Kolumne: Das Altpapier am 27. November 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab 5 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 27. November 2024 Selbstbestätigung ist auch keine Lösung

27. November 2024, 08:20 Uhr

X mag im Eimer sein – aber ist die Alternative BlueSky zu wenig diskursiv und zu bubbleig? Die deutsche Lokalzeitungslandschaft mag keine Wüste sein – aber entwickelt sich langsam zur Steppe. Und Springer macht wieder Dinger und baut um. Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
Bildrechte: MEDIEN360G

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Ein Plädoyer gegen die Kuscheligkeit

Was nicht neu ist: dass viele Menschen sich in ihrer eigenen Weltanschauungsbubble am wohlsten fühlen. Kognitive Dissonanz wird eher vermieden, Selbstbestätigung eher gesucht. Das war schon so, als die konservativeren Knochen lieber zur, zum Beispiel, FAZ griffen und die liberaleren Nasen eher zur SZ. taz-Redakteur Christian Jakob hat nun inhaltliche und Userschafts-Unterschiede zwischen X, formerly known as Twitter, und BlueSky dargestellt, am Beispiel der Reaktionen auf einen Auftritt des Grünen-Spitzenkandidaten Robert Habeck bei "Caren Miosga":

"Bei Bluesky waren viele schwer von dem 'eloquenten' Grünen 'beeindruckt', hashtaggten sich mit #TeamHabeck. Miosga habe beim Versuch, Habeck bloßzustellen, 'versagt'. Habeck sei einer der wenigen Politiker Deutschlands, die Verantwortung übernehmen, ehrlich kommunizieren und Kanzler 'kann'. (…) Auf Twitter hingegen war es wie in der dunklen Paralleldimension der Netflix-Serie 'Stranger Things': In ihr sind die gleichen Dinge, aber sie sind komplett verdüstert und bedrohlich überzogen von einer Art radioaktivem Staub. Unter dem Hashtag ­#Miosga wurde sich über den Talk ausgekotzt. Habeck galt als der 'gefährlichste Politiker Deutschlands', als 
'unverschämt', 'unerträglich', 'Clown', 'Versager'. ­Miosga habe sich ihm angebiedert und der ÖRR habe, wie üblich, 'versagt', weil niemand da war, um 'seine Lügen zu unterbrechen’."

Anders gesagt, bei X war alles langweilig und auch eklig wie immer, wenn sich irgendwo ein Grüner äußert; bei BlueSky spürte man dagegen Kamala-Harris-Vibes. Jakobs Beispiel ist gut gewählt, weil es so deutlich ist. Der Preis dafür ist die Verallgemeinerung eines Einzelbeispiels. Schauen wir uns seine These an:

"(D)ie Lager sind heute so derart polarisiert, dass ein liberal-demokratisches Milieu auf Bluesky viel zu schnell vergisst, wie viele 'die anderen' heute sind, wie groß deren Ablehnung progressiver Positionen ist. Wer nur von seinesgleichen liest, bekommt ein gefährlich stark verzerrtes Bild der Meinungsrealität, merkt das aber nicht mehr. Die Folge ist absehbar: Entwicklungen werden unterschätzt oder ganz übersehen. (…) Doch wer verpasst, wie sich Stimmungen wandeln, verliert die Fähigkeit zur Intervention."

Man könnte ein Plädoyer daraus ableiten, auf beiden Plattformen vertreten zu sein. An Meinungen über den Ex-Twitter-Exodus, kurz X-Odus (Altpapier, Altpapier), mangelt es allerdings nicht – und auch zu diesem Text gab es Widerspruch.

Dass Meinungsbildung nicht nur über Mikroblogging-Plattformen funktioniert, ist eines der Argumente.

Eine Lanze für BlueSky

Der Journalist Quentin Lichtblau bricht in seinem Substack-Newsletter dagegen eine Lanze für den Wechsel zu BlueSky. Zum einen, schreibt er, rieche es dort mittlerweile durchaus nach inhaltlicher Auseinandersetzung: "Hoffnungsvoll stimmt mich auch, dass mittlerweile viele Leute da sind, deren Meinung ich verlässlich nicht teile". Inhaltlich sinnvolle Diskussionen kann man X dagegen wirklich nicht grundsätzlich unterstellen.

Zum anderen schreibt Lichtblau, und das ist die Gegenthese zu Christian Jakob:

"Nach allem, was man mittlerweile über Trolle jeder Art weiß, leben sie nicht zuletzt von der Empörung der Gegenseite. Man schwächt sie nicht durch Präsenz auf deren Plattformen und permanenten, sie reproduzierenden Widerspruch, sondern durch das Ignorieren ihrer Bullshit-Inhalte und – noch wichtiger – einen Gegenentwurf."

