Fetales Alkoholsyndrom Pflegeeltern von FAS-Kindern müssen um Unterstützung kämpfen
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09. September 2024, 09:55 Uhr
Es ist oft ein langer Weg, ehe Pflege- oder Adoptiveltern überhaupt herausfinden, dass ihr Kind an der fetalen Alkoholspektrumstörung FAS leidet. Die Schäden, hervorgerufen durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft, bleiben oft ein Leben lang. Und: Immer wieder gibt es Probleme bei der Anerkennung der Behinderung und dem Erhalt von Hilfe für die Kinder.
- Fetales Alkoholsysndrom in Deutschland nicht als Behinderung anerkannt
- Johny braucht im Alltag immer einen Begleiter
- Pflegeeltern verlassen sich nicht auf staatliche Unterstützung
Die Tastatur ist von einem grellen Lichtstreifen in allen Farben umgeben. Davor sitzt Johny und zockt Roblox. Auf den ersten Blick wirkt das Kind wie ein normaler Junge, der am Computer spielt. "Das Doofe ist, ich habe locker schon fünf Tastauren kaputt gemacht", sagt der Zwölfjährige und wird rot. Er hat das "Fetale Alkoholsyndrom" (FAS), eine Krankheit. Doch häufig wird diese nicht offiziell anerkannt. Was oft zu weiteren Schwierigkeiten führt.
FAS ist die fatale Folge für Kinder, wenn ihre Mütter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben. Rund 10.000 FAS-Babys kommen pro Jahr mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen zur Welt. Oft bleiben die Schäden ein Leben lang.
Abhängig vom Zeitpunkt und Menge des Alkoholkonsums der Mutter während der Schwangerschaft, können beim Kind unterschiedlich schwere Schädigungen auftreten: Am Herz, den Nieren oder den Sinnesorganen. Meist ist auch das Gehirn betroffen und dabei vor allem das Arbeitsgedächtnis. Auch dass Johny Tastaturen zertrümmert, ist ein Zeichen seiner Impulskontrollstörung.
Wo Johny Schwierigkeiten hat
"Also, er hat eine kognitive Störung, eine organische Gehirnstörung, mit Verhaltensstörung und mit schweren, sozialen Anpassungsschwierigkeiten", sagt Franka, die Johny zusammen mit Tobias als Baby adoptiert hat. "Johny macht nichts intrinsisch. Er macht gar nichts aus einer eigenen Motivation heraus." Jede kleine Handlung – auch waschen oder umziehen – müsse ihm angesagt werden und erst dann würde sie mit viel Kraftaufwand für Eltern und Kind umgesetzt.
Johny macht nichts intrinsisch. Er macht gar nichts aus einer eigenen Motivation heraus.
"Er hat erwiesene Probleme mit dem Arbeitsgedächtnis", sagt Franka, während sie auf der Couch in der Wohnung in Halle an der Saale sitzt. "Da habe ich früher mal gedacht: Will der mich provozieren? Will er mich verarschen?" Tobias gibt ein Beispiel: "Wenn man Jonny sagt: ‘Bring doch mal dein Brett in die Küche.‘ Heißt es: ‘Ja, mache ich." Und dann er hat das schon wieder vergessen." Seine Therapeutin habe gesagt, er komme nicht ins Handeln.
Die Adoptiveltern wussten lange nicht, woran ihr Kind erkrankt war – bis sie eine Doku über FAS im Fernsehen sahen. Konnte es sein, dass Johny ein alkohol-geschädigtes Kind ist? Franka berichtet, dass sie das dann nochmal durch das Jugendamt prüfen ließ. In Jonnys Akte fand sich ein Hinweis, dass die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken habe. "Und die Reaktion des Jugendamtes war, so nach dem Motto: Ist vielleicht gar nicht so schlimm." Johny hat die schwere Form des FAS.
Fetales Alkoholsysndrom in Deutschland nicht als Behinderung anerkannt
Weil das Fetale Alkoholsyndrom in Deutschland offiziell nicht als Behinderung anerkannt ist, müssen Pflegeeltern um jede therapeutische Hilfe für die Kinder kämpfen. Etwa 1,5 Millionen Menschen sind in Deutschland aktuell davon betroffen.
"FAS ist eine lebenslange Behinderung. Also zusammenfassend: Probleme im Bereich der Kognition, der sozialen Adaptation, Verhaltensregulation und Exekutivfunktion", sagt Dr. Heike Hoff-Emden, die ihre Praxis im Sozialpädiatrischen Zentrum Leipzig am Sankt Georg-Krankenhaus hat. Sie ist die Expertin in Deutschland für alkoholgeschädigte Kinder. "Exekutivfunktion ist eigentlich genau das, was unsere FAS-Menschen haben. Sie sind manchmal von Intelligenzquotienten Durchschnitt, aber sie kriegen es nicht umgesetzt." Das sei das katastrophale. Sie könnten schlecht planen, organisieren und ihre Impulse kontrollieren.
