Ein Skulptur steht in einem Innenhof.
Heute ist die Wohnstadt das größte städtische Flächendenkmal Deutschlands. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Eine Stadt für den Stahl Arbeitsleben in Eisenhüttenstadt

18. August 2023, 12:41 Uhr

Am 18. August 1950 begann mit dem symbolischen ersten Axthieb der Bau des für Jahrzehnte größten Arbeitgebers in der Region. In der sozialistischen Musterstadt Eisenhüttenstadt dominiert das Eisenhüttenkombinat Ost das Leben der Menschen. Einst hatte es auch eine nicht zu unterschätzende soziale Funktion in der Stadt. Die Wende stellte hier einen starken Einschnitt dar.

Ein Propagandafilm des DDR-Fernsehens aus dem Jahr 1988 zeigt ein buntes, belebtes Eisenhüttenstadt: Das "Fest der Metallurgen" ist in vollem Gange, eine Kapelle spielt Blasmusik, junge Leute beklatschen die Hochseilnummer einer Motorradartistik-Truppe, ein Clown unterhält kleine und große Kinder. Familie Nagel ist mittendrin: Vater Klaus erklärt seiner Frau und den beiden Kindern am ausgestellten Modell die Funktionsweise einer Walzstraße. Der 35-jährige Metallurge arbeitet im Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) als Schichtleiter.

Man ist geneigt, der sonoren Stimme des Sprechers Glauben zu schenken: "Die ganze Stadt ist auf den Beinen und feiert mit." Feierlich geehrt werden an diesem Tag die Veteranen des Eisenhüttenkombinat Ost: Arbeiterinnen und Arbeiter, die in den 50er-Jahren – als die Stadt noch nach Stalin benannt war – den Aufbau des Werkes und der Stadt mitgestaltet haben.

"Schlösser für unsere Werktätigen"

Die Häuser in den vier Wohnkomplexen der Kernstadt, die in den Jahren 1951 bis 1961 in unmittelbarer Nachbarschaft zum Werk errichtet wurden, unterscheiden sich grundlegend von den später in Mode gekommenen Plattenbauten: Sie waren keine Arbeiterschließfächer, sondern "Schlösser für unsere Werktätigen" – wie eine Losung der damaligen Zeit lautete – mit vergleichsweise großen und komfortablen Wohnungen, fließend Warmwasser und Innentoilette. Die neoklassizistischen Bauten sind umgeben von ausgedehnten Grünanlagen und sollten den Arbeiterinnen und Arbeitern sowie deren Familien ein gesundes und städtisches Leben ermöglichen.

Zu DDR-Zeiten wollten alle nach Eisenhüttenstadt wegen der Neubauten.

Eine alte Eisenhüttenstädterin erinnert sich an die 1960er-Jahre

Heute ist die Wohnstadt das größte städtische Flächendenkmal Deutschlands. Die vier Wohnkomplexe der Kernstadt stehen exemplarisch für das allzu oft uneingelöste Versprechen des Realsozialismus, die Bedürfnisse der werktätigen Bevölkerung angemessen zu berücksichtigen. Wer jedoch die architektonischen und infrastrukturellen Besonderheiten dieser Planstadt unvoreingenommen betrachtet, vermag darin den ernsthaften Versuch zu erkennen, diesem Anspruch gerecht zu werden.

Beruf und Familienleben miteinander versöhnen

Chor des Betriebes
Die Singegruppe des Stahlwerks traf sich regelmäßig. Bildrechte: Deutsches Rundfunkarchiv

Die enge Zusammenarbeit von Stahlwerk und Stadt war zweifellos für viele Bereiche des städtischen Lebens prägend und kam keineswegs nur den Werktätigen des EKO zugute. Laut Wolfgang Engler, Soziologe und Autor des viel diskutierten Buches "Die Ostdeutschen als Avantgarde", liegt darin die soziale Funktion der ostdeutschen Großbetriebe, die streng genommen im Widerspruch zu deren wirtschaftlichem Zweck stünde: "Sie verhöhnten die elementarsten ökonomischen Notwendigkeiten, aber sie setzten die Menschen in den Stand, Beruf und Familienleben miteinander zu versöhnen, regten ihre kulturellen Interessen an und trugen den sozialen Austausch weit über die Grenzen der Arbeitswelt hinaus." Engler weist darauf hin, dass in der DDR zahlreiche Einrichtungen der sozialen Infrastruktur - beispielsweise Polikliniken oder Kindergärten sowie Bibliotheken und weitere kulturelle Angebote - "in die Arbeitssphäre eingelassen waren".

Zahllose Freizeitangebote für die Stahlwerker in der Vorzeigestadt

Das Beispiel Eisenhüttenstadt hatte auch in dieser Hinsicht Vorbildfunktion für die gesamte Republik: Im kombinatseigenen "Clubhaus der Hüttenwerker" konnten die Hobbykünstler unter den Einwohnern ihre Kreativität in sage und schreibe 23 Zirkeln und Arbeitsgemeinschaften ausleben. Während beispielsweise Töpferkurse besonders bei den Frauen beliebt waren, schulten überraschend viele Männer ihr ästhetisches Empfinden im Rahmen der "AG Fotografie".

Auch die Freizeitsportler konnten sich keineswegs über mangelnde Wahlmöglichkeiten beklagen: Die Betriebssportgemeinschaft Stahl Eisenhüttenstadt hatte bis zu 50 verschiedene Sportarten im Angebot. Die vom Trägerbetrieb besonders geförderte 1. Herrenmannschaft der Fußballer spielte zeitweilig sogar in der Oberliga.

