Sterben und sterben lassen Diskussion um Sterbehilfe: In Würde sterben – nur wie?

16. September 2019, 15:57 Uhr

Niemand will es erleben, für viele ist das Leben mit einer unheilbaren und lebensbedrohlichen Krankheit aber Realität. Umfragen zeigen immer wieder: Bis zu drei Viertel aller Deutschen möchten in so einem Fall die Möglichkeit haben, ihr Leben zu beenden. Trotzdem ist die Sterbehilfe umstritten, auch politisch. Eine Einigung, mit der alle einverstanden sind, ist auch in Sachsen-Anhalt nicht in Sicht. Teil 1 der Reihe zum Thema Sterbehilfe.

Luca Deutschländer
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Symbolbild - Ein Patient liegt auf einer Intensivstation im Krankenhaus.
Sterben muss jeder Mensch. Über das Wie und ob Sterbehilfe erlaubt sein sollte, wird dabei auch in Sachsen-Anhalt immer wieder gestritten. (Symbolbild) Bildrechte: imago/photo2000

Ulrich Paulsen hat das schon häufiger erlebt: Todkranke Menschen, die ihren Lebensmut eigentlich verloren hatten – und die plötzlich wieder ein Stück Lebenskraft bekommen. Manchmal braucht es dafür gar nicht viel. Ein schöner Tag mit den Enkeln. Ein gutes Gespräch mit jemandem, der zuhört. Oder einen erfüllten Wunsch.

Ulrich Paulsen ist Pfarrer, außerdem ist er Vorsitzender des Hospiz- und Palliativverbandes Sachsen-Anhalt. Paulsen arbeitet außerdem seit mehr als 25 Jahren Klinikseelsorger, aktuell am Johanniter-Krankenhaus in Stendal.

Pfarrer: "Die aktuellen Gesetze sind gut"

Ulrich Paulsen hat viel mit dem Tod zu tun.

Das Sterben und der Tod gehören zu seinem Beruf dazu wie das Leben – zumal Sterben nach seinem Verständnis Teil des Lebens ist. Wer mit Ulrich Paulsen spricht, erlebt einen unaufgeregten und eloquenten Mann; einen, der seine Überzeugungen vertritt. Zugleich begegnet er aber auch denen mit Respekt, die anderer Meinung sind als er. Dass der Staat mit den bestehenden Gesetzen das Leben schützt? Findet er richtig. "Die aktuellen Gesetze sind gut", sagt er und schließt den viel diskutierten Paragraphen 217 des Strafgesetzbuchs mit ein. Es dürfe keine leichtfertige Entscheidung sein, den Arzt mit der Spritze kommen zu lassen.

Paulsen spielt damit auf die sogenannte geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung an. Die ist seit 2015 verboten. Seitdem gilt Paragraph 217 des Strafgesetzbuchs. Nicht verboten ist die Beihilfe zur Selbsttötung – solange sie nicht geschäftsmäßig ist. Diese Beihilfe wird auch assistierter Suizid genannt. Die gesetzliche Lage ist kompliziert, auch deshalb beschäftigt sich das Bundesverfassungsgericht aktuell mit Paragraph 2017 (siehe Aufklappbox). Im Mittelpunkt steht die Frage: Ist Paragraph 217 verfassungswidrig oder nicht? Eine Entscheidung will das Gericht diesen Herbst fällen. Einen genauen Termin gibt es noch nicht.

§ 217 Strafgesetzbuch – Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung

"(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Als Teilnehmer bleibt
straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht."

Paragraph 217 des Strafgesetzbuches ist umstritten. Seit er 2015 eingeführt wurde, sind der Beihilfe zur Selbsttötung Grenzen gesetzt. Grundsätzlich ist sie allerdings erlaubt. Ziel des Gesetzes war, Sterbehilfe als Dienstleistung und als Geschäftsmodell zu verhindern.

