Zeitgenössische Aufnahme des deutschen Literatur- und Kulturkritikers und Essayisten Walter Benjamin.
Der Philosoph, Publizist, Übersetzer und Literaturkritiker Walter Benjamin gilt seit den frühen 1960er-Jahren als einer der bedeutendsten deutschen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Bildrechte: picture alliance/dpa | Heinzelmann

Klassikerlesung | 11.09. - 29.09. 2023 Walter Benjamin: "Frische Feigen" und andere Prosa

08. September 2023, 04:00 Uhr

Walter Benjamin gilt seit den frühen 1960er-Jahren als einer der bedeutendsten deutsch-jüdischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Als Philosoph, Publizist, Übersetzer und Literaturkritiker machte er sich einen Namen. In seinen Büchern widmete sich Walter Benjamin verschiedenen Themen in einer von Metaphern angereicherten Sprache. In dieser Lesung hören Sie unter anderem Reiseberichte über Neapel und Marseille, wo Benjamin mit Haschisch experimentierte. Andere Texte drehen sich um Genüsse wie die von "frischen Feigen" oder "Borschtsch", es geht um das Sammeln, um die Kindheit, um das Träumen ... Und immer erzählen Benjamins Beobachtungen auch etwas über sein Leben. Es liest Daniel Minetti.

Walter Benjamin war neugierig

Wenn Walter Benjamin verreiste, bewegte er sich wie ein Flaneur durch die fremden Städte und Landschaften. Vielleicht kann man sagen: Er atmete eine Stadt über seine Schritte ein. Er verfasste einige "Städtebilder" und besonders viel schrieb er über Paris, wohin ihn die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ins Exil zwang. Bis zu seinem Lebensende arbeitete er hier am "Passagen-Werk", Benjamins großes Buch über Paris und gleichzeitig sein Entwurf einer materialen Geschichtsphilosophie.

Das Porträt über Neapel verfasste er um 1925 zusammen mit der lettischen Schauspielerin, Regisseurin und Theaterleiterin Asja Lācis, mit der er auch eine Liebesbeziehung hatte, und die ihn mit Bertolt Brecht bekannt machte. 1925 hielt sich Benjamin mehrere Wochen am Golf von Neapel auf, in Capri. Hier traf er auch Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer.
In dem Text "Nordische See" findet Benjamin bis heute gültige Worte zum nordischen Design:

Die Dinge sind blank: Holz ist Holz, Messing ist Messing, Ziegel Ziegel. Sauberkeit treibt sie in sich zurück, macht sie mit sich bis ins Mark identisch. So werden sie stolz, wollen draußen nicht viel.

Walter Benjamin in "Nordische See"

Bekannt sind seine Texte über Marseille. Als Benjamin in jungen Jahren in die Stadt am Mittelmeer reiste, waren es Reisen der Neugier. Er beschrieb die Lautstärke, die Sprache, die Menschen – und hier experimentierte der Schriftsteller mit Haschisch. Die spätere Reise nach Marseille im Jahr 1940 war eine verzweifelte. Erfolglos versuchte Walter Benjamin hier Papiere für die Ausreise nach Amerika zu bekommen. Er machte sich zu Fuß illegal auf den Weg über die Pyrenäen nach Spanien. An dem Grenzübergang in Portbou angekommen, erfuhr er, dass auch sein bis dahin gültiges Transitvisum ungültig geworden war. Entkräftet und ohne Hoffnung setzte Walter Benjamin seinem Leben mit nur 48 Jahren ein Ende.

Die Lesung steht hier bis zum 8. September 2024 zum Hören und Download bereit

Marseille in den 20er Jahren 27 min
Bildrechte: imago/United Archives International
Marseille in den 20er Jahren 28 min
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Marseille in den 20er Jahren 28 min
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Marseille in den 20er Jahren 28 min
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Walter Benjamin war ein Beobachter

Walter Benjamin beobachtete sich selbst, die Menschen, die Städte, die Dinge. In dem der Klassikerlesung titelgebenden Text "Frische Feigen" hält er uns den Spiegel vor, mit der Beschreibung eines sehr menschlichen Gebarens – denn das hat womöglich jeder Mensch schon einmal gespürt, wenn einen die Gier nach einem Geschmack überfällt:

Der hat noch niemals eine Speise erfahren, nie eine Speise durchgemacht, der immer Maß mit ihr hielt. So lernt man allenfalls den Genuss an ihr, nie aber die Gier nach ihr kennen, den Abweg von der ebenen Straße des Appetits, der in den Urwald des Fraßes führt.

Walter Benjamin in "Frische Feigen"

Benjamin betrachtet Schießbudenscheiben und fragt sich, wer sich die opulenten Bilder ausdenkt, die darauf zu sehen sind. Er schaut auf Briefmarken, Kinderspielzeug, Fassadenbeschriftungen und darauf, wie die Waren in einem Laden angeordnet sind. Seine Art zu sehen ist wie seine Art zu denken: Immer überschreitet er Grenzen, wissenschaftliche Disziplinen, verbindet weit auseinanderliegende Themen, synergiert.