Das Schöne ist, dass man sich gar nicht entscheiden muss, wer in dieser Debatte Recht hat. Es haben ja beide ihre Punkte. Man sollte das Geschäftsmodell eines Trump-Beraters nicht unreflektiert bedienen. Und die oft hasserfüllten Reaktionen, die man bei X mittlerweile auf jedes zweite dahergelaufene Posting bekommt, sind auch nicht mit einer Meinungsäußerung zu verwechseln, die irgendetwas voranbringt.

Aber man sollte sich auch nicht darauf verlassen, dass man allzu viel von der Welt kennt, wenn man vorrangig auf der Plattform der eigenen Wahl unterwegs ist. Wenn BlueSky nicht derart für die Welt gehalten würde wie einst Twitter (das schon Stimmungen und auch die journalistische Agenda beeinflusste, als es noch nicht X war), wäre etwas gewonnen. Das ist, etwas weitergedreht, Christian Jakobs Punkt, und damit hat er jedenfalls einen.

Nachrichtensteppen, aber keine -wüsten

In vielen Landkreisen gab’s früher mal mehrere konkurrierende Regional- oder Lokalzeitungen. Die Zahl der sogenannten Einzeitungskreise ist seit 1992 aber gestiegen, wie eine neue Studie zeigt.

Ob man in Deutschland deshalb von Nachrichtenwüsten sprechen kann? Christian-Mathias Wellbrock und Sabrina Maaß von der Hamburg Media School haben "untersucht, wie sich die Situation der Tageszeitungen seit der deutschen Wiedervereinigung verändert hat und welche Folgen eine Schwächung der Lokalpresse für das demokratische Gemeinwesen in Deutschland haben könnte". Sie schreiben, ihre Studie, "Wüstenradar" genannt, schließe hier eine Lücke.

Ein Ergebnis (pdf, Seite 14):

"Die Daten zeigen, dass es in Deutschland noch keine Nachrichtenwüsten auf Landkreisebene gibt. Sie illustrieren aber auch, dass es einen deutlichen Rückgang in der Anzahl der wirtschaftlich unabhängigen lokaljournalistischen Tageszeitungen im Bundesgebiet gibt. Zu Beginn des Studienzeitraums waren insgesamt im Schnitt 2,26 unabhängige lokale Tageszeitungen pro Landkreis zu beobachten, 2023 waren es nur noch 1,83. Im selben Zeitraum ist die Anzahl der sogenannten Einzeitungskreise von 134 auf 187 angestiegen. Waren 1992 noch 33,5 % der Kreise und kreisfreien Städte Einzeitungskreise, so waren es 2023 46,75 %."

Sind das gute News? Sicher nicht. Aber Christian Meier deutet sie in der "Welt" auch nicht als Katastrophe, sondern erkennt eine durchaus robuste Zeitungspublizistik. Er verweist auf den Vorschlag der Forscherinnen und Forscher, statt von Nachrichtenwüsten von einer lokaljournalistischen "Versteppung" zu sprechen, die vor allem den Osten und äußersten Westen des Landes betreffe. Ein publizistischer Bankrott, schreibt Meier, sei aber herbeigeredet – weshalb er den Ruf nach Subventionen und der Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Journalismus, den er vor allem links-grün-orientierten Medienpolitikern zuordnet, nicht mitruft.

Er meint:

"Es darf zumindest spekuliert werden, dass der Ruf nach Subventionen für Medienunternehmen fast immer mit einer größtmöglichen Schwarzseherei einhergeht, was die derzeitige oder künftige wirtschaftliche Lage von Medienunternehmen angeht. Wer Gemeinnützigkeit und Staatsgeld fordert, sieht die Vitalität wie die Qualität deutscher Zeitungen in der Regel an einem Tiefpunkt angekommen."

An der Stelle könnte man nun sicher auch länger über gewisse Forderungen von Verlagslobbyisten reden, aber huch, was ist das?

Springer macht Dinger

Klingeling, dpa-Eilmeldung: Bei Axel Springer wird umgeräumt. Aber weil das nicht zum ersten Mal passiert, die Worte jedoch eigentlich dort immer von der größeren Sorte sind, ist man erst einmal geneigt, sie gedanklich herunterzuskalieren. Man liest in der Konzernmitteilung Worte wie: "Premium-Gruppe". "Kompetenzcenter". "Beginn einer neuen Relevanz". "Labor für journalistische Innovationen". Und ist tatsächlich schon fast weggedöst…

… da erscheint am Dienstagabend gerade noch rechtzeitig die "Süddeutsche". Moritz Baumstieger, der "sich bei der Lektüre der Zeilen an die Welt von Immobilienmaklerfirmen und KfZ-Versicherungen erinnert" fühlt, biegt darin mit der Ansage um die Ecke, es gehe um "die wohl tiefgreifendste der sich in den vergangenen Jahren häufenden Umstrukturierungen im Springer-Konzern" (Abo-Text).

