Wachsende Armut Tafeln in Sachsen: "Wir versorgen etwa zehn Prozent der Bevölkerung"

09. Juli 2022, 10:30 Uhr

Vor Jahren als Projekt gegen Lebensmittelverschwendung gestartet, versorgen die 45 Tafeln in Sachsen mittlerweile hunderttausende Menschen regelmäßig mit Essen. Und es werden immer mehr Bedürftige. Nicht nur Geflüchtete stehen Schlange, auch immer mehr Familien und Menschen mit Einkommen. Für "Dienstags direkt" hat Jan Kummer den Landesvorstand der Tafeln, Karltheodor Huttner (76), gefragt, wieviel der Hilfsverein noch stemmen kann.

Frage: Wie ist die aktuelle Lage für Sachsens Tafeln?

Karltheodor Huttner: Wir haben bis zu 30 Prozent mehr Kunden und Kundinnen. Das ist nicht nur allein den Flüchtlingen aus der Ukraine geschuldet, sondern es kommen auch mehr deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu uns. Das liegt natürlich an der hohen Inflationsrate. Viele Menschen, die bisher immer knapp mit der Haushaltskasse waren und gerade so über die Runden gekommen sind, schaffen es heute nicht mehr. In der letzten Woche eines Monats merken wir verstärkt eine große Nachfrage.

Welche Tafeln sind besonders betroffen in welchen Regionen?

Im Prinzip zieht sich das durch alle durch. Was die Flüchtlinge anbelangt, sind es hauptsächlich die Großstädte und mittleren Städte, weil sich die Geflüchteten dort aufhalten. Bei den kleineren Tafeln geht es um deutsche Kundschaft, die jetzt verstärkt kommt.

Wie viele Menschen versorgen Sie?

Es gibt momentan 45 Tafeln im Freistaat Sachsen. Wir haben auch von immer mehr Kommunen, die das bisher nicht notwendig hatten, Nachfragen. Sie wollen wissen, wie man eine Tafel gründet. Das Interesse von den Behörden wird immer deutlicher. Wir versorgen etwa zehn Prozent der Bevölkerung in Sachsen. Sie können sich ausrechnen, dass das fast 400.000 Menschen sind, die zu uns kommen. Das ist auch dem Umstand geschuldet, dass wir ja meistens nach Bedarfsgemeinschaften gehen. Wenn eine Bedarfsgemeinschaft gezählt wird, sind es im Durchschnitt vier, fünf Menschen.

Wenn man in Not gerät, kann jeder zur Tafel kommen?

Nein. Sie müssen irgendwelche Beihilfen bekommen. Damit haben Sie einen Nachweis, ob Sie Hartz-IV-Empfänger sind, bei der Arbeit aufstocken müssen, ob Sie Rentner mit relativ wenigem Einkommen sind oder Student. Wenn Sie gar kein Geld verdienen, müssen Sie beim Sozialamt gemeldet sein. Vereinfacht gesagt, haben Sie dann alle Dokumente, um sich bei uns anzumelden.

Welche Schicksale sind aus Ihrer Sicht besonders tragisch, die Sie bei den Tafeln sehen?

Während es in früheren Jahren häufiger Menschen waren, von denen man sagen musste, dass sie im Grunde genug Geld hatten, sie ihr Geld aber für Zigaretten, Alkohol oder Spielsucht ausgaben. Sie waren gezwungen, zu uns zu kommen, weil es fürs Essen nicht mehr reichte. Jetzt stelle ich fest, dass junge Familien kommen, die sich gewagt haben, ein Haus anzuschaffen und vielleicht noch ein neues Auto gekauft haben und in den Ratenzahlungen stecken. Mit drei kleinen Kindern können sie am Monatsende nicht sagen: "Naja, wir überstehen das. Essen wir eben nur Wasser und Brot." Das geht bei kleinen Kindern nicht. Also, da sind wir großzügig und meinen: Selbst, wenn das nicht unsere Klientel ist, die zu uns kommt - bevor Kinder hungern. Noch haben wir genug Lebensmittel.