Walter Benjamin war ein Sammler

In seinem "Passagenwerk" notierte Walter Benjamin: "Es ist beim Sammeln das Entscheidende, dass der Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst wird, um in die denkbar engste Beziehung zu seinesgleichen zu treten. Diese ist der diametrale Gegensatz zum Nutzen und steht unter der merkwürdigen Kategorie der Vollständigkeit." Ein Sammler rettet nach Walter Benjamins Auffassung die Objekte seines Begehrens aus dem Kreislauf der fetischhaften Warenwelt des Kapitalismus.

Benjamin sammelte zum Beispiel Kinderbücher. Er besaß an die 200 Werke aus dem 18. bis 20. Jahrhundert. In ihnen sah er etwas aus vergangenen Zeiten bewahrt, etwas, das nicht vom Fortschritt überformt wurde. Vom Glück des Suchens und Findens erzählt sein Text "Ich packe meine Bibliothek aus – Eine Rede über das Sammeln".

Schriftsteller sind eigentlich Leute, die Bücher nicht aus Armut sondern aus Unzufriedenheit mit den Büchern schreiben, welche sie kaufen könnten, und die ihnen nicht gefallen. Das werden Sie, meine Damen und Herren, für eine schrullige Definition des Schriftstellers halten; schrullig aber ist alles, was aus dem Sehwinkel eines echten Sammlers gesagt wird.

Walter Benjamin in: Ich packe meine Bibliothek aus – Eine Rede über das Sammeln"

Blick in eine Ausstellung mit Teilen von Walter Benjamins Büchersammlung
Blick in eine Ausstellung mit Teilen von Walter Benjamins Büchersammlung Bildrechte: picture alliance / dpa

Walter Benjamin war ein Träumer

Träume waren wichtig für Walter Benjamin: Er war ein fleißiger Träumer und auch ein Theoretiker von Träumen. Und er kannte natürlich die Surrealisten und ihre Inspiration durch das Traumhafte und Unbewusste, er schrieb darüber den Aufsatz: "Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz".

Benjamin notierte seine Träume, einige davon sind in der Klassikerlesung zu hören. In seinen Träumen trifft er Goethe, kehrt in seine Kindheit zurück und berichtet von rätselhaften Begegnungen und Vorgängen. Und er warnt: Das Frühstück verkörpere den Bruch zwischen Nacht- und Tagwelt:

Eine Volksüberlieferung warnt, Träume am Morgen nüchtern zu erzählen. Der Erwachte verbleibt in diesem Zustand in der Tat noch im Bannkreis des Traumes.

Walter Benjamin in "Frühstücksstube", aus "Einbahnstraße"

Weitere Eckdaten aus dem Leben Walter Benjamins

Walter Benjamin wurde am 15. Juli 1892 in Berlin geboren, seine Familie gehörte dem assimilierten Judentum an. Er studierte Philosophie, deutsche Literatur und Psychologie, promovierte mit "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik". Der Versuch, mit "Ursprung des deutschen Trauerspiels" an der Frankfurter Universität zu habilitieren, scheiterte jedoch. Eine Laufbahn an der Universität blieb ihm verwehrt. Er lebte als Schriftsteller, Journalist, Kritiker, Übersetzer. Benjamin hatte Kontakt mit vielen Intellektuellen seiner Zeit, u. a. mit Gustav Wyneken, Gershon Scholem, Bertolt Brecht, Theodor W. Adorno, Siegfried Krakauer, Ernst Bloch, Hannah Arendt, Asja Lācis, Franz Hessel.

Der Sprecher Daniel Minetti

Daniel Minetti, 1958 in Berlin-Friedrichshain geboren, studierte nach dem Abitur an der Staatlichen Schauspielschule Berlin. 1981 gab er sein Schauspieldebüt am Dresdner Staatstheater.

Es folgten Bühnentätigkeiten an verschiedenen Berliner Bühnen, etwa der Volksbühne Berlin, dem Maxim-Gorki-Theater und dem Hebbel Theater, ehe er 1995 wieder ans Staatsschauspiel Dresden kam, wo er bis 2009 zum Ensemble gehörte. Seit 2010 ist er am Theater Krefeld und Mönchengladbach engagiert. Neben seiner Bühnentätigkeit arbeitet Minetti als Fernsehschauspieler sowie Sprecher für den Rundfunk.

Der Schauspieler Daniel Minetti
Der Schauspieler Daniel Minetti Bildrechte: MDR/ Stephan Flad

Angaben zur Sendung

MDR KULTUR Klassikerlesung
11.09. - 29.09. 2023
Walter Benjamin: "Frische Feigen" und andere Prosa (15 Folgen)
Es liest: Daniel Minetti

Produktion: MDR 2011

Sendung im Radio: 11.09. - 29.09. 2023 | Montag bis Freitag 15:10 Uhr

Die Lesung steht hier bis zum 8. September 2024 zum Hören und Download bereit.
Die 15 im Radio ausgestrahlten Folgen sind online in 8 halbstündige Teile zusammengefasst.

Marseille in den 20er Jahren
Marseille in den 20er Jahren - zu der Zeit, als auch Walter Benjamin die Stadt am Mittelmeer besuchte und hier einen Selbstversuch mit Haschisch unternahm. Bildrechte: imago/United Archives International

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR Lesezeit | 11. September 2023 | 15:10 Uhr