Nachgefragt Hohe Energiekosten: Wohngeld-Ansturm auf Sozialämter

09. September 2022, 05:00 Uhr

Die Zahl der Wohngeld-Anträge hat sich in den vergangenen Wochen bei vielen Behörden deutlich erhöht. Die Bearbeitungsdauer dauert oft mehrere Wochen, teils auch Monate. Das hat eine Umfrage von MDR THÜRINGEN bei den zuständigen Kommunen ergeben. Hintergrund sind steigende Nebenkosten.

Angesichts drastisch steigender Energiekosten wenden sich in Thüringen immer mehr Menschen hilfesuchend an die Sozialämter. Wie eine Umfrage von MDR THÜRINGEN bei den Landkreisen ergab, hat sich die Zahl der Wohngeld-Anträge in den vergangenen Wochen vielerorts deutlich erhöht. Das führt mittlerweile dazu, dass die Beschäftigten beim Beantworten von Anrufen und Anträgen nicht mehr hinterherkommen.

Wie die Stadt Suhl mitteilte, haben sich besonders in den vergangenen zwei Wochen deutlich mehr Menschen gemeldet. Sie wollten sich erst beraten lassen und dann Anträge auf Wohngeld stellen. Genauere Angaben könne die Stadtverwaltung nicht machen.

Viele Anrufer zum ersten Mal in Kontakt mit Sozialamt

Im Ilm-Kreis stieg die Zahl der Anträge von 82 im August 2021 auf 138 im August dieses Jahres. Momentan seien die Mitarbeiter noch dabei, die Anträge von Juni und Juli abzuarbeiten. Demnach lagen Anfang September 272 unbearbeitete Wohngeld-Anträge in der Behörde. Dieser Rückstau lasse sich zum einen mit Personalengpässen wegen Urlaubszeit und erhöhtem Krankenstand erklären. Andererseits wachse der Stapel an unbearbeiteten Anträgen auch wegen der vielen Telefonate, die die Mitarbeiter derzeit führen müssten, um die Menschen zu beraten.

Die meisten wollen demnach wissen, wo die Einkommensgrenzen liegen, um einen Antrag stellen zu dürfen. Viele der Anrufer kommen laut Behörde zum ersten Mal in Kontakt mit dem Sozialamt. Wie das Landratsamt mitteilte, sei das Einkommen der meisten Betroffenen zu hoch, um Wohngeld zu bekommen.

Verband: Wohngeld reicht nicht

Der Sozialverband VdK Hessen-Thüringen sieht in der Antragswelle den Beweis dafür, dass sich das Problem der Energiearmut über Anträge nicht lösen lasse. "Wer jetzt in Not ist, der kommt mit dem Wohngeld nicht über den Winter", sagte Philipp Stielow vom VdK. Seiner Ansicht nach braucht es ein Grundkontingent an Strom und Gas für die Bevölkerung. Die Übergewinnsteuer müsse jetzt kommen und nicht erst in ein paar Monaten, wenn die Unternehmen mithilfe cleverer Steuerberater nichts mehr zu versteuern haben.

Wer jetzt in Not ist, der kommt mit dem Wohngeld nicht über den Winter.

Philipp Stielow Sozialverband VdK Hessen-Thüringen

Unter anderem das Bundesbauministerium bietet einen Wohngeldrechner an, um das mögliche Wohngeld abschätzen zu können.

Wohngeld Wohngeld bekommen aktuell Menschen mit kleinem Einkommen. Im Jahr 2020 erhielten laut Statistischem Bundesamt 618.165 Haushalte Wohngeld. Das waren 1,5 Prozent aller privaten Haushalte in Deutschland, die Hauptwohnsitz sind. Mit dem Wohngeldrechner der Regierung kann man herausfinden, ob man aktuell berechtigt ist und wie viel Geld man theoretisch bekommen könnte. Wenn man Anspruch hat, muss man einen Antrag bei seiner kommunalen Wohngeldbehörde stellen.

