Tschechien Nordböhmen, die Sudetendeutschen und die Braunkohle

24. Januar 2020, 10:55 Uhr

Direkt an der tschechisch-deutschen Grenze liegt Nordböhmen. Bis zu ihrer Vertreibung 1945 lebten dort die sogenannten Sudetendeutschen. Heute wird das Erscheinungsbild Nordböhmens vor allem vom Braunkohlenabbau bestimmt. Spuren des einstigen deutschen Lebens sind in den Städten und Dörfern freilich noch überall zu finden. - Ein Interview mit Otokar Loebl, Vorsitzender des Fördervereins der Stadt Saaz in Nordböhmen.

Was zeichnet die Landschaft Nordböhmens aus?

Es ist eine Region der Extreme. Da sind auf der einen Seite herrliche Gebirgszüge und Wälder und auf der anderen Seite die grauenhaften Mondlandschaften, die der Braunkohlenabbau hinterlässt. Ansonsten finden sich auch noch viele Ruinen von Industriebauten aus den Zeiten des Sozialismus.

Welche Probleme gibt es in dieser Region?

Die Arbeitslosigkeit ist heute vielleicht das größte Problem. Sie liegt hier weit über dem Durchschnitt in Tschechien. Das hat vor allem mit der Schließung vieler veralteter und unrentabler Industriebetriebe nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zu tun.

Vor der Vertreibung der Deutschen war Nordböhmen eine katholische Gegend. Wie ist das heute?

Vor dem Krieg waren über achtzig Prozent der Einwohner Nordböhmens katholischen Glaubens, heute sind es vielleicht noch zehn. Es ist tatsächlich eine stark säkularisierte Region, wie aber eigentlich ganz Tschechien. Der kommunistische Staat hat bekanntlich jahrzehntelang entschieden gegen den christlichen Glauben agitiert. Der barocke Katholizismus hat aber doch Spuren in Nordböhmen hinterlassen. Feiertage wie Weihnachten und Ostern werden dann aber doch eher in einer Art böhmischer Folklore gefeiert, als in bewusst christlicher Tradition.

Otokar Loebl am Rednerpult
Otokar Loebl Bildrechte: Otokar Loebl/MDR

Nordböhmen gehörte zum sogenannten Sudetenland. 1945 wurde die deutsche Bevölkerung aus ihrer Heimat vertrieben...

Sudetenland oder Sudetendeutsche sind für mich Begriffe aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Es sind Kunstbegriffe. Und für mich sind sie immer mit der Sudetendeutschen Partei, die sich ab 1936 eindeutig zum nationalsozialistischen Deutschland bekannte, und mit dem "Münchner Abkommen" von 1938 verbunden, das bestimmte, dass die Tschechoslowakei das Sudetenland binnen zehn Tagen an das Deutsche Reich abzutreten habe. Sprechen wir also von Deutschen, die ihre Heimat verlassen mussten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das können wir Vertreibung nennen oder auch Bevölkerungstransfer, wie es viele Tschechen tun.

Wer wurde in den von den Deutschen verlassenen Orten angesiedelt?

Zunächst kamen die sogenannten "Goldgräber", die nur plünderten. Später wurden dann Slowaken, Ungarn und Tschechen aus Wolhynien, einer Landschaft in der nordwestlichen Ukraine, in den ehemaligen deutschen Städten und Dörfern angesiedelt. Die Ansiedelung erfolgte auch einigermaßen zügig, denn die Wirtschaft musste am Laufen gehalten werden. Es wurden viele Arbeitskräfte benötigt.

Sind die neuen Bewohner Nordböhmens mittlerweile heimisch geworden?

Das hat ganz sicher eine Weile gedauert. Aber heute kann man nicht mehr davon sprechen, dass sich die Menschen in Nordböhmen heimatlos fühlen. Und es hat sich in der Region mittlerweile auch ein neues Geschichtsbewusstsein herausgebildet, das etwa die deutsche Vergangenheit in dieser Region in den letzten Jahrhunderten nicht mehr leugnet.

