"Querdenken"-Kundgebung Entsetzen nach gewalttätigen Auseinandersetzungen in Leipzig

08. November 2020, 01:20 Uhr

Nach gewalttätigen Auseinandersetzungen im Umfeld der "Querdenker"-Demonstration in Leipzig ist das Entsetzen groß. Viel Kritik gibt es vor allem am Oberverwaltungsgericht in Bautzen und Sachsens Innenminister Roland Wöller.

In Leipzig ist es am Sonnabend zu gewalttägigen Protesten im Umfeld der "Querdenken"-Demonstration gekommen. Dabei wurden Polizisten und auch zahlreiche Medienvertreter verletzt. Eine genaue Übersicht, auch über mögliche weitere Verletzte, lag am späten Samstagabend noch nicht vor. Verdi spricht von mindestens 32 Pressevertretern, die eine Verletzung gemeldet haben. Die Polizei Sachsen twitterte am Nachmittag, dass Beamte mit Pyrotechnik beworfen worden seien.

Gewaltbereite Rechte durchbrechen Polizeisperre

Die Situation eskalierte nach der vorzeitigen Auflösung der bis dahin weitgehend friedlichen "Querdenken"-Versammlung auf dem Augustusplatz. Teilnehmer zündeten Böller und Raketen. Wohl auch aus Protest, dass ihnen eine Demonstration über den Ring verwehrt bleiben sollte. Die Veranstalter hatten wegen der geltenden Corona-Schutzauflagen nur die Genehmigung für eine stationäre Kundgebung erhalten.

Am Hauptbahnhof schließlich gelang es einer Gruppe, die Reporter als gewaltbereite Hooligans und Vertreter der rechten Kampfsportszene aus dem gesamten Bundesgebiet beschrieben, eine Polizeisperre gewaltsam zu durchbrechen. Damit machte sie quasi den Weg für eine Demonstration über den Ring frei, der sich dann auch viele Teilnehmer der "Querdenken"-Versammlung anschlossen. Sie sehen sich in der Tradition der Demonstrationen im Herbst 1989. Leipzigs Polizeipräsident Torsten Schultze erklärte dazu am späten Abend:

Es entstand großer Druck auf die Polizeikräfte, dem wir nur unter Einsatz von unmittelbarem Zwang standhalten hätten können. Damit stellt sich die Frage der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Gewalt einzusetzen war für uns nicht angezeigt.

Torsten Schultze Polizeipräsident Leipzig

Die nicht genehmigte Demonstration führte schließlich über die Innenstadt zum Augustusplatz zurück. Immer wieder feierten sich die Teilnehmer für ihren "Erfolg", doch noch durch Leipzig gezogen zu sein. Die Polizei ließ die Demonstranten gewähren. Um zu deeskalieren, wie es hieß. Gleichzeitig musste sie die "Querdenken"-Teilnehmer und Gegendemonstranten, die sich an verschiedenen Stellen in der Stadt versammelt hatten, voneinander getrennt halten.

Es kam durch die örtlichen Gegebenheiten mehrfach zur Durchmischung von Versammlungsteilnehmern der 'Versammlung für die Freiheit' und Gegendemonstranten. Einsatzkräfte der Polizei unterbanden die Auseinandersetzungen mittels unmittelbarem Zwang. Dabei kam es zu mehreren Freiheitsentziehungen.

Polizeidirektion Leipzig

Bilanz der Polizei Die Polizei hat am Sonnabend zunächst eine Zwischenbilanz gezogen. Dieser Einschätzung zufolge sei es gelungen, den friedlichen Verlauf aller Veranstaltungen zu gewährleisten und mögliche Gewalttaten zu verhindern. Nur die Durchsetzung des Infektionsschutzes sei nicht erreicht worden. Bislang wurden laut Polizei mehr als 30 Straftaten festgestellt, überwiegend Sachbeschädigungen.

Am Sonntag will die Polizeidirektion eine ausführliche Bilanz vorlegen.

