Kolumne: Das Altpapier am 12. September 2024 Fragwürdige Fehlerkultur
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12. September 2024, 09:50 Uhr
Die Wochenzeitung "Freitag" und die "Berliner Zeitung" werfen dem Bayerischen Verfassungsschutz einen Eingriff in die Meinungsfreiheit vor. Mittlerweile hat die Behörde den Fauxpas fein säuberlich unter den Teppich gekehrt. Und: Die Berichterstattung um Luke Mockridge reißt nicht ab. Nur wirklich tiefsinniger wird sie nicht mehr. Ein Altpapier von Ben Kutz.
Inhalt des Artikels:
- Wie der Bayerische Verfassungsschutz in einem Nebensatz die Pressefreiheit angreift
- Intransparenz-Offensive des Verfassungsschutzes
- Die Mockridge-Skala der Themenspins
- Altpapierkorb (ARD will Online-Werbung schalten, die Super Nanny ist zurück, ZDF-Intendant Himmler spricht über Reform-Pläne, Taylor Swift unterstützt Kamala Harris)
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Wie der Bayerische Verfassungsschutz in einem Nebensatz die Pressefreiheit angreift
Für reichlich Unmut hat ein Bericht des Bayerischen Verfassungsschutzes gesorgt. Sein Titel: "Doppelgänger: Interne Details zu russischer Desinformationskampagne". Die Doppelgänger-Kampagne gibt es seit Jahren. Die Masche: "Akteure", wie es im Bericht heißt, bauen im großen Stil etablierte News-Seiten nach. Die journalistischen Texte werden allerdings durch Desinformationen ersetzt, die im Layout von "Spiegel", "SZ" & Co. auf den ersten Blick wie Fakten wirken (vgl. Altpapier vom 7. August).
Eine reelle Gefahr, schreibt auch der Bayerische Verfassungsschutz (S. 3):
"Die groß angelegte Kampagne verfolgt das Ziel, durch die Verbreitung bewusster Falschinformation und pro-russischer Narrative in westlichen Gesellschaften Zweifel an liberalen demokratischen Werten zu säen. Mit Blick auf Deutschland werden gezielt die Grundfesten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Frage gestellt."
Der Verfassungsschutz-Bericht schlüsselt auf, wie die Desinformations-Kampagne technisch funktioniert und welche Strategien dahinterstecken könnten. Unter der Überschrift "Kategorie 1 – Gefälschte Webseiten bekannter Medien" dokumentiert er unter anderem Screenshots. Die Propaganda-Edition von spiegel.de titelt dem Bericht nach nun etwa "Die Ampel bringt die deutsche Wirtschaft um" (vgl. S. 16). Insgesamt 317 solcher gefakten "Spiegel"-Artikel haben die Verfassungsschützer gefunden, außerdem 103 "SZ"- und 96 "FAZ"-Fakes.
Das könnte alles ein runder und aufschlussreicher Bericht sein. Wenn es nicht in der Ursprungsversion der Analyse (WebArchive) auch Kategorie 2 gäbe: "Webseiten, die Nachrichten passend zum russischen Narrativ verbreiten". Auf S. 20 heißt es:
"Hierbei handelt es sich nicht um Fakeseiten, sondern um Originale, die durch den Akteur genutzt werden, um die Reichweite einzelner Inhalte zu erhöhen, da sie anscheinend grundsätzlich ins russische Narrativ passen."
Auf dieser Liste von Seiten, die "anscheinend grundsätzlich ins russische Narrativ passen", steht unter anderem die Website des rechtsextremen "Compact-Magazins" – und die Webseiten der Tageszeitung "Berliner Zeitung" und der Wochenzeitung "Freitag".