(Eine weitere robuste Einschätzung gibt’s (Abo-Text) beim "Medieninsider": "Mathias Döpfner definiert den Begriff der Deutschen Einheit neu", "Maßnahmen mit weitreichenden Veränderungen" usw.)

In Kürze: Ulf Poschardt gebe die Chefredaktion der "Welt"-Gruppe an Fernsehchef Jan Philipp Burgard ab und werde Herausgeber. Allerdings nicht nur Herausgeber der "Welt" – das ist der Mitteilung zufolge bis zum Jahreswechsel noch Stefan Aust –, sondern einer Gruppe, die man in aller Bescheidenheit eben "Premium-Gruppe" nennt. Dazu sollen die "Welt", "Politico Deutschland" und "Business Insider Deutschland" gehören, die aber "publizistisch eigenständig" bleiben sollen.

Was genau so tiefgreifend ist, wird auch nach der unterhaltsamen "SZ"-Lektüre nicht hundertprozentig klar, aber was tiefgreifend sein könnte, ist zum einen die Verzahnung verschiedener Unternehmenskulturen. Zum anderen, dass "ein starker Fokus" auf dem "Ausbau KI-unterstützter Prozesse" liegen soll. Baumstieger:

"Dass Restrukturierungen, ganz egal in welcher Branche und in welcher Firmengruppe, in den allermeisten Fällen eher keinen Personalaufbau zum Ziel haben, wissen natürlich auch die Angestellten der Axel Springer SE."

Sorgenvoll geäußert hat sich deshalb selbstredend der Deutsche Journalisten-Verband. Die andere Sorge, die zum Ausdruck kommt, besteht darin, dass KI nicht grundsätzlich nach Journalismus klingt, weil immer auch inhaltliche Prozesse gemeint sein könnten. Da ist es natürlich gut, dass von Springer-Chef Mathias Döpfner nicht nur ein PR-Begriff wie "Gründungsmoment", sondern auch ein "entschiedenes Bekenntnis zum Qualitätsjournalismus" als Zitat kursiert. Es wird ihm schon keine KI formuliert haben.


Altpapierkorb (Buch-PR und Merkels Medienstrategie, Deutschlandfunk, ÖRR-Klage und -Reform, "Die 100", Holger Friedrich vs. "Spiegel", "Blättle" für "Kontext")

+++ "Kostenlose Werbung" für Angela Merkels Buch in der "Zeit" (Altpapier vom Montag) kritisiert Altpapier-Autorin Johanna Bernklau bei "Übermedien" (Abo): "Angela Merkel breitet auf drei sehr großen 'Zeit'-Seiten komplett unhinterfragt ihre Sichtweise auf 16 Jahre Kanzlerschaft aus. Es ist absurd: Sie wird zum Titelthema der 'Zeit', ohne sich in irgendeiner Art und Weise Journalisten stellen zu müssen."

+++ Apropos: Mit Angela Merkels Medienstrategie beschäftigte sich die Mediensendung "@mediasres" des Deutschlandfunks

+++ Der Deutschlandfunk selbst wurde, seiner anstehenden Programmreform wegen, Thema in einem Beitrag von Volker Nünning auf den Seiten von verdi.de.

+++ Helmut Hartung formuliert in der FAZ (Abo) eine These zur Reform der Öffentlich-Rechtlichen und deren Ankündigung, nach Karlsruhe zu ziehen (Altpapier):"Die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts einen Tag vor der Beratung der Rundfunkkommission lässt nur den Schluss zu, dass die Intendanten auf Widersprüche zwischen den Ländern setzen und hoffen, dass sie sich nicht auf eine neue Methode, den Rundfunkbeitrag festzusetzen, einigen."

+++ Ebenfalls in der FAZ (Abo) geht es um die ARD-Sendung "Die 100", die wegen einer anderen Ausgabe allerhand Aufmerksamkeit erregte (siehe etwa "Übermedien" vom September). Diesmal geht’s um die Sendung zur Schuldenbremse. Beklagt wird, "ein gewisses Framing ließ sich für Zweifler an der Neutralität der ARD" erkennen. Was wohl die dazu meinen, die die Neutralität der Zweifler an der Neutralität der ARD bezweifeln?

+++ Den "eigentümlichen Kampf" von "Berliner Zeitung"-Verleger Holger Friedrich gegen den "Spiegel" seziert Stefan Niggemeier bei, ebenfalls, "Übermedien" (Abo).

+++ Kleiner Beitrag wider die Versteppung der lokaljournalistischen Landschaft: Der Verein hinter der "Kontext-Wochenzeitung" übernimmt die anzeigenfinanzierten Stuttgarter Stadtteilzeitungen "Blättle-West" und "Blättle-Süd" – "als Antwort auf die Lücken in der Stuttgarter Presse", wie es bei "Kontext" heißt.

Am Donnerstag schreibt das Altpapier Ralf Heimann.

Mehr vom Altpapier

Kontakt