Die Arbeiterinnen und Arbeiter wussten neben den zahlreichen Freizeitangeboten, der guten Infrastruktur und den weiteren sozialen Einrichtungen des EKO wie etwa der Betriebspoliklinik, der Kindergärten und Erholungsheime auch die guten Arbeitsbedingungen zu schätzen – und sie waren nicht zuletzt stolz darauf, die gesamte DDR mit Eisen und Stahl zu versorgen. Der Metallurge Klaus Nagel äußert ganz am Ende des Propagandafilms jedenfalls den Wunsch, "dass es genauso wie bisher weitergehen" möge. Tatsächlich werden nicht wenige seiner Kollegen ähnlich empfunden haben.

Trauma nach der Wende: Arbeitslosigkeit

Eisenhüttenkombinat Ost - Blick über die Wohnblocks auf das EKO vor 1989.
Das Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) war jahrelang der wichtigste Arbeitgeber in der Region um Eisenhüttenstadt. Mit der Wende war die Zukunft des erfolgreichen Betriebes plötzlich ungewiss. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Umso traumatischer haben die meisten Werktätigen des EKO die Wende erlebt: 9.000 von ihnen verloren ihre Arbeitsplätze, deren Bestand ihnen bisher als sicher galt. Arbeitslosigkeit war in der DDR ein Fremdwort - nun wurde es zu einer Realität. Unvermittelt brachen bald auch die meisten Kultur- und Freizeitangebote weg. Etwa die Hälfte seiner Einwohner hat Eisenhüttenstadt seit 1989 verloren. Die Wende war zweifelsohne ein Bruch in der Geschichte der Stadt und ein Bruch in den Biographien ihrer Bewohner. Die Stahlwerker hatten allen Grund, sich als Wendeverlierer zu fühlen: "Ich habe mein Geld verdient, ich habe meine Datsche gehabt, ich habe meinen Wagen gefahren. Von mir aus hätten sie die Wende nicht machen brauchen." So beschreibt der damals 36-jährige Gerald Pöthke, ehemals Schlosser im Eisenkombinat Ost, im Jahr 1992 seine Sicht der Dinge. Sein Freund Kurt, ebenfalls arbeitsloser Stahlwerker, pflichtet ihm bei: "Bis zur Wende ging alles einwandfrei. Doch dann: voll rapide abwärts."

Das gesamte Leben änderte sich 1990

Die Wirren dieser Zeit hat die Autorin Sabine Rennefanz während ihrer Jugend in Eisenhüttenstadt durchlebt. Das Lebensgefühl in ihrer damaligen Heimatstadt beschreibt sie in einem Interview: "In Eisenhüttenstadt herrschte eine Atmosphäre der Angst. Die Stadt lebte ja von einem Stahlwerk. Nach der Wende war nicht klar, wie lange noch. Tausende wurden entlassen, Fabriken machten dicht. Wenn doch ein Investor kam, wusste man nicht, ob er die Firma übernehmen oder nur plattmachen wollte." Die allgemeine Unsicherheit und die Zukunftsängste betrafen demnach nicht allein die Werktätigen des EKO, sondern häufig auch deren Kinder. "Die stille Wut der Wendegeneration" ist für Rennefanz das Ergebnis einer allgegenwärtigen Ohnmacht: "Die Eltern fielen als Ansprechpartner weg. Genau wie die Lehrer. Ich kann mich nicht erinnern, dass auch nur einer mit uns über den Mauerfall gesprochen hätte. Der wurde nicht eingeordnet. Die meisten waren deprimiert oder gelähmt und nicht in der Lage, auf uns Pubertierende einzugehen."

In guten Händen

1994 übernahm schließlich der belgische Stahl-und Maschinenbaukonzern Cockerill-Sambre den Betrieb und ermöglichte durch eine umfassende Modernisierung der Anlagen die Fortsetzung der Eisen-und Stahlproduktion in Eisenhüttenstadt. Noch heute ist das Werk der größte Arbeitgeber in der Stadt, wenngleich die aktuell 2.500 Beschäftigten nur einen Bruchteil der einstigen Belegschaft darstellen. Nach diversen Fusionen gehört das Werk heute zum internationalen Konzern ArcelorMittal – dem größten Stahlproduzenten der Welt. "Also sind wir in guten Händen." So äußerte sich der langjährige Stahlwerker Manfred Groß 2009. Seit 1954 hatte Groß ununterbrochen am EKO gearbeitet. Auch die Entlassungswellen der Wendezeit hatten ihn nicht getroffen. Noch angesichts seiner Versetzung in den Ruhestand war ihm der Fortbestand des Stahlwerks in Eisenhüttenstadt eine Herzensangelegenheit: "Die Politik muss die Rahmenbedingungen schaffen, dass das Kapital mit uns nicht machen kann, was es will."

Zitate aus:

"Impressionen aus Eisenhüttenstadt", DEFA-Studio für Dokumentarfilme 1988; "Ick will meine Ruhe wieder", Spiegel 19/1992; "Zuhause fanden wir keinen Halt". Interview mit Sabine Rennefanz, Die Zeit 10/2013; "Wahlfahrt: Politikfreie Zone an der Eisenhütte". Spiegel Online 2009

Dieser Artikel erschien erstmals im September 2013.