Die finden das gar nicht mal soooo lustig. Die "Freitag"-Chefredaktion hat am 10.9. ein Statement veröffentlicht:
"Der Freitag hat Artikel veröffentlicht, die sich für Friedensverhandlungen im russischen Krieg in der Ukraine aussprechen. Und er hat Artikel veröffentlicht, die die Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten. Wir sind dem freien politischen Diskurs verpflichtet, nicht irgendwelchen Narrativen. Wir fragen uns: Seit wann ist die Wahrnehmung der verfassungsrechtlich garantierten Meinungsfreiheit ein Grund, in einem Bericht des Verfassungsschutzes erwähnt zu werden? Die Forderung nach Frieden dürfte sicherlich vom Grundgesetz gedeckt sein. Das Landesamt für Verfassungsschutz verstößt mit seinem Bericht ausgerechnet gegen eine der Normen, die es doch angeblich schützen soll. Das ist der eigentliche Skandal."
Die "Berliner Zeitung" findet noch härtere Worte und fragt: "Wieso passt den Münchnern der freie Meinungsaustausch nicht?" Diese "rufschädigenden Unterstellungen des Verfassungsschutzes" seien "ein skandalöser Vorgang, der von einer staatlichen Behörde gegen ein unabhängiges Medienhaus ins Rollen gebracht wurde".
Kritik übt auch Hubertus Gersdorf, Staats- und Medienrechtler an der Uni Leipzig. "Ich halte das für außerordentlich problematisch. Ich halte dies für rechtswidrig", sagt er im Interview mit "@mediasres" vom "Deutschlandfunk":
"Es ist nicht Aufgabe des Staates, Medienberichterstattung zu kontrollieren und zu sanktionieren. Das dient nicht der Demokratie, sondern das gefährdet die Demokratie. [...] Der Bayerische Verfassungsschutz – ich möchte schon sagen – maßt sich an, die Einhaltung journalistischer Standards zu überprüfen. Und das ist ja gerade das verfassungsrechtliche Problem. Ob diese Standards eingehalten werden, darf der Staat, vor allem ein Verfassungsschutzamt, nicht überprüfen."
Auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) kritisiert den Bayerischen Verfassungsschutz. Er halte das Vorgehen der Behörde nicht nur "für unangemessen, sondern für schlicht rechtswidrig", sagt er der "NZZ". Es sei nicht die Aufgabe des bayerischen Verfassungsschutzes, "mediale Inhalte daraufhin abklopfen, ob sie ins russische Narrativ passen. [...] Der Rechtsstaat verteilt keine Gütesiegel für gute und schlechte Meinungen. Und daher haben sich auch die Behörden im Rechtsstaat daran zu halten." Rückendeckung gibt es auch von "Telepolis". Der Verfassungsschutz überschreite seine Kompetenz, heißt es in einem Kommentar.
Intransparenz-Offensive des Verfassungsschutzes
Die Kritik hat es nach einigen Tagen auch bis nach München geschafft. Gestern Nachmittag hat der Bayerische Verfassungsschutz nun eine fünfzeilige Pressemitteilung herausgegeben:
"Da es in der öffentlichen Rezeption der Publikation "Interne Details zu russischer Desinformationskampagne 'Doppelgänger'" teilweise zu inhaltlichen Missverständnissen kam, hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz strukturelle Anpassungen des Berichts vorgenommen."
Es gibt nun ein neues pdf-Dokument (die oben verlinkte aktuelle Berichts-Fassung). Der Bericht ist neu strukturiert. Außerdem enthält es nun diesen Disclaimer:
"Das BayLfV unterstellt explizit nicht, dass die Verantwortlichen der hier aufgelisteten Webseiten russische Propaganda verbreiten oder in Kenntnis darüber sind bzw. es gutheißen, dass ihre Inhalte im Rahmen der "Doppelgänger"-Kampagne weiterverbreitet werden. Ferner nimmt das BayLfV keinerlei Wertung der Inhalte der betreffenden Webseiten vor."
Von einem Bedauern oder einer Entschuldigung fehlt jede Spur. Außerdem kann man die Änderungen nur durch einen Blick ins WebArchive nachvollziehen. Ein Änderungsdatum oder einen Hinweis, dass etwas geändert wurde (geschweige denn was), sucht man vergeblich.