Leben noch Deutsche in Nordböhmen?

Nur noch sehr wenige. Und sie nennen sich auf jeden Fall nicht mehr Sudetendeutsche, sondern nur noch Deutsche. Den alten Begriff lehnen sie ab.

Existieren noch Spuren einstigen deutschen Lebens in Nordböhmen?

Natürlich, sehr viele, auf Schritt und Tritt begegnet man ihnen. Die alten Gebäude stehen ja fast alle noch und an vielen von ihnen sind zum Beispiel noch die deutschen Schriften zu sehen, die ja nur übertüncht worden sind. Also die deutsche Vergangenheit ist überall präsent.

In welchen Zustand befinden sich die historischen Gebäude?

Kirchen und Klöster befinden sich zu einem großen Teil in einem jämmerlichen Zustand. Das ist auch verständlich, denn es gab in den Tagen des Sozialismus kaum Christen und Pfarrer, die sich um das historische Erbe gekümmert hätten. Die Gebäude befanden sich meist in staatlicher Hand und der Staat ließ sie nicht selten einfach verfallen. Und jetzt fehlt häufig das Geld, um die Gebäude zu restaurieren.

Und Hilfe aus Deutschland...?

Es gibt tatsächlich einige deutsch-tschechische Vereine, die sich um marode historische Gebäude und Kirchen in Nordböhmen kümmern. Eine große Rolle spielt dabei auch der Deutsch-Tschechische Zukunfsfonds, der etwa die Restaurierung von historischen Bauwerken finanziert und Kulturprojekte oder auch Städtepartnerschaften zwischen deutschen und tschechischen Gemeinden fördert.

Ist es tatsächlich so, dass in Nordböhmen rechte Parteien großen Zulauf haben?

Tatsächlich war das noch vor wenigen Jahren so gewesen. Mittlerweile hat sich das ein bisschen geändert. Den größten Zulauf hat mittlerweile die Partei ANO von Andrej Babiš, gefolgt von der rechtspopulistischen Partei "Freiheit - direkte Demokratie" von Tomio Okamura. Drittstärkste Kraft ist die Kommunistische Partei.

Welche Rolle spielt eigentlich die "Sudetendeutsche Landsmannschaft" heute noch?

Schon lange nicht mehr die, die sie früher einmal gespielt hat. Sie wird immer schwächer. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass die alte Generation, die noch die Vertreibung erlebt hatte, gestorben ist und die jungen Leute sich nicht mehr so entschieden mit der für sie meist fremden Heimat ihrer Eltern und Großeltern identifizieren. Man muss auch sagen, dass der reaktionäre Geist, der früher in der Landsmannschaft durchaus vorherrschte, verschwunden ist. Heute ist die Sudetendeutsche Landsmannschaft doch eher an Versöhnung interessiert. Und die jungen Mitglieder sind sehr aktiv bemüht, die Vergangenheit vorurteilsfrei aufzuarbeiten.

Gibt es in Tschechien eigentlich noch Ängste vor einer Rückkehr der Deutschen?

Es gibt immer noch hier und da Versuche, diese Ängste zu schüren, aber mit immer mäßigerem Erfolg. Bei Wahlen wird diese Karte ab und an noch gezogen. Aber das ist natürlich Unfug. Und verfängt auch kaum noch.

Otokar Löbl wurde 1950 als Sohn einer katholischen Mutter und eines jüdischen Vaters im böhmischen Saaz geboren. 1970 übersiedelte er unter dem politischen Druck nach der Niederschlagung des "Prager Frühlings" in die Bundesrepublik und studierte Volks- und Betriebswirtschaft. Otokar Löbl lebt als Unternehmensberater in Frankfurt/Main. Er ist Vorsitzender des Fördervereins der Stadt Saaz in Nordböhmen.

Über dieses Thema berichtete der MDR im TV in LexiTV 08.09.2016 | 15:00 Uhr

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