Hilfe in Krisen 30 Jahre Telefonseelsorge Erfurt - stündlich Anrufe
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04. November 2022, 18:11 Uhr
Seit 30 Jahren können sich Anruferinnen und Anrufer mit ihren Sorgen und Nöten an die inzwischen kostenlosen Nummern der Telefonseelsorge wenden. Themen sind häufig Partnerschaften, Einsamkeit, Arbeitslosigkeit, Trauer, Tod und Sterben, Lebensverdruss und Sexualität.
Um 17.45 Uhr, eine Viertelstunde vor dem offiziellen Beginn, klingelte am 4. November 1992 zum allerersten Mal das Telefon im Büro der Ökumenischen Telefonseelsorge Erfurt. Christoph Kuchinke zeigte sich erleichtert und nahm den Hörer ab. Die Erleichterung galt nicht dem Umstand, dass jemand anrief, sondern dass jemand anrufen konnte. Das Telefon war erst am Nachmittag installiert worden, auf den letzten Drücker sozusagen.
Durchschnittlich zwei Anrufe pro Tag sollte es in den folgenden Monaten geben, wobei sich die Erreichbarkeit der Telefonseelsorge zunächst auf fünf Abend- und Nachtstunden beschränkte. "Das Angebot musste erst noch bekannter werden", sagt Christoph Kuchinke. Dass es Bedarf gab, war für ihn keine Frage. Und er sollte Recht behalten.
Tausende Anrufer 30 Jahre später
30 Jahre später weist die Statistik für das Jahr 2021 8.627 Anrufe bei der Erfurter Telefonseelsorge aus, Tendenz steigend. Durchschnittlich klingelt das Telefon also fast jede Stunde einmal, sagt ein Sprecher des Bistums.
Mittlerweile können die Menschen mit ihren Sorgen und Nöten an sieben Tagen der Woche und rund um die Uhr die kostenlosen Nummern der Telefonseelsorge wählen. Knapp eine halbe Stunde dauert im Durchschnitt ein Gespräch.
Das Angebot der Telefonseelsorge richtet sich an Menschen jeden Alters, jeden Geschlechts, jeder Farbe, jeder oder keiner Religion und jeder Nationalität.
Anrufen kann, wer will, niemand wird nach seinem Namen gefragt. "Das Angebot der Telefonseelsorge richtet sich an Menschen jeden Alters, jeden Geschlechts, jeder Farbe, jeder oder keiner Religion und jeder Nationalität", heißt es im Jahresbericht 2021. Dort ist ebenfalls vermerkt, dass neben dem Telefon die Kontaktaufnahme zusätzlich per Chat oder Mail erfolgen kann, was besonders jüngere Leute gerne nutzen.
Kostenfreie Hotline Die Ökumenische Telefonseelsorge Erfurt ist kostenfrei unter 0800-111 0 111 und 0800 -111 0 222 erreichbar.
Von Chats und Mails konnte 1992 noch keine Rede sein. Christoph Kuchinke hatte schon genug damit zu tun, überhaupt einen Telefonanschluss zu bekommen. Als es 1991 um den Aufbau einer Telefonseelsorge in der Stadt ging, beauftragte ihn sein Chef nämlich damit.
Telefonseelsorge heute als Verein eingetragen
Kuchinke machte sich an die Arbeit. Von Anfang an setzte er sich für eine ökumenische Ausrichtung der Telefonseelsorge ein, und ein entsprechender Vertrag wurde mit der evangelischen und der katholischen Kirche geschlossen, wobei die Trägerschaft bei der Stadtmission lag.
Heute ist die Ökumenische Telefonseelsorge ein eingetragener Verein, und noch immer übernehmen beide Kirchen 60 Prozent der Kosten. Die restlichen 40 Prozent stammen aus Mitgliedsbeiträgen, Fördermitteln des Freistaates Thüringen, der Stadt Erfurt und des Landkreises Sömmerda sowie aus Spenden und Bußgeld-Erlösen.
Ständige Suche nach Ehrenamtlichen
Was vielleicht die Wenigsten ahnen, die bei der Telefonseelsorge anrufen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mit denen sie sprechen, sind zwar für ihre Tätigkeit ausgebildet, sie arbeiten aber alle ehrenamtlich. Es gibt also keinen Stellenmarkt für Telefonseelsorger. Christoph Kuchinke musste daher seine Leute auf andere Weise gewinnen.
Zum Aufklappen: Infos für Interessenten
Der nächste Informationsabend der Ökumenischen Telefonseelsorge zur ehrenamtlichen Mitarbeit findet am Mittwoch, 16. November, um 18 Uhr im Gemeindesaal der Katholischen Kirchengemeinde St. Wigbert (Zugang über Barfüßerstraße) in Erfurt statt. Es wird um Anmeldung unter Tel. 0361-5621620 gebeten. Weitere Informationen finden sich auf www.telefonseelsorge-erfurt.de.