Selbst wer bei der Bewertung des Bayerischen Verfassungsschutzes maximal großes Wohlwollen anlegen will und der Behörde in einem Anflug von weitvorweihnachtlicher Nächstenliebe eher Flapsig- und Schusseligkeit unterstellen mag als einen beabsichtigten Eingriff in die Meinungsfreiheit, selbst dem macht es der Verfassungsschutz mit seiner Intransparenz-Offensive wirklich nicht leicht.
Die Mockridge-Skala der Themenspins
Schon am Montag waren die geschmacklosen Witze über behinderte Menschen von Luke Mockridge Thema im Altpapier. Und schon am Montag hat Kollege Klaus Raab die berechtigte Frage aufgeworfen, wie sinnvoll es ist,
"der Angelegenheit gleich so viele Aktualisierungen zu widmen, als wär's ein Liveevent, über das zu berichten nur chronologisch und möglichst kleinteilig Sinn ergibt."
Ironischerweise gibt es nun also auch im Altpapier das Mockridge-Update. Denn die Beobachtung, dass man auch fast eine Woche nach Beginn des Shitstorms in kaum einem Medium vor dem Thema sicher ist, finde ich zumindest bemerkenswert. Kleine Übersicht gefällig?
Wirklich zahllose Medien haben darüber berichtet, dass Mockridge seinen Tourauftakt abgesagt hat. Eigentlich sollte heute die Deutschlandtour mit seinem Programm "Funny Times" beginnen. "Aufgrund der aktuellen Situation" hat Mockridge die ersten Termine aber abgesagt. Das fällt wohl noch am ehesten unter Themenspin-Stufe eins: "Gewisser Nachrichtenwert" bzw. "Service".
Einen Dreh weiter geschafft haben Artikel der Stufe zwei: "Schadenfreude". Nicht gänzlich frei von jeglichem Genuss vermelden diverse Medien, dass das Theater "Haus der Springmaus" ebenfalls Auftritte abgesagt hat. Das Theater wurde vor 40 Jahren von Bill Mockridge gegründet. "Nun verbannt ihn sogar das Theater seines Papas", meldet die "Bild", "Bruder Nicholas führt die Geschäfte", ergänzt der "Spiegel".
Auch Themenspin-Stufe drei kommt relativ pünktlich, knapp eine Woche nach Beginn des Shitstorms, um die Ecke. Wer jetzt immer noch nicht seine Empörung in Kommentarform gegossen hat, braucht auch nicht mehr anzufangen, es ist höchste Zeit für die finale Stufe: "Gegenposition". Wahlweise in der Ausführung "Mitleid" ("Nun ist die Gesellschaft am Zuge. Sie muss lernen, zu verzeihen."), nachzulesen beim "RND". Oder in der Ausführung "Cancel Culture, ohne Cancel Culture zu sagen" ("Das Ausmaß der Empörung ist auf eine Weise humorlos, die gefährlich ist."), zu lesen im (überraschend späten) obligatorischen "Welt"-Kommentar.
Natürlich kennen wir diese Medienlogik zu Genüge aus dem Shitstorm-Best-of des vergangenen Jahrzehnts. Sie ist nicht neu und leider wahnsinnig nachvollziehbar. Je größer ein Thema ist, desto mehr Menschen bekommen davon mit - und immer mehr Menschen wollen immer mehr erfahren. Dass die Medien dieses Informationsbedürfnis befriedigen, ist verständlich. Nervig ist es trotzdem.
Ich behaupte jetzt einfach mal, dass ich mich von dieser Medienlogik und den niederen Klickinstrinkten völlig freimachen kann und alle verlinkten Artikel nur aus einer rein professionellen Aufopferung heraus (an)gelesen habe, um eine Brücke zu der überschaubaren Anzahl an Beiträgen mit echtem Mehrwert zu bauen. Alles für das Altpapier, Sie wissen schon.
