Mariendom in Erfurt
Der Mariendom in Erfurt. Bildrechte: MDR/Heimatfilm

Reportage Die Dombesetzer von Erfurt: "Wir hatten nichts zu verlieren"

17. Juli 2023, 10:53 Uhr

Erfurt am 5. Juni 1988: Mehrere Familien aus Sömmerda und Erfurt besetzen den Mariendom und bitten um Kirchenasyl. Sie fordern die Genehmigung ihrer Ausreiseanträge und wollen ein Zeichen gegen Behörden- und Stasi-Willkür setzen. Im Film sprechen Zeitzeugen über diese lang verschwiegene Aktion, über Mut und Verzweiflung, über Selbstbehauptung und Heimweh.

Die Idee zur Besetzung des Doms hat Rainer Römhild aus Sömmerda. Zu diesem Zeitpunkt wartet er bereits vier Jahre lang mit Frau und Sohn auf die Genehmigung des Ausreiseantrags. Das bedeutet, vier Jahre lang auf gepackten Koffern zu sitzen, immer darauf gefasst, verhaftet zu werden.

Sich gegenseitig Mut machen

In Sömmerda sind sie nicht die einzigen Ausreisewilligen. Insgesamt 90 Familien haben zum damaligen Zeitpunkt einen Ausreiseantrag gestellt. In der thüringischen Kleinstadt solidarisieren sie sich. Unter den Augen der Staatssicherheit treffen sie sich regelmäßig auf dem Marktplatz, um sich gegenseitig Mut zu machen. Aber auch, um zu provozieren. Denn "Querulanten hatten die größte Chance, rauszukommen", sagt Rainer Römhild.

Rainer Römhild
Rainer Römhild. Bildrechte: MDR/Heimatfilm

Schon als Jugendlicher konnte ich mir nicht vorstellen, in der DDR alt zu werden. Ich wollte mein Leben nicht dem Experiment des Sozialismus opfern. Ich wollte die Welt sehen.

Rainer Römhild

Letzte Etappe auf dem Weg in die Freiheit

Als der Evangelische Kirchentag in Erfurt vor der Tür steht, reift in Rainer Römhild der Plan zur Besetzung des Doms. Denn zu dem Kirchentag reisen auch westdeutsche Politiker und Medien an. Der Dom soll die letzte Etappe auf dem Weg in die ersehnte Freiheit, in den Westen, sein. Gemeinsam mit anderen Familien aus Sömmerda und Erfurt wollen die Römhilds den Dom besetzt halten, bis sie die DDR legal verlassen dürfen. Rainer Römhild erzählt, es sei die "einmalige Chance" gewesen, den eigenen Interessen mit Nachdruck Gehör zu verschaffen.

Die Idee war, dass uns die Kirche das Asyl gewährt, sodass die Behörden unter Druck kommen und unserem Ersuchen zustimmen.

Rainer Römhild

Dom wird abgeriegelt

Auf unterschiedlichen Wegen reisen die Familien nach Erfurt und besetzen am Sonntag vor Beginn des Kirchentages den Dom. Der wird daraufhin abgeriegelt und bleibt "aus technischen Gründen geschlossen". Nichts soll nach außen dringen, um keine Nachahmer auf den Plan zu rufen. Einzig die Kirchenleitung um Weihbischof Joachim Wanke darf die Kirche betreten. Sie versorgen die Familien während der Besetzung mit Decken, Kleidung, Lebensmitteln und Spielzeug.

Bischof Joachim Wanke
Ex-Weihbischof Joachim Wanke. Bildrechte: MDR/Heimatfilm

Für mich war das ein völlig überraschendes Ereignis. Denn mit dem Phänomen der Besetzung, das uns heute ja ein wenig vertrauter ist, hatten wir damals keine Erfahrungen.

Bischof Joachim Wanke

Erfolgreiche Verhandlungen

Nach drei Tagen harter Verhandlungen zwischen Besetzern und Vertretern des Staatsapparates wird den Besetzern schließlich die Ausreise zugesichert. Die Bedingungen: Sofortige Räumung des Doms, Rückkehr in die Wohnungen, absolutes Stillschweigen gegenüber Dritten.

Nacheinander werden die einzelnen Familien mit Taxis nach Hause gefahren. Bis zum Ende der DDR bleibt die Dombesetzung in Erfurt der einzige Fall, in dem politisches Asyl in einer Kirche gesucht wird. Über viele Jahre hinweg bis weit nach der Wende schweigen die Beteiligten über das damalige Geschehen.