Beim Bundesverfassungsgericht liegen allerdings inzwischen mehrere Klagen von Kranken, Ärzten und Vereinen vor, Anfang April dieses Jahres wurde an zwei Tagen mündlich verhandelt. Die Kläger bezweifeln, dass Paragraph 217 verfassungsgemäß ist. Das liegt auch an dem Wort "geschäftsmäßig". Juristisch betrachtet bedeutet dieses Wort nämlich nicht, dass ein kommerzielles Interesse bestehen muss. Bedeutet: Ein Mediziner handelt nach Ansicht von Kritikern schon dann "geschäftsmäßig", wenn er Leistung wiederholt – einem Schwerstkranken zum Beispiel mehrfach tödliche Medikamente zur Verfügung stellt.

Ein Urteil der Karlsruher Richter wird für diesen Herbst erwartet. Einen genauen Termin gibt es allerdings noch nicht.

Eindeutiger ist die Gemengelage bei der sogenannten aktiven oder direkten Sterbehilfe. Die ist grundsätzlich verboten, wird mit sechs Monaten bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft. Das regelt Paragraph 216 des Strafgesetzbuchs: "Tötung auf Verlangen".

Sterbehilfe und der selbstbestimmte Tod von Menschen werden politisch immer wieder ausgiebig und emotional diskutiert – übrigens nicht nur in Sachsen-Anhalt. Das Thema ist größer, der Gesetzgeber sitzt in Berlin. Verlässliche Zahlen, wie viele Menschen in den vergangenen Jahren Sterbehilfe in Anspruch genommen haben, gibt es nicht. Das Statistische Bundesamt führt allenfalls Statistiken über Suizide insgesamt.

Zwei Drittel der Deutschen für legale aktive Sterbehilfe

Eine Eichenalle bei Sonnenaufgang.
67 der Deutschen sprechen sich in einer repräsentativen Umfrage von YouGov für eine Legalisierung aktiver Sterbehilfe aus. (Archivfoto) Bildrechte: imago images/blickwinkel

Repräsentative Umfragen zeigen immer wieder, dass sich gut zwei Drittel eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe wünschen. Es ist erst wenige Monate her, da ging die Zahl 67 durch die Medien: 67 Prozent der Deutschen wünschten sich, dass aktive Sterbehilfe legalisiert wird. So hatte es das Meinungsforschungsinstitut YouGov herausgefunden. Im Osten der Republik war die Zustimmung noch höher: Hier sprachen sich 72 Prozent der Menschen für eine Legalisierung aktiver Sterbehilfe aus.

Seelsorger und Pfarrer Ulrich Paulsen erklärt sich das so: Zu wenige Menschen wissen um die Möglichkeiten der Palliativmedizin. Sie fürchten sich vor dem letzten Abschnitt ihres Lebens, haben Angst vor dem Tod. An dieser Stelle kommt die Palliativmedizin ins Spiel – die Linderung von Schmerzen oder anderen Symptomen also. "Wir haben gute Möglichkeiten, Menschen an ihrem Lebensende zu begleiten", sagt Paulsen. Wenn er so etwas wie eine Forderung an die Politik aufstellen sollte, wäre es folgende: mehr Palliativmediziner, auch in ländlichen Regionen. Ulrich Paulsen ist für eine flächendeckende Palliativversorgung in Deutschland.

Positionen zur Sterbehilfe

Ärzte wollen keine "geschäftsmäßigen Sterbehelfer" sein

In dieser Diskussion gibt es die eine Seite, vertreten beispielsweise von der Bundesärztekammer. Deren früherer Präsident Frank Ulrich Montgomery hat wiederholt deutlich gemacht, dass eine Aufweichung der "geschäftsmäßigen Sterbehilfe" seiner Meinung nach falsch ist. Dem Berliner "Tagesspiegel" sagte er im Mai dieses Jahres, wenn man ärztlichen Suizid erlaube, führe das direkt zu einer Tötung auf Verlangen. "Der Arzt ist kein geschäftsmäßiger Sterbehelfer", sagte Montgomery. Ebenso argumentieren Mediziner mit dem hippokratischen Eid, wonach Tötung auf Verlangen "unethisch" ist.

