Eine russische Atomrakete vom Typ Topol-M bei einer Militärparade auf dem Roten Platz
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Atommacht Russland Mit deutscher Hilfe: So kam Russland zu seinen Atomwaffen

11. April 2022, 18:01 Uhr

1949 zündet die Sowjetunion ihre erste Atombombe. In der Folge beginnt das nukleare Wettrüsten mit den USA. Einen großen Anteil daran hatten deutsche Forscher und Uran aus dem Erzgebirge. Heute hat Russland Tausende Atomwaffen: Das nukleare Arsenal wird auf rund 6.255 Sprengköpfe geschätzt. Damit ist Russland die weltgrößte Atommacht, dahinter folgen die USA.

Der Soldat Georgi Nikolajewitsch Fljorow war nicht gemacht für den Todeskampf Mann gegen Mann. Der 29-jährige war Atomphysiker. Und so zog er sich im Frühjahr 1942 in die Universitätsbibliothek von Woronesch zurück, 500 Kilometer südlich von Moskau, als die deutschen Invasoren nach der verlorenen Schlacht um Moskau kurz Luft holen mussten.

Fehlende Forschungsergebnisse als Beweise

Dort blätterte Fljorow durch wissenschaftliche Magazine, um die Ergebnisse seiner britischen und amerikanischen Kollegen auf dem Feld der Atomphysik zu studieren. Doch zu seinem Erstaunen fand er: nichts. Seit 1940 hatte kein einziger westlicher Forscher neue Ergebnisse veröffentlicht. Fljorow ahnte sofort, warum: die Alliierten bauten bereits an einer Atombombe.

Fljorow selbst hatte kurz vor dem Krieg das Phänomen des spontanen radioaktiven Zerfalls entdeckt. Er und seine Kollegen dachten damals bereits über die Möglichkeit einer atomaren Explosion als Waffe nach. Jedoch wäre die Konstruktion einer solchen Atombombe erst in 50 Jahren möglich, mutmaßten sie.

Sowjetisches Spionagenetzwerk im Westen

Hastig schrieb Fljorow einen Brief nach Moskau, an den Diktator Josef Stalin persönlich. Doch der wusste bereits Bescheid. Wenige Monate zuvor hatte der sowjetische Militär-Geheimdienst GRU den nach England emigrierten deutschen Kernphysiker Klaus Fuchs angeworben, der am britischen Atomprogramm forschte.

1943 heuerte Fuchs bei den Amerikanern an. Die hatten ein Jahr zuvor in der Wüste von New Mexico eine gigantische Forschungseinrichtung eröffnet: Los Alamos. Durch diese und dutzende weitere Quellen, die die Sowjets anwarben, wurde Moskau klar, dass hier an der ersten Atombombe der Welt geforscht wurde: dem "Manhattan Project".

Atomprogramm für die Nachkriegsordnung

Die Sowjetunion hatte die Atomforschung kurz vor Kriegsbeginn nahezu aufgegeben, wodurch diese dem Westen Jahre hinterher hinkte. Durch den Vernichtungskrieg der Deutschen wurden alle Kräfte für die konventionelle Waffenproduktion gebraucht. Doch nach dem Sieg bei Stalingrad Ende 1942 rückte das Atomwaffenprogramm wieder in den Fokus der Führung. Denn Stalin dachte bereits an die Nachkriegsweltordnung. Ohne eine eigene Bombe könnten die Sowjets den USA darin kein Paroli bieten.

So befahl Stalin bereits im September 1942 die Bildung eines staatlichen Uran-Komitees. In der Akademie der Wissenschaften in Moskau wurde das geheime "Laboratorium Nummer 2" eingerichtet. Leiter wurde der Atomphysiker Igor Kurtschatow, hinzu kamen 24 weitere Wissenschaftler. Darunter auch Georgi Fljorow, der die fehlenden Publikationen entdeckt hatte. Das gesamte Programm wurde Stalins rechter Hand unterstellt, dem berüchtigt blutrünstigen Geheimdienstchef Lawrentij Berija.

Atombombenabwurf bringt UdSSR in Zugzwang

Als die Alliierten und die Sowjets am 24. Juli 1945 in Potsdam zur Siegerkonferenz zusammenkamen, nahm US-Präsident Harry S. Truman Stalin beiseite. Die USA hätten eine neue Wunderwaffe, mit der man Japan sofort besiegen könne, erklärte er. Stalin zeigte Zeitzeugen zufolge keinerlei Regung auf die vermeintliche Offenbarung.

Wenigen Wochen später warfen die USA über Hiroshima und Nagasaki die ersten Atombomben ab. Die Machtdemonstration zeigte auch in Moskau Wirkung. Bis 1948 sollten die ersten Tests stattfinden, befahl Stalin dem Leiter des Atomwaffenprogramms Kurtschatow. In Windeseile wurde eine gigantische Infrastruktur für die Atomindustrie errichtet.

Dazu zählte der neue geschaffenen Atomkomplex "Tscheljabinsk-40", wo der Reaktor zur Plutoniumherstellung errichtet wurde. Drumherum entstand eine geheime Wohnstadt. Nahe Nischni Nowgorod entstand mit "Arsamas 16" ein riesiger Komplex an Atomfabriken. Bis 1950 wurden hier 350 Gebäude errichtet. Insgesamt 250.000 Zwangsarbeiter bauten an der Infrastruktur für das Atomprogramm. Zehntausende wurden dabei verstrahlt.