Denn bei aller Polemik soll eine Perspektive nicht verloren gehen: die von behinderten Menschen selbst. Marko Schlichting geht für n-tv.de der Frage nach, ob man jetzt eigentlich überhaupt Witze über behinderte Menschen machen darf. Seine Antwort mündet im kategorischen Imperativ:
"Wie Sie sich mit einem behinderten Menschen im Gespräch verhalten, ist eigentlich auch recht einfach: Akzeptieren Sie, dass Sie einen Menschen vor sich haben. Machen Sie keine Bemerkungen, die Sie von anderen als beleidigend empfinden würden. Stellen Sie keine Fragen, die Sie selbst nicht gestellt bekommen möchten. Wenn Sie zu weit gegangen sein sollten, werden Sie das am Gesicht Ihres Gegenübers schon sehen."
Jonas Wengert schreibt in einem tollen "SZ"-Essay, dass die viele Empörung Menschen mit Behinderung herzlich wenig nutzen würde:
"Als Mensch mit Behinderung bekommt man zuweilen den Eindruck, der Minderheit anzugehören, auf die sich die gesamte Gesellschaft am ehesten als "schützenswert" einigen kann, also immerhin gratismoralisch [...]. Ihre Voraussetzungen sind in der Breite so schlecht, dass sie nicht ernsthaft um gesellschaftliche Ressourcen konkurrieren. Behinderte nehmen niemandem den Arbeitsplatz, die Wohnung oder allgemein gesprochen Status und Wohlstand weg. [...] Deshalb nur noch mal zur Einordnung: Dank für die vielen Tränen über geschmacklose Witze – hilft nur ernsthaft gerade nicht weiter."
Altpapierkorb (ARD will Online-Werbung schalten, die Super Nanny ist zurück, ZDF-Intendant Himmler spricht über Reform-Pläne, Taylor Swift unterstützt Kamala Harris)
+++ Die ARD will auch in Onlineangeboten Werbung schalten, berichtet die "F.A.Z.". Die linearen Nutzungszahlen im linearen Bereich seien rückläufig, argumentiert die Vermarktungsgesellschaft "ARD-Media GmbH". Man habe Sorge, dass die Werbeeinnahmen "brutal einbrechen" würden, sagt auch ARD-Vorsitzender Kai Gniffke. Momentan schließt der Rundfunkstaatsvertrag Online-Werbung für öffentlich-rechtliche Produktionen aus.
+++ Die "Super Nanny" Katharina Saalfrank ist zurück im Fernsehen. Neue TV-Heimat ist RTL Zwei. Die "SZ" fürchtet die Renaissance des "Unterschichtenfernsehens" der Nuller-Jahre. "Mit der Popularität ihrer alten, aber alterslosen Herbergsmutter Katia Saalfrank könnte es aus der Belanglosigkeit zurück ins Rampenlicht geraten, um dort wieder mal ein bisschen wirkmächtiger auf strukturell benachteiligte Gruppen mit Horror-Tattoos, Messie-Buden, massig Schulden einzudreschen als ganze Staffeln Armes/Dickes/Hartes Deutschland. Fast scheint es, als würde sich die Welt wirklich nur im Privatprogramm nicht weiterdrehen."
+++ Wie Intendant Norbert Himmler das ZDF umbauen will, erzählt er im Interview mit dwdl.de. Durch eine zentralere Planung wolle man die Ausspielung immer stärker auf online ausrichten. "Tatsächlich ist die Mediathek in Zukunft das ZDF. [...] Diese App ist das Dach, unter dem sich alles versammelt, auch unsere Sendermarken."
+++ Taylor Swift hat ihre Unterstützung für Kamala Harris verkündet. Für die "SZ" "könnte das nun ein entscheidender Moment in diesem Wahlkampf sein, der mehr als jeder frühere vom Pop geprägt ist".
Das Altpapier am Freitag schreibt René Martens.