynthia A." bezeichnet wird, ohne deren Zustimmung und gegen deren erkennbaren Willen vorgenommen. Die Kanzlei geht damit weiter rigoros gegen alles vor, was sich in der Berichterstattung über die Vorwürfe gegen Lindemann angreifen lässt. Vor einer Woche meldete die Kanzlei eine Strafanzeige gegen den "Spiegel", vor zwei Wochen erreichte sie eine einstweilige Verfügung gegen Folge 2 des NDR-Podcast.

+++ Menschenrechtsorganisationen und Journalistenverbände kritisieren, die geplante und maßgeblich von Russland beeinflusste UN-Konvention zur Cyberkriminalität sei ein gefährliches Überwachungsabkommen, berichtet Constanze Kurz für "Netzpolitik.org". Die Konvention gewähre umfassende Überwachungsbefugnisse, erfülle aber Mindeststandards für Menschenrechte und Datenschutz nicht. Damit ermögliche sie es repressiven Staaten, gegen politische Gegner und Journalisten vorzugehen.

+++ Elena Kirillidis und Henrik Oerding geben in der aktuellen Ausgabe der "Zeit" einen Überblick zum Kartellrechtsverfahren gegen Google, das zu dem Ergebnis kam: Das Unternehmen ist ein Monopolist (Altpapier).

+++ Nicholas Potter schreibt für die "taz" über das kritische Musik-Magazin "Groove", das nach 35 Jahren vor dem Aus steht. Die Gründe sind die branchenüblichen: sinkende Abozahlen, rückläufige Werbeeinnahmen und eine schrumpfende Auflage. Die Print-Ausgabe wurde schon 2018 eingestellt. Die Redaktion versucht jetzt, die Zukunft des Magazins durch eine Kampagne zu sichern. Ein neu gegründeter Verein will 500 Mitglieder zu einem Jahresbeitrag von 100 Euro gewinnen, damit das Magazin ohne Paywall fortgeführt werden kann.

Das Altpapier am Freitag schreibt Christian Bartels.

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