Know How und Rohstoffe aus Deutschland

Jedoch fehlte es den Forschern immer noch an wichtigen Forschungsfortschritten wie der Kettenreaktion. Außerdem gab es in der Sowjetunion nicht genügend Uran für den Bau der Bombe. Doch durch das Kriegsende in Europa wenige Wochen zuvor hatte sich den Sowjets eine neue Chance aufgetan. Denn auch die Nazis arbeiten an einer Atombombe. So flog fast das gesamte Kurtschatow-Institut in den sowjetisch besetzten Teil Deutschlands, um das dortige Atomprogramm zu sichten. Alles, was nützlich erschien, packten die Wissenschaftler ein.

Atomforscher-Exklave in der abchasischen Idylle

Auch auf die deutschen Forscher hatten es die Sowjets abgesehen. So jagte der Vizechef des NKWD, Awramin Sawenjagin, bereits seit Kriegsende persönlich die arbeitslosen Forscher. Diese wurden dann in die Sowjetunion gebracht, wo sie jedoch äußerst zuvorkommend behandelt und mit Geld und Versprechungen zur Zusammenarbeit animiert wurden. Bis zu 300 nahmen das Angebot an, darunter auch der berühmte Forscher Manfred von Ardenne.

Die meisten wurden in einem weitläufigen Komplex im subtropischen Abchasien an der Schwarzmeerküste untergebracht und fürstlich bewirtet. Dafür lebten sie jedoch unter strengen Auflagen, durften das Gelände kaum verlassen und private Korrespondenzen wurden zensiert. Regelmäßig soll Geheimdienstchef Berija den Männern seine Aufwartung gemacht haben und dabei äußerst charmant gewesen sein. Einige arbeiteten bis Mitte der 1950er-Jahre für das Regime.

Sächsisches Uran für Stalins Bombe

So kam das Programm unter deutscher Mithilfe schnell voran und auch das Uranproblem ließ sich mithilfe der einstigen Feinde endlich lösen. Nach monatelanger Suche in den besetzen deutschen Gebieten wurden die sowjetische Geologen im Sommer 1946 im Erzgebirge fündig. Im gleichen Jahr wurde die Wismut AG gegründet, deren Minen mindestens zwei Drittel des Urans für das sowjetische Atomprojekt lieferten.

Mithilfe der amerikanischen Spione, deutscher Wissenschaftler und dem Uran aus dem Erzgebirge bauten die Forscher um Igor Kurtschatow bis 1949 einen detonationsfähigen Sprengkopf. In der kasachischen Steppe, 3.000 Kilometer von Moskau entfernt, hatten Zwangsarbeiter gleichzeitig eine komplette Stadt für den ersten Test nachgebaut.

Beginn des Wettrüstens

Am 29. August 1949 um exakt 06:00 Uhr morgens zündete Semipalatinsk auf dem Testgelände die erste Atombombe der Sowjetunion. Ein Zeitzeuge beschrieb die historische Detonation so:

An der Turmspitze blitzte ein unerträglich helles Licht auf. Für einen Moment wurde es schwächer, dann begann es mit neuer Kraft schnell anzuwachsen. Der weiße Feuerball weitete sich rasch aus, änderte seine Farbe, wurde orange, dann rot.

Der anwesende Geheimdienstchef Berija soll außer sich vor Freude gewesen sein und Kurtschatow auf die Stirn geküsst haben. Später wurde dieser mit dem Titel "Held der Sozialistischen Arbeit" ausgezeichnet, einem der höchsten des Landes. Im Fall eines Scheiterns des Test hingegen wären Kurtschatow und seine Männer von Berija erschossen worden. Der Befehl kam direkt von Stalin. Doch der war nun stolzer Führer der zweiten atomaren Supermacht der Welt. 

Russlands Atomwaffen: Tausende Sprengköpfe

Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 gab es viele Frage. Eine davon: Wohin mit den Atomwaffen, die in den nun unabhängigen Staaten der ehemaligen Sowjetunion lagerten? Das atomare Arsenal der ehemaligen Sowjetunion war zu diesem Zeitpunkt auf vier nun unabhängige Staaten verteilt: Russland, Belarus, Kasachstan und die Ukraine. Nach und nach traten die Staaten ihre Atomwaffen an Russland ab. Die Länder tauschten sie gegen eine Sicherheitsgarantie, einen Schuldenerlass oder gegen Geld. Ende 1996 war Russland schließlich die einzige Atommacht unter den ehemaligen Sowjetrepubliken.

Heute gibt es nach Schätzungen des schwedischen Friedensforschungsinstitutes Sipri weltweit rund 13.000 Nuklearwaffen, davon besitzt Russland die meisten. Das russische Arsenal wird auf rund 6.255 atomare Sprengköpfe geschätzt, das der Amerikaner auf rund 5.550. Die beiden Supermächte besitzen demnach mehr als 90 Prozent der weltweiten Atomwaffen.

Eine frühere Version des Artikels wurde bereits 2017 veröffentlicht.

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