In Deutschland gibt es die "Versorgungsmedizin-Verordnung". Darin sind in Tabellen die Schädigungen und Krankheiten aufgeführt, für die ein Grad der Behinderung beantragt werden kann. Doch: FAS ist in dieser Verordnung nicht gelistet und auch nicht im ICF-Index zur Beschreibung von Behinderungen bei Kindern.
Im Jahr 2018 bereits gab es den Versuch, dies zu ändern. Seither liegt ein Entwurf, den Dr. Hoff-Emden aus Leipzig mit ausgearbeitet hat, im Bundesarbeitsministerium. Nun soll ein neuer Beirat über eine mögliche Aufnahme von FAS in die Behinderten-Verordnung beraten. Aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales heißt es dazu: "Wann dies der Fall sein wird, kann derzeit noch nicht abgeschätzt werden."
Johny braucht im Alltag immer einen Begleiter
Ein paar Tage nach dem ersten Besuch, kommt Johny aus der Schule. Das übersteht er nur, weil ständig eine Integrationsbegleiterin an seiner Seite ist. Auch zu Hause braucht er immer Betreuung. Seine Pflegeeltern hatten deswegen Ende 2022 einen Antrag auf Schwerbehinderung beim Versorgungsamt gestellt. Dabei ging es auch um die Betreuung. Dies hätten sie aufgrund der Empfehlung in einem Gutachten durch eine FAS-Koryphäe getan.
Das Ergebnis kam vor wenigen Tagen: Abgelehnt. "Es ist eigentlich auch schon eine Frechheit", schimpft Franka. Das Amt habe abgelehnt, dass die Beeinträchtigung des Gehirns ab Geburt bestehe. "Also für mich war das wie ein Schlag ins Gesicht."
Die Familie hat nun einen Anwalt mit dem Verfassen eines Widerspruchs beauftragt. Das Landesverwaltungsamt äußert sich gegenüber MDR Investigativ nicht zu diesem Einspruch – aufgrund des laufenden Verfahrens. Franka und Tobias planen als einen nächsten Schritt die Klage gegen die Entscheidung des Landesverwaltungsamtes.
Pflegeeltern verlassen sich nicht auf staatliche Unterstützung
Franka und Tobias verlassen sich längst nicht mehr auf staatliche Unterstützung. Sie organisieren auf eigene Faust Hilfe und Förderung für ihren FAS-kranken Adoptivsohn. Johny geht etwa einmal pro Woche zu einer Ergotherapie. Obwohl Johny seit einem Jahr den kurzen Weg von der Wohnung in Halle bis zur Therapie regelmäßig geht, verläuft er sich noch.
Die Familie von Johny versucht alles, ihrem FAS-kranken Kind zu helfen. Johny hat inzwischen Pflegestufe 4. Das heißt, er hat, nach Definition des Medizinischen Dienstes, "schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit". Doch die Behörden in Sachsen-Anhalt erkennen bislang gar keinen Behindertenstatus an.
"Im letzten Jahr war es für uns ganz schwer", sagt Franka. Das Problem war nicht Johny, sondern das Umfeld. So hätten etwa Pädagogen und Schule schon gewusst, dass das Kind krank ist, aber der Junge sollte trotzdem funktionieren. "Das ist wie als würde ich zu jemandem sagen: ‚Wir wissen ja, du sitzt im Rollstuhl. Aber du musst jetzt einen Dauerlauf mitmachen.‘"
Das ist wie als würde ich zu jemandem sagen: ‚Wir wissen ja, du sitzt im Rollstuhl. Aber du musst jetzt einen Dauerlauf mitmachen.‘
"Pflege-, Adoptiveltern oder Bezugspersonen fühlen sich oft als Bittsteller, wenn sie bestimmte Dinge, die ihnen eigentlich zustehen, beantragen", erklärt Dr. Hoff-Emden. Das macht es für diese Menschen sehr schwer, wenn sie auch noch um die Anerkennung kämpfen müssen.
Auch deshalb muss man anerkennen, "dass dieses eine Behinderung ist und auch akzeptieren", so die FAS-Expertin. Denn man könne zwar am beeinträchtigten Gehirn nichts mehr ändern. "Aber man kann den Menschen Hilfen geben, wie allen anderen Menschen, die auch behindert sind."
Dieses Thema im Programm: MDR+ | MDR exactly | 29. Juli 2024 | 10:00 Uhr