Eine Mitarbeiterin bei den Tafeln trägt eine Kiste voll mit Obst und Gemüse.
1.218 Tonnen Lebensmittel haben Ehrenamtliche für die Tafeln im vorigen Jahr in Sachsen organisiert, sortiert und an Menschen verteilt. Bildrechte: picture alliance/dpa | Felix Kästle

Wie sieht es auf der Spendenseite aus?

Der Ursprung war, dass wir davon ausgegangen sind, Lebensmittel bei Supermärkten und Discountern abzuholen, die nicht mehr alles verwenden können oder Ablaufzeiten von Mindesthaltbarkeitsdaten haben. Das hat stark nachgelassen. Gott sei Dank sind wir im Freistaat Sachsen imstande, durch Produzenten und Hersteller von der Quelle direkt Lebensmittel zu bekommen. Wir haben in Dresden ein Zentrallager. Von diesem Lager holen sich die Tafeln, die das notwendig haben, zusätzliche Ware ab, die sie vor Ort einsammeln. Gott sei Dank, da unsere Lager gefüllt sind, sind wir imstande, immer auszugleichen.

Wie stark belasten die Tafeln die steigenden Kosten bei Energie und Benzin?

Sie sprechen einen wunden Punkt an. Das merken wir ganz deutlich. Manche Tafel, die einmal in der Woche nach Dresden kam, muss nun anrufen und sagen: Wir können in dieser Woche nicht kommen, weil die Spritkosten zu hoch sind oder wir keinen Fahrer haben. Das ist auch in vielen Fällen ein Problem. Immer weniger Menschen sind bereit, ehrenamtlich zu arbeiten. Wir können uns festangestellte Fahrer nicht leisten.

Deswegen sind wir momentan in der Diskussion, auch mit der Staatsregierung das Modell umzustellen, dass das Land uns zusätzliche Kühlfahrzeuge bezahlt und das über Förderprogramme der Aufbaubank zahlt und eventuell auch die Benzinkosten, sodass wir von Dresden aus logistisch umstellen und mit unseren Fahrzeugen und Mitarbeitern die einzelnen Tafeln anfahren. Das hat auch ökologische Vorteile. Auf so einer Fahrt kann man drei, vier Tafeln anfahren, anstatt dass 45 Tafeln einzeln nach Dresden kommen.

Was brauchen die Tafeln aktuell am dringlichsten?

Am meisten sind wir auf Spenden angewiesen. Ganz klar, weil wir ausgleichen müssen. Ehrlicherweise muss ich aber sagen, wenn ich meine Kollegen in den anderen Bundesländern sehe, dass wir in Sachsen mit am besten von der Staatsregierung unterstützt werden. Wir haben ein Programm der investiven Förderung - das heißt, Geld für Kühlzellen, Autos und sonstige notwendige Baumaßnahmen in Höhe von 400.000 Euro im Jahr. Die Regierung ist darüber hinaus bemüht, in Einzelfällen zusätzlich zu helfen. Sie hat jetzt über ein Programm Mittel an die Landkreise und kreisfreien Städte angewiesen für die ehrenamtlichen Mitarbeiter, die durch die Ukraine-Situation überlastet sind. Die Höhe liegt zwischen 3.000 und 5.000 Euro für die jeweilige Tafel.

Sie sagten, es kommen immer mehr Arme, mehr Deutsche, häufiger Familien. Was befürchten Sie, wenn Energiepreise, Inflation und Zinsen weiter steigen?

Wir sind darauf eingestellt, dass es im kommenden Jahr katastrophal wird. Sie dürfen eines nicht vergessen: Die allermeisten Haushalte in Deutschland haben noch keine Energiekostenabrechnung. Die steht ihnen noch bevor und wird das Zehnfache von dem sein, was es bisher war. Das wird der erste Schock für viele. Darüber hinaus ist es so, dass die Bundesregierung durch Sondermaßnahmen wie das 9-Euro-Ticket ja versucht, auszugleichen. Das ist auf Dauer nicht haltbar. Ich sehe für das nächste Jahr eine große Welle auf uns zukommen.