Seit Mitte Juli nimmt die Zahl der Hilfesuchenden auch im Landkreis Nordhausen deutlich zu. Wie der Kreis mitteilte, gab es ein Drittel mehr Erstanträge, 13 Prozent mehr Bewilligungen, die Ablehnungen gingen dabei um zehn Prozent zurück. Zwischen vier bis sechs Wochen müssten Menschen in Nordhausen auf Antwort warten.

Bis zu drei Monate warten Wohngeld-Antragssteller mittlerweile im Eichsfeldkreis, wie es vom dortigen Landratsamt heißt. Wenn die Zahl der Anträge weiter so rasant zunehme, könne es bald noch länger dauern. Auch hier verbrächten die Mitarbeiter momentan sehr viel Zeit am Telefon, um die Menschen mit ihren Sorgen nicht alleine zu lassen, hieß es. Im Vergleich zum Jahresanfang gingen im Landratsamt Eichsfeld in den vergangenen Wochen 25 Prozent mehr Anträge auf Wohngeld ein.

Im Kyffhäuserkreis ist ebenso die Nachfrage nach Wohngeld gestiegen. Wie ein Kreissprecher MDR THÜRINGEN mitteilte, werden täglich 20 Anträge auf Wohngeld zum ersten Mal gestellt. Grund seien die Sorgen der Menschen vor steigenden Kosten bei Heizung, Energie und Lebenserhaltungskosten. Die Bearbeitungszeit schwanke derzeit zwischen vier und zehn Wochen. Besonders der Grundrentenzuschlag verursache viel Arbeit. Die Neuberechnung und der damit verbundene Verwaltungsaufwand verzögere die Bearbeitungszeit immens.

Im Landkreis Gotha hat sich die Zahl der Wohngeldanträge laut Landratsamt in den vergangenen Wochen mehr als verdoppelt. Viele Bürger hätten jetzt den Bescheid über die Erhöhung der Nebenkosten erhalten. Dass die Mitarbeiter im Sozialamt nicht mehr hinterherkommen, darüber gibt die Statistik der Bearbeitungszeit Auskunft: Im vergangenen Jahr dauerte die in 58 Fällen länger als zwei Monate, in diesem Jahr dauert es schon in 387 Fällen länger als acht Wochen, bis der oder die Betroffene Antwort von der Behörde erhielt.

Bei Wohngeld-Anspruch sind auch Hilfen für Ausgaben in der Schule möglich Eltern, die Wohngeld, Hartz IV, Sozialhilfe oder einen Kinderzuschlag bekommen, haben auch einen Anspruch auf das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket.

Damit können für Kinder und Jugendliche etwa Kosten für Schul- und Kitaausflüge, Ranzen, Schreibbedarf oder Sportsachen übernommen werden, ebenso die Ausgaben für Schulbeförderung, Nachhilfe oder auch teilweise für das Schulessen.

Die Unterstützung kann für Hartz IV-Empfänger beim Jobcenter, ansonsten bei der Gemeinde oder dem Landkreis beantragt werden.

Noch keine großen Probleme sehen drei Behörden

Als weitestgehend normal, sprich keine Antragsflut, beschreiben die Behörden momentan die Situation in Erfurt, Hildburghausen und Sonneberg. Maximal acht Wochen dauert es in Erfurt, bis ein Antrag auf Wohngeld bearbeitet ist. Offene Anträge gebe es hier vor alle dann, wenn Unterlagen fehlen.

Die Jahresstatistik in Schmalkalden weist einen deutlichen Trend aus: 3.085 Anträge auf Wohngeld bis August dieses Jahres stehen 2.110 im Vergleichszeitraum des Vorjahres gegenüber. Laut Behörde liegt das aber noch nicht an den gestiegenen Nebenkostenabrechnungen, sondern vielmehr an der Wohngeldreform zu Beginn des Jahres, in der die Grundrentenzeiten berücksichtigt werden.