Brennende Barrikaden in Connewitz

Am Abend verlagerte sich das Einsatzgeschehen in den Leipziger Süden. Dort wurden auf mehreren Straßen Barrikaden errichtet und angezündet sowie eine Polizeiwache attackiert. Vor dem Gebäude lagen Pflastersteine.

Die Polizei rückte mit einem Großaufgebot an. Vier Wasserwerfer und zwei Räumpanzer fuhren auf. Die Polizei schickte nach eigenen Aussagen die Wasserwerfer in das Gebiet, nachdem die Feuerwehr Amtshilfe erbeten hatte. Zum anderen drohte die Polizei in Durchsagen den Einsatz der Wasserwerfer an, sollten sich die Menschen auf den Straßen nicht friedlich verhalten. Aus den Fahrzeugen heraus wurden zudem Videoaufnahmen gemacht. Ein Hubschrauber kreiste über dem Viertel. Meldungen über Verletzte gab es zunächst nicht.

Mehrere mutmaßliche Beteiligte wurden von den Polizisten gefasst. Der Einsatz in Connewitz lief am späten Abend noch. Unklar war zunächst, ob es einen Zusammenhang mit der "Querdenken"-Demonstration am Samstag in Leipzig gab, sagte der Sprecher.

Tausendfache Verstöße gegen die Corona-Auflagen

Der Leipziger Ableger der in Stuttgart gegründeten "Querdenken"-Initiative hatte bundesweit für die Demonstration mobilisiert. Die Stadt Leipzig wollte die mit 20.000 Teilnehmern angemeldete Kundgebung auf das Neue Messegelände verlegen, damit die notwendigen Mindestabstände eingehalten werden können.

Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Bautzen hatte jedoch die Kundgebung in der Innenstadt am Samstagmorgen genehmigt und dabei die Teilnehmerzahl auf 16.000 begrenzt und die Einhaltung der Maskenpflicht zur Bedingung gemacht. "Das OVG hat uns eine Entscheidung auf den Tisch gelegt, die nur sehr, sehr schwer umzusetzen war", sagte Stadtsprecher Matthias Hasberg. Die "Querdenken"-Veranstalter hatten auf der Kundgebung hingegen mehrmals gesagt, dass die Maskenpflicht nur eine Empfehlung des OVG gewesen sei. Laut Hasberg hatte die Stadt dies am Mittag sorgfältig geprüft. Deshalb und um dem Veranstalter Gelegenheit zu geben, die Auflagen noch zu erfüllen, habe man die Kundgebung überhaupt erst nach zweieinhalb Stunden aufgelöst.

Polizeisprecher Olaf Hoppe sagte, 90 Prozent der Teilnehmer haben keinen Mund-Nase-Schutz getragen. Beobachter gingen davon aus, dass insgesamt weit mehr als die 20.000 von der Polizei gezählten Teilnehmer nach Leipzig gekommen waren.

Ballweg kündigt Klage an

Michael Ballweg spricht im Rahmen der Corona-Proteste gegen die Maßnahmen der Bundesregierung
Michael Ballweg Bildrechte: imago images / U. J. Alexander

Der "Querdenken"-Veranstalter sagte von der Bühne, er halte den Abbruch durch die Stadt Leipzig für "grob rechtswidrig". Die Nachricht wurde vor Ort mit Buh-Rufen aufgenommen. Alles, was jetzt passiere, sei in der Verantwortung derer, die die Veranstaltung abbrechen, hieß es vonseiten der "Querdenker". In vielfachen Lautsprecherdurchsagen und auf Twitter forderte die Polizei die Demonstranten auf, den Augustusplatz zu räumen. Nach knapp einer Stunde war der Großteil der Teilnehmer dem allerdings noch nicht nachgekommen.

"Querdenken"-Gründer Michael Ballweg kündigte eine Klage gegen die Entscheidung der Stadt an. Die Ordnungswidrigkeit hätte einzeln festgestellt werden müssen bei jedem Demonstranten, sagte Ballweg, der selbst nicht in Leipzig war, der dpa. "Wir haben eine saubere Planung hingelegt", sagte Ballweg. Die Behörden hätten den Aufbau der Veranstaltung bis zur OVG-Entscheidung allerdings behindert. Deshalb hätten etwa nicht so viele Lautsprechertürme wie geplant aufgebaut werden können, was die Masse entzerrt hätte.