Wir stellen immer häufiger fest, dass die Sozialämter - wenn Menschen in großer Not zu ihnen kommen - sagen: "Ja, da müsst ihr zu Tafel gehen, wenn ihr nichts mehr zu essen habt." Praktisch glauben die Menschen dann, die zu uns kommen, dass wir eine nachgeordnete Behörde des Staates sind. Damit hätten sie einen Rechtsanspruch, von uns etwas zu bekommen. Wir können nur geben, was wir haben. Lebensmittel, die wir nicht haben, können wir nicht bezahlen.

Wieviel können Sie noch vertragen?

Wenn wir davon ausgehen, dass in absehbarer Zeit der Krieg gegen die Ukraine zu Ende geht, dieser Anteil von Menschen wieder zurückgeht und dies dann durch deutsche Staatsbürger ersetzt würde, wäre das verkraftbar. Wenn der Krieg aber unendlich dauert - in Anführungszeichen gemeint - dann wird es schwierig. Ich möchte keine Prognose wagen. Wir tun unser Möglichstes.

Was wünschen Sie sich von der Politik?

Wenn man uns schon als sogenannte nachgeordnete Behörde betrachtet, muss man uns auch tatkräftig unterstützen, beispielsweise, wenn es überhaupt nicht mehr geht und wir zum Beispiel gezwungen wären, Lebensmittel, die wir nicht mehr einsammeln können, weil sie nicht mehr vorhanden sind, dann für die Menschen zu kaufen.

MDR (kk)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 05. Juli 2022 | 20:00 Uhr

12 Kommentare

Hanna am 10.07.2022

Wie wäre es, wenn die Politiker die gesamten Steuermehreinnahmen durch die Preiserhöhungen ans eigene Volk zurückzahlen. Dies könnte z.B. auf Senkungen der Mehrwert- und Energiesteuern basieren. Dann noch eine Steuer für die Gewinner der Krise und all dieses Geld im eigenen Land verteilen. Der Staat kann nicht auch noch als Gewinner der Krise hervorgehen während das einfache Volk leidet.
Die Diäten Erhöhungen wurden doch auch nicht vergessen

tango2 am 10.07.2022

Es ist schon sehr traurig, dass hier in der BRD und auch bei uns in Sachsen, Tafeln die Menschen mit Essen versorgen müssen, weil sie selbst fast nicht mehr in der Lage sind, Geld dafür aufzubringen. Kapitalismus halt. Da zählt der Mensch nicht viel. Und doch muss man auch die andere Seite der Medaille sehen, wieviel Tonnen Lebensmittel vernichtet werden,nur um die Preise hoch zuhalten bzw. weil die Lebensmittel zuviel oder einfach nicht gebraucht werden. Ein Beispiel gab es erst den letzten Monat. Vernichtung von Erdbeeren im westlichen Teil der BRD nur weil die Bauern zu wenig verkaufen konnten, angeblich wegen einem Überangebot der Ware. Sowas nennt man Verschwendung und künstliche Hochhaltung der Preise, wie es schon immer üblich ist und war, in der BRD. Geld gibt es genug und zwar für Kriege um dann wieder andere Menschen mit Lebensmitteln versorgen zu können, die aus den Kriegsgebieten kommen.

Hanna am 10.07.2022

Es ist nicht die Aufgabe der Tafeln die Fehler der Politik auszubügeln.
Durch die in allen Lebensbereichen immer stärker ansteigenden Kosten fließen doch immer mehr Steuergelder ins Staatssäckel. Da wird die Bevölkerung mal schnell zumindest für 3 Monate mit. 9€-Ticket und Tankrabatt beruhigt. Die Politiker können sich weiter als Klima-/Weltretter aufspielen und Steuergelder verteile anstatt , wie es ihre Pflicht wäre sich ums eigene Volk zu kümmern. Gerade der Andrang bei den Tafeln zeigt doch, wie es wirklich im eigenen Land steht. Dabei stehen wir noch am Anfang der Krise. Es scheint als sind die schwächsten, die Kinder und die Alten, diesen Klima/Weltrettern völlig egal. Innenpolitisch wird völlig versagt.

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