Auch Montgomerys Nachfolger Klaus Reinhardt sagt: "Es ist vielmehr Aufgabe von Ärzten, das Leben zu erhalten, Leiden zu lindern und Sterbenden Beistand zu leisten." Selber Auffassung ist auch die Ärztekammer Sachsen-Anhalt. Sterbehilfe gehöre nicht zu ärztlichen Aufgaben, sagte ein Sprecher MDR SACHSEN-ANHALT.

Kirchen lehnen Sterbehilfe ab

Ähnlich sehen es die Kirchen. Die deutsche Bischofskonferenz etwa ist "nachdrücklich" gegen alle Formen der aktiven Sterbehilfe und der Beihilfe zur Selbsttötung. "Die Entscheidung gegen das eigene Leben, auch wenn es durch Schmerzen und Leid geprägt ist, widerspricht fundamental dem Wesen des Menschen", heißt es in einer Stellungnahme.

Andere, darunter die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), wollen eine Lockerung der Gesetze erreichen. Sie argumentieren: Jeder Mensch soll selbst entscheiden dürfen, wie und wann er aus dem Leben scheidet. Institutionen wie die DGHS haben sich deshalb zum Hauptziel gemacht, für Patientenverfügungen und Vorsorgevollmächte zu werben – und Patienten beim Erstellen dieser Verfügungen zu unterstützen. Juristen wie Rolf Heinemann argumentieren, dass eine solche Verfügung so gut wie nie auf dem aktuellen Stand sein kann. Dafür müsste ganz konkret auf jede einzelne Eventualität einer Krankheitsgeschichte eingegangen werden, sagt der Fachanwalt für Medizinrecht aus Magdeburg. In der Realität sei das kaum möglich.

Die Hospiz- und Palliativarbeit hat sich in den vergangenen Jahren weiterentwickelt. Immer mehr Menschen befassen sich mit dem Thema, der Hospiz- und Palliativverband in Sachsen-Anhalt hat inzwischen 700 Mitglieder, die alte und kranke Menschen am Ende ihres Lebens begleiten – ehrenamtlich. Tendenz steigend. "Ein Geschenk", sagt Pfarrer Ulrich Paulsen.

Palliativmedizin: "Lebensqualität bis zum Tod"

Unter Palliativmedizin versteht man den "ganzheitlichen" Umgang mit schwerkranken Patienten mit begrenzter Lebenserwartung. Statt sich auf eine nicht mehr mögliche Heilung der Krankheit zu konzentrieren, treten andere Dinge in den Vordergrund – die Linderung von Schmerzen oder anderen Symptomen zum Beispiel.

Ziel der Palliativmedizin ist der Erhalt bestmöglicher Lebensqualität bis zum Tod. Sie kann deshalb sowohl im Hospiz als auch ambulant – also in den eigenen vier Wänden – angewendet werden. Viele Menschen haben nämlich den Wunsch, in ihrer eigenen Wohnung zu sterben und nicht im Krankenhaus oder im Hospiz. Wer in der Palliativmedizin praktiziert, bejaht das Leben und akzeptiert das Sterben als normalen Prozess. Weder soll der Tod herausgezögert, noch soll er beschleunigt werden. So steht es in den Leitsätzen des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands.