Innenminister kritisiert Gerichtsentscheidung

Heftige Kritik am Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Bautzen, die Kundgebung trotz der Pandemiesituation in dieser Form zu genehmigen, kommt parteiübergreifend von Linken, SPD und Grünen und auch dem CDU-Innenminister Roland Wöller. "Es ist unverantwortlich, eine solche Versammlung mit mehr als 16.000 Menschen in Zeiten der Corona-Pandemie in der Leipziger Innenstadt zuzulassen", sagte Wöller am Samstag. Die Einhaltung der Infektionsschutzauflagen sei so von vornherein unmöglich gewesen. Die Entscheidung der Stadt, die Versammlung nach gut zweieinhalb Stunden aufzulösen, sei daher richtig gewesen. "Die Corona-Pandemie lässt sich nicht mit der Polizei oder polizeilichen Maßnahmen bekämpfen, sondern nur mit Vernunft aller", sagte Wöller.

Auch der Leipziger Theologe und frühere Thomaskirchen-Pfarrer meldete sich in seinem Blog zu Wort:

Doch erst nach drei (!) Stunden wurde dann endlich die Kundgebung durch die Stadt Leipzig aufgelöst. Jeder Restaurant-Betreiber, jeder Veranstalter, jeder Sportvereinsfunktionär, jeder Kinobetreiber muss sich heute verklappst vorgekommen sein: Da dürfen sich 20.000 Menschen (und mehr) auf dem Augustusplatz versammeln und gegen alle Bestimmungen der Corona-Schutzverordnung des Freistaates Sachsen verstoßen, während alle Restaurants seit Montag geschlossen und alle kulturellen Veranstaltungen verboten sind.

Christian Wolff

Wöller zum Rücktritt aufgefordert

Gegen Wöller selbst werden unterdessen Rücktrittsforderungen laut. Der Leipziger Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann (Linke) sieht Wöller nach der Silvesternacht, Fahrradgate und rechten Netzwerken völlig überfordert. "Da hilft nur eines: Herr Wöller, treten Sie zurück!"

Und auch die Koalitionspartner SPD und Grüne verlangen Konsequenzen. Die Fraktion der Grünen im Landtag hält Wöller für nicht mehr tragbar. Der innenpolitische Sprecher der Grünen, Valentin Lippmann, erklärte, das Vertrauen in die Polizeiführung gänzlich verloren zu haben. Sowohl Lippmann als auch der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Albrecht Pallas, forderten eine Sondersitzung des Innenausschusses.

Es bleiben aus Sicht der SPD noch Fragen zum Einsatz offen: Warum wurden Auflagen nicht durchgesetzt? Wieso konnte eine nicht angemeldete, Demonstration um den Ring laufen, obwohl Aufzüge generell untersagt sind und auch von keinem Gericht genehmigt wurden? Wie wurde nach den Erfahrungen mit den Corona-Leugner-Demos in Berlin und Dresden der Einsatz vorbereitet?

Albrecht Pallas Innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag

Pallas: "Querdenker" sind Rechtsbrecher und von Faschisten durchzogen

Pallas dankte den Einsatzkräften von Polizei, Stadt und Hilfsorganisationen, die den Beschluss des OVG Bautzen versuchen mussten, umzusetzen. Der Tag in Leipzig habe gezeigt, dass "die sogenannten Querdenker gefährliche Rechtsbrecher sind, die zusätzlich noch von gewaltbereiten Faschisten durchzogen sind". Sachsens SPD-Vorsitzender Martin Dulig twitterte: "Coronaleugner laufen ungehindert über den Ring. Der Staat hat sich heute am Nasenring durch die Manege führen lassen." Das werde seine Partei "in aller Deutlichkeit im Kabinett ansprechen".

Quelle: MDR/dk/epd/dpa

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