Neuer Freibetrag bei Grundrente ab 2022 Bei der Ermittlung des Einkommens können Rentner einen neuen Freibetrag von der gesetzlichen Rente abziehen, sofern sie mindestens 33 Jahre an Grundrentenzeiten erreicht haben. Dann bleibt ein Betrag der gesetzlichen Bruttorente von 100 Euro monatlich anrechnungsfrei

Eine große Verunsicherung in der Bevölkerung angesichts der steigenden Energiepreise ist auch im Saale-Orla-Kreis zu spüren, wie das Schleizer Landratsamt berichtet. Demnach hat auch hier die Zahl der Erstanträge auf Wohngeld zugenommen. Nur mit Überstunden schaffen es die Mitarbeiter derzeit, Anträge innerhalb von zehn Wochen zu bearbeiten. Die Verunsicherung zeigt sich laut Landratsamt aber vor allem am Beratungsbedarf. Anke Kanz, Leiterin des Fachdienstes Teilhabe und Pflege/Wohngeld, erwartet einen besonders hohen Anstieg an Anträgen zum Jahreswechsel, wenn die Erweiterung der Wohngeldberechtigung greift.

Bereits im Mai hat nach Angaben des VdK ein Viertel der Bevölkerung unter Energiearmut gelitten, das heißt, jeder Vierte hat zehn Prozent oder mehr seines Einkommens für Energie ausgegeben. Mittlerweile liege der Anteil in Thüringen wahrscheinlich sogar zwischen 50 und 70 Prozent der Bevölkerung, schätzt Philipp Stielow. Das zeige, dass mittlerweile große Teile der Mittelschicht Hilfe benötigen.

Kurze Bearbeitungszeit in Jena

Am schnellsten werden Anträge auf Wohngeld den Zahlen nach in Jena bearbeitet. Drei bis fünf Wochen dauert es in der Saalestadt, bis ein Antragsteller Antwort von der Behörde erhält. Auch in Jena stieg die Zahl der Wohngeldanträge von durchschnittlich 311 im Monat im vergangenen Jahr deutlich auf 443 monatlich in diesem Jahr. Wegen Urlaub und Krankheit liegen derzeit noch 33 unbearbeitete Anträge in der Behörde.

Im Landkreis Greiz sind es 312 Anträge auf Wohngeld, die bisher nicht bearbeitet worden sind. Das sind laut Landratsamt doppelt so viele offene Anträge wie im vergangenen Jahr. Um mehr als ein Drittel stieg hier die Zahl der Erstanträge. Zwischen vier und sechs Wochen muss ein Antragsteller auf Antwort warten, das ist laut Behörde deutlich länger als im vergangenen Jahr.

MDR (Luk,csr)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 08. September 2022 | 05:00 Uhr

52 Kommentare

Ines W. am 10.09.2022

An was wollen sie Bedürftigkeit sonst festmachen, außer an dem Einkommen?
Wer herum meckert sollte auch schon eine Alternative für den kritisierten Ist-Zustand in der Hand haben.

Lassen sie raten.... wer fleißig jammert muss bedürftig sein?

hinter-dem-Regenbogen am 10.09.2022

Entschuldigung , es muß heißen :

Der Sozialismus hat kein festes Zuhause. Armut und Reichtum, Hunger und Wohlstand haben alle sozialistischen Experimente bislang überlebt.

Jana am 10.09.2022

@Kleingartenzwerg:
Wo wurde dass denn bitte geschrieben?
Der Staat hat immer drei Möglichkeiten wenn er hilft.
- Er hilft denen die bedürftig sind und damit effektiv.
- Er hilft allen nach dem Prinzip Gießkanne und es komm bei keinem wirklcih etwas Signifikanes an
- Er hilft Er hilft allen nach dem Prinzip Gießkanne und baut die Hilfe so, dass diejenigen die eh schon viel haben am meisten davon profitieren

Ich bevorzuge die erste Möglichkeit.

Wenn von existenziellen Nöten durch die Energiepreissteigerungen geredet wird, dann gehört zur Ehrlcihkeit dazu, dass dies wohl nur die unteren Einkommensschichten betrifft. In meinen Augen ist es keine existenzielle Not, wenn ich wegen Preissteigerungen auf eine zweite Fernreise im Jahr und Unterkunft im 5 Sterne Hotel verzichten muss.

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