Kuchinke informierte und startete Aufrufe in den lokalen Kirchenblättern, in Tages- und Kirchenzeitungen und bereitete einen ersten Informationsabend vor. "Nach der Friedlichen Revolution 1989 und im ersten Jahr der Deutschen Einheit hatten Ostdeutsche genug eigene Sorgen, nicht wenige sogar Existenzängste. Und jetzt galt es Menschen zu finden, die auch für die Sorgen anderer da sein wollten", sagt er rückblickend.
Start mit 28 Ehrenamtlichen
Nicht weniger als 78 Männer und Frauen folgten seiner Einladung und ließen sich im September 1991 im Johannes-Lang-Haus über die Telefonseelsorge informieren. Gut ein Jahr später erhielten 28 Frauen und Männer im Alter von 25 bis 65 Jahren die offizielle Beauftragung für den Dienst in der Ökumenischen Telefonseelsorge Erfurt.
Wichtig ist ihnen, dass die Anrufer keine fertigen Lösungen erhalten können. Im Kontakt mit der Telefonseelsorge soll das Hilfsangebot so aussehen, dass Menschen in Not dazu gebracht werden, selbst Lösungen für ihre Probleme zu finden und den Mut, die Probleme aus eigener Kraft anzugehen. Dazu kann es im Einzelfall auch gehören, auf weiterführende Hilfsangebote aufmerksam zu machen.
Da geht es um Partnerschaften, Arbeitslosigkeit, Trauer, Tod und Sterben, Lebensverdruss, Sexualität und immer wieder um Einsamkeit.
Unter den Ehrenamtlichen waren von Anfang an Nichtchristen. "Die Telefonseelsorge will ja nicht missionieren", sagt Kuchinke, der die Eignung für dieses Engagement nicht vom Taufschein abhängig macht. So ist es auch heute noch. Wer mitmachen möchte, gehört entweder einer Kirche an oder steht dem christlichen Glauben positiv gegenüber.
Telefonseelsorger müssen kommunikationsfähig, weltoffen und psychisch belastbar sein angesichts der Probleme, die die Anrufer ansprechen. "Da geht es um Partnerschaften, Arbeitslosigkeit, Trauer, Tod und Sterben, Lebensverdruss, Sexualität und immer wieder um Einsamkeit", zählt Kuchinke auf.
Corona-Pandemie lässt Zahl der Anrufer nach oben schnellen
Fünf Jahre sollte es noch dauern, bis die Ökumenische Telefonseelsorge Erfurt unter den bundesweiten Nummern 0800-111 0 111 und -111 0 222 kostenlos erreicht werden konnte. Bis dahin musste jeder Anrufer für seinen Anruf selbst zahlen. Ab 1997 übernahm die Telekom diese Kosten wie auch im übrigen Bundesgebiet.
Zehn Jahre blieb Kuchinke als Stellenleiter bei der Ökumenischen Telefonseelsorge, seine Nachfolgerin ist Uta Milosevic, eine Psychologin mit Zusatzausbildungen in systemischer Beratung und personenzentrierter Gesprächsführung.
Regionalverbund verhindert Engpässe
Sie kümmert sich um die Finanzierung der Telefonseelsorge Erfurt, wirbt um neue Ehrenamtliche, bildet sie aus, betreut sie und verfolgt genau, welche Entwicklungen sich in ihrem Arbeitsfeld ergeben. "Die Corona-Pandemie hat die Zahl der Anrufer nach oben schnellen lassen", sagt Milosevic.
Sie ist froh, dass die Ökumenische Telefonseelsorge Erfurt in einem Regional-Verbund mit vier anderen Standorten in Thüringen und Sachsen-Anhalt zusammenarbeitet. "Ist an einer Stelle die Leitung besetzt, werden die Anrufer aus Thüringen und Sachsen-Anhalt automatisch zu einem anderen Standort weitergeleitet", erläutert Milosevic.
Seit Corona könne es aber trotzdem vorkommen, dass Anrufer mehrfach die Nummer der Telefonseelsorge wählen müssen, um durchzukommen. Dieses Problem dürfte eher noch größer werden, meint Uta Milosevic. "Der Krieg in der Ukraine, die Inflation und die Energie- und Klimakrise lösen bei den Menschen große Ängste um die eigene Existenz aus." Das sei in vielen Telefonaten zu spüren, sagt die Stellenleiterin.
Wie Christoph Kuchinke zu Beginn der Telefonseelsorge in Erfurt muss auch Uta Milosevic ständig um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werben. Im Moment sind es 64 Männer und Frauen, darunter drei, die von Anfang an dabei sind, also seit 30 Jahren. "Wir haben aber ständig Bedarf an 'Ohren mit Herz'", sagt Milosevic.
MDR (gh)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 04. November 2022 | 14:00 Uhr