In der Palliativmedizin arbeiten verschiedene Experten gemeinsam mit dem Patienten und seinen Angehörigen. Pfarrer Ulrich Paulsen aus Stendal unterscheidet zwischen vier Bereichen, die zur Palliativmedizin gehören:

  • Medizin
  • Pflege
  • Psychosoziale Beratung
  • Sozialarbeit

Dass er und seine Mitstreiter im Hospiz oder im Krankenhaus nach Sterbehilfe gefragt werden, passiert nur sehr selten, sagt Paulsen. Eher hat er Erfahrungen mit Angehörigen gesammelt, die Fragen stellen. Wie lange muss meine Mutter noch gewickelt werden? Wie lange ertragen wir als Angehörige diesen Anblick noch? Wäre es nicht besser, sie zu erlösen? Ulrich Paulsen akzeptiert solche Gedanken. Und er will auch niemanden umstimmen, betont er. Dennoch sagt er:

Ein Mensch verliert seinen Wert und seine Würde nicht, wenn er bettlägerig ist.

Ulrich Paulsen Pfarrer und Klinikseelsorger in Stendal

Anruf bei Petra Sitte. Die 58-Jährige aus Halle sitzt für die Linke im Deutschen Bundestag, seit Jahren schon. Ebenfalls seit Jahren befasst sie sich mit dem Thema Sterbehilfe, im Bundestag hat sie viele Reden dazu gehalten. Viel über Sterbehilfe hat sie auch im Bekanntenkreis gesprochen. Viele in ihrem Alter hatten ihr da berichtet, dass sie gern selbstbestimmt ihr Leben beenden möchten, wenn eine Krankheit es erfordert. Sie will deshalb, dass der Paragraph 217 in seiner jetzigen Form wieder abgeschafft wird. 

Petra Sitte DIE LINKE, 03.11.2015
Petra Sitte beschäftigt sich im Deutschen Bundestag seit Jahren mit dem Thema Sterbehilfe. (Archivfoto) Bildrechte: imago/Christian Thiel

Sitte spricht Umfragen an, wonach viele Deutsche für eine Legalisierung aktiver Sterbehilfe sind. "Diesen Menschen fühle ich mich verpflichtet", erzählt sie. Petra Sitte geht davon aus, dass der Bundestag nach Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wieder über Paragraph 217 diskutieren muss. Sie vermutet, dass die Richter das Gesetz in seiner jetzigen Form nicht durchwinken werden – und stattdessen fordern werden, neue Bedingungen für den assistierten Suizid aufzustellen, im Zweifel auch außerhalb des Strafgesetzbuchs im Zivilrecht.

Programmtipp: Doku im Ersten Im Ersten wird am 23. September um 23:30 Uhr die Story "Streitfall Sterbehilfe" ausgestrahlt. Für sie wurden zwei Schwerstkranke ein Jahr lang begleitet. Beide wünschen sich für den Fall der Fälle einen "Notausgang".

Sie haben suizidale Gedanken oder eine persönlichen Krise? Die Telefonseelsorge hilft Ihnen! Sie können jederzeit kostenlos anrufen: 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222. Der Anruf ist anonym und taucht nicht im Einzelverbindungsnachweis auf. Auf der Webseite www.telefonseelsorge.de finden Sie weitere Hilfsangebote, zum Beispiel per E-Mail oder im Chat.

Luca Deutschländer
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Über den Autor Luca Deutschländer arbeitet seit Januar 2016 bei MDR SACHSEN-ANHALT – in der Online-Redaktion und im Hörfunk. Seine Schwerpunkte sind Themen aus Politik und Gesellschaft. Bevor er zu MDR SACHSEN-ANHALT kam, hat der gebürtige Hesse bei der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeine in Kassel gearbeitet. Während des Journalistik-Studiums in Magdeburg Praktika bei dpa, Hessischem Rundfunk, Süddeutsche.de und dem Kindermagazin "Dein Spiegel". Seine Lieblingsorte in Sachsen-Anhalt sind das Schleinufer in Magdeburg und der Saaleradweg – besonders rund um Naumburg. In seiner Freizeit steht er mit Leidenschaft auf der Theaterbühne.

Quelle: MDR/ld

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | FAKT IST! aus Magdeburg | 16. September 2019 | 